Rechte(s) von A-Z

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Folge 16: Q / R bis Rüdin, Ernst

Von Christian Niemeyer

Dieses Lexikon gibt Informationen in kompakter Form sowie weitergehende Literaturhinweise, basierend auf Forschungsliteratur sowie allgemein zugänglichen Nachschlagewerke, zumeist in Printversionen. Internetquellen, etwas das Belltower-Lexikon sowie Wikipedia, wurden konsultiert. Ersteres ist aber zu unspezifisch und im Übrigen schlecht aufgebaut und unvollständig. Letzteres ist zu spezifisch, mitunter unzuverlässig. Das Handbuch Rechtsradikalismus (2002) von Thomas Grumke & Bernd Wagner setzte in beiden Hinsichten neue Maßstäbe. Es hat nur einen Nachteil: es ist zu alt, im Vergleich zum im Folgenden dargebotenen Material (Redaktionsschluss: Juli 2021), das ab jetzt auf hagalil.com in mehreren Folgen erscheinen wird und dem Online-Anhang meines Schwarzbuch Neue / Alte Rechte (2021) entnommen wurde. Am Ende eines jedes Eintrags finden sich in eckigen Klammern in Fettdruck die Seitenzahlen, auf denen die jeweilige Person oder Sache in der Printversion erwähnt wird. Damit gewinnt dieses Lexikon den Charakter eines Sach- und Personenregisters im Blick auf jene Printversion. Literaturhinweise finden sich in jenem kostenlos auf der Homepage des Verlags Beltz Juventa (Weinheim) als Download verfügbaren Online-Material.

 

QAnon. Q, angeblich ein US-Geheimdienstoffizier, versendet seit Oktober 2017 Postings an eine Gruppe anonymer Rätsellöser, zumeist kryptische Gedichte, so genannte „Brotkrümel“, mit dem Auftrag, „daraus ‚den Teig‘ zu machen.“ (Ebner 2019: 176) 

 

Querdenker. Maßgeblich von Michael Ballweg (Stuttgart) ausgehende Bewegung verschwörungsideologisch argumentierender Corona-Kritiker, deren Auffassung zufolge qua eines von einer (jüdischen) Geldelite in die Welt gesetzten Virus ein „Great Reset“ geplant sei. Die Qu. werden inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet und finden außer bei Hans-Georg Maaßen (CDU) oder Johannes Eisleben auch bei der AfD Anklang. [40, 74]

 

Ramcke, Hermann-Bernhard (1889-1968), aus Schleswig. Zuletzt General der Fallschirmgruppe der Wehrmacht, im Dezember 1946 nach Frankreich ausgeliefert, wg. Kriegsverbrechen im Kampf um Brest, am 21. März 1951 wg. Geiselnahme und Ermordung französischer Geiseln sowie Plünderung und Niederbrennung privater Wohnhäuser zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, drei Monate später aus Altersgründen entlassen, im Oktober 1952 bei einem Treffen der Ex-Waffen-SS in Verden, 1959 Beleidigungsklage gegen Erich Kuby verloren wg. seiner massiv antiamerikanisch-antisemitischen Verhetzung seiner Soldaten (vgl. Stimpel 2009: 92 f.), die ihm der Richter aus seinen eigenen Schriften vorhielt, resümierend, R. sei „ein fanatischer Nationalsozialist und begeisterter Anhänger Hitlers gewesen.“ (zit. n. Kuby 1959: 169) Trauerfeier unter Beteiligung der HIAG sowie Kurt Student, 1999 Lob R.s in der rechtsextremen National-Zeitung 1999, ein Lob R.s, auch wg. der Eroberung Kretas 1941. (vgl. Virchow 2006: 394), das zu denken gibt. (s. Essay Nr. 13.3.5) [422, 430]

 

Raspail, Jean (1925-2020), aus Chemillé-sur-Dême/Fr. Schriftsteller kath. Glaubens m. rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Gesinnung. Die dt. Neuausgabe seines Romans Das Heerlager der Heiligen (2015) durch Martin Lichtmesz bei Antaios ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise war buchhändlerisch ein Coup, der nachweislich das Redpilling beispielsweise Caroline Sommerfelds beschleunigte. Inhaltlich glorifiziert R. in diesem Roman das von Carl Schmitt aus herleitbare menschenrechtsfeindliche Ideal des Homogenen und die von daher scheinbar begründbare Exklusion des Fremden, was man gemeinhin Rassismus nennt. Schlimm ist die Verkennung dieser Zusammenhänge selbst in Organen des vermeintlichen Qualitätsjournalismus, etwa im Spiegel, wo R. teilweise mit erstaunlichem Zuspruch rechnen konnte. (s. Glosse Nr. 8) [64, 263-266, 271, 699, 705]

 

Rassismus. Der gemeinsame Nenner eines jeglichen auf Höherwertigkeit in den Bereichen „Urteilsvermögen, Wahrhaftigkeit und Tatkraft“ (Günther 1925: 52) der eigenen, nordischen oder arischen ‚Rasse‘ setzenden alt- resp. neurechten Denkens. Als solches weist dieses Ideologem eine lange Geschichte auf, die weit zurückreicht in die Vorgeschichte von Faschismus und Nationalsozialismus, deutlicher: zurückweist in die Geschichte des (deutschen) Kolonialismus. Beispielhaft ist hier der R. des Carl Peters (s. Essay Nr. 10.4), im Gegensatz stehend zum Anti-R. des Hans Paasche (s. Essay Nr. 10.3). Der R. der Nazis orientiert sich an jenem von Peters, der jenem anderer Kolonialhelden, wie etwa dem vom neu-rechten Ideologen Erik Lehnert stark geredeten Paul von Lettow-Vorbeck, korrespondiert und der, was Peters angeht, in der NS-Zeit durch ein Drehbuch der Neu-Rechts-Ikone Ernst von Salomon zur Massenwirksamkeit gebracht wurde. Weltanschaulich maßgebend für den R. der Nazis waren Arthur Comte de Gobineau sowie Houston Stewart Chamberlain, beide mit Wirkungen auf die Jugendbewegung resp. die Rassenhygieniker unter ihnen, wie etwa Karl Thums. (s. Essay 22.3) Als Ideengeber eher nicht in Betracht kommt Nietzsche mit seinem Spott auf Paul de Lagarde sowie, vor allem, auf seinen Schwager Bernhard Förster, über den er notierte: „lange Beine, blond (Strohkopf!) ‚Rassendeutscher‘, mit Gift und Galle gegen Alles anrennend, was Geist und Zukunft verbürgt: Judenthum, Vivisection usw.“ (XIV: 506), den man im größeren Zusammenhang seiner Deutschtumsfeindlichkeit sowie seiner Figur des ‚guten Europäers‘ zu sehen hat. Aus diesem Zusammenhang heraus lässt sich selbst die auf den ersten Blick fragwürdige Bemerkung Nietzsches, das „europäische Problem“ gründe in der Frage der „Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste“ (V: 195), als eine verstehen, die ausdrücklich „Rassenmischung“ unter Einbezug der jüdischen ‚Kaste‘ und mit dem Ziel eines guten Europäertums inkludiert. (s. Essay Nr. 7.1.4)

Von ganz anderer Art ist der R. der Nazis, etwa als Leitmotiv für die Vernichtungspraxis der deutschen Wehrmacht im II. Weltkrieg gegen den slawischen ‚Untermenschen‘ in Anwendung gebracht, unter Nutzung missbrauchter Denkmotive Nietzsches, der alles andere als ein Verfechter von Antislawismus und Antisemitismus war. Exemplarisch für diesen toxischen R. der Nazis ist die von Heinrich Himmler in vier Millionen Exemplaren verbreitete illustrierte Broschüre mit dem Titel Der Untermensch (1942). (vgl. Niemeyer 2013: 156 f.) Davon bleibt unberührt, dass Nietzsche unter dem Zwischentitel Moral für Ärzte in Götzen-Dämmerung Sätze niedergelegt hat, die nach Thomas Mann „in die Theorie und Praxis des Nationalsozialismus übergegangen“ sind, deswegen aber noch lange nicht ihres biographischen Ursprungs entkleidet werden dürfen, also als Überlegungen eines schwer – an Syphilis – Erkrankten gelesen werden müssen. (s. Essay Nr. 12.2) Überlegungen dieser Art kommen nicht in Betracht beispielsweise bei Adolf Ploetz, der 1895 die deutsche Rassenhygiene begründete, zu einer Zeit, zu der er die meisten der Nietzsches Ruf als Wille-zur-Macht‘-Theoretiker begründenden Dokumente, insonderheit Elisabeth Förster-Nietzsches Nachlasskompilation Der Wille zur Macht (1906), noch gar nicht vorlagen, abgesehen von Götzen-Dämmerung sowie dem von P. seinem Buch als Motto vorangestellten Zarathustra-Zitat: „Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Ueberart. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ‚Alles für mich!‘“ (zit. n. Ploetz 1895: I) Dass Nietzsche nach 1945 gleichwohl zur Persona non grata geriet, wird nur verständlich, wenn man seine systematische Nazifizierung in Rechnung stellt, die genauestens auf ihre Geltungsgründe hin befragt werden muss, wenn man nicht jenem Missbrauch einen weiteren hinzufügen will. (vgl. Niemeyer 2019: 326 ff.)

Fassen wir zusammen: Angeregt vom Kolonialismus und im Zuge des dadurch angeregten Nachdenkens über die Verschiedenheit der Rassen folgenreich werdend in Gestalt der Theoriekonzepte von Gobineau und Chamberlain, praktiziert von Züchtungstheoretikern wie Willibald Hentschel sowie der Artamanenbewegung und nachfolgend von der von der SS und hier insbesondere im Lebensborn, folgenreich in Gestalt von Zwangssterilisation und Euthanasie, stand der R. nach 1945 vor dem Aus. Im Sog von Vollbeschäftigung und der dadurch bedingten Arbeitsmigration („Gastarbeiter“) gewann der R. wieder Nahrung und wurde als von Ressentiments getragene Abwertung des Anderen und Fremden wiederbelebt insbesondere von Karlheinz Weißmann und Björn Höcke sowie Thilo Sarrazin. Neuerdings wird im neu-rechten Diskurs betont, R. meine eigentlich, positiv gelesen, Ethno-Pluralismus und meine so etwas wie Förderung der hier im Land befindlichen Homogenen, nicht hingegen Feindlichkeit gegenüber den Inhomogen, jedenfalls nicht primär, habe die neue Rechte doch „einen neuen gemeinsamen Feind gefunden: die Muslime.“ (Ebner 2018: 93) Wie brüchig und vordergründig diese Argumentation ist, zeigt der durch Höckes 2015er Rede fraglos forcierte, tagtäglich zu beobachtende R., auch die aktuelle neu-rechte Aufregung um das Grundgesetz (GG), im Einzelnen: um den hier angeblich ausgerufenen Kampf gegen R. trotz fehlender Rasse. Die in der Summe absurde Argumentation verläuft in etwa so: Die für die NS-Zeit noch kennzeichnende menschenverachtende Abwertung des Anderen und Fremden sei seit 1945 in Bann getan, im Geltungsbereich des GG etwa durch Art. 3 Abs. 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Fraglich scheint in neueren Debatten von hier aus, also von der diesem Satz innewohnenden Vorstellung, dass es nur Menschen gibt, keine Rassen, Abs. 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Geschrieben wurde dies im Rückblick „vor dem Hintergrund der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden“ sowie der ‚Nürnberger Rassengesetze‘ von 1935, also im Rückblick auf eine gerade erst überwundene Zeit, „in der ‚Rassenkunde‘ an den Schulen unterrichtet und ‚Rassenschande‘ zum Straftatbestand gemacht wurde“, kurz: „Die Anti-Nazis im Parlamentarischen Rat nutzten die Sprache der Täter, vielleicht mussten sie es, um sich von ihnen abzugrenzen.“ (Sternberg 2020: 1) Erläuterungen wie diese sind notwendig, weil neu-rechte Ideologen wie Stephan Brandner oder Erika Steinbach die erwähnte Formulierung des GG zwecks Verunglimpfung desselben so lesen, als werde hiermit eine AfD-nahe Argumentation, wonach es Rassen gäbe, geadelt, oder, gesetzt, wie es dem linken Mainstream konveniert, es gäbe keine Rassen, als Indiz genommen für die mangelnde Verlässlichkeit des GG, zumal ohne Rassen ja auch die Vokabel R. keinen Sinn machte – und damit jedwede anti-rassistische Bildungsarbeit ihr Recht verlöre. Deswegen hier die Klarstellung: R. wird durch das GG in Bann getan, dass der Ausdruck ‚Rasse‘ deswegen ein wissenschaftlich tragfähiger ist, wird nicht behauptet, auch nicht, dass die Rede vom Ethnopluralismus hier weiterhilft oder mehr als Beschönigendes zu bieten vermag. (vgl. Friedrich 2016) [27, 32, 130, 269, 271-273, 312, 315, 328, 333 f., 343, 352, 510, 594, 620, 670, 729 f.]

 

Rathenau, Walther (1867-1922), aus Berlin. Jüd. Industrieller (AEG) und Außenminister mit profunder Bildung und einigem Charisma, dessen Ermordung ein, was die Gegenwart angeht, nur mit der Ermordung Walter Lübkes in Vergleich zu setzendes Fanal war für die Weimarer Epoche, nach zahlreichen Fememorden, etwa jenem an Hans Paasche, endlich entschieden den Kampf gegen rechts in Angriff zu nehmen. Wie weit die Sache tatsächlich gedieh, zeigte der Hitler-Pusch 1923 unter Beteiligung vieler Freikorpssoldaten sowie Alt-Rechter aus der Jugendbewegung. So betrachtet ist das auffällige Schweigen über dieses als auch jenes Datum auffällig, mehr als dies: Das demonstrative Verschweigen des Rathenau-Mord bei auffällig weit ausgreifender, ersatzweise vorgenommener Re-Inszenierung des Todes der NS-Ikone Rudolf Berthold am 13. März 1920 als eines analog gravierenden Ereignisse durch den neu-rechten Ideologen Nils Wegner im von Erik Lehnert edierten Staatspolitischen Handbuch, Bd. 5 (2017). Kurz: Dieser Artikel, erkennbar als Ersatz für einen Rathenau-Artikel platziert und schon von Ernst von Salomon – nach Felix Krautkrämer (SH 3: 191 ff.) ein neu-rechter Vordenker – aus leicht durchschaubaren Gründen in Die Geächteten (1930) mittels allerlei Lügen als Rathenau-Gegen-Ikone gefeiert, steht für eine kaum zu steigernde Provokation in geschichtsrevisionistischer Absicht, angesichts derer die Forderung, den Kampf gegen rechts ab sofort mit neuer Kraft anzugehen – selbstredend, wie hier, mit der Kraft des besseren Arguments –, eine nur zu verständliche ist. [317, 320, 369, 410-413, 416, 419, 433, 580, 618]

 

Ratti, Achille, s. Papst Pius XI.

 

Rauff, Walter (1906-1974), aus Köthen. Marineoffizier. 1937 NSDAP, 1939 SS. 1941 Gruppenleiter im Reichssicherheitshauptamt, zust. f. Technik der Einsatzgruppen, Erfinder der „Gaswagen“, mit welchen ca. „200.000 Juden im Osten, meist Kinder, Frauen und alte Menschen ermordet [wurden].“ (Steinacher 2008: 212) Ende 1942 Führer eines SD-Einsatzkommandos in Tunis. Dez. 1943 SD-Chef Norditalien. 1945 als ehemaliger SS-Chef in Mailand unter Nutzung der in dieser Zeit aufgebauten Kontakte zum Erzbischof von Mailand Schutz (ebd.), schließlich Hilfe Alois Hudals in Rom, war dort Zimmervorgänger Otto Wächters, der mit ihm Ende 1944 in Italien Partisanen bekämpft hatte. (vgl. Sands 2020: 237; 320) 1949 m. Hilfe Hudals nach Syrien (ebd.: 302), 1953 Ecuador, 1958 Chile, dort Verbindungsmann der Organisation Gehlen (bis 1962), danach BND, gejagt von Simon Wiesenthal seit den 1960er Jahren, der 1972 Salvador Allende schrieb, m. Andeutung, eine Auslieferung sei möglich, n. Sturz Allendes im Sept. 1973 gewährte Ernesto Pinochet R. Immunität, auch Interventionen bei Helmut Kohl und Ronald Reagan blieben o. Resonanz, so dass R. als freier Mann (an Herzversagen) starb. (vgl. Klee 2003: 482; Segev 2010: 406 f.)

 

Rauschning, Dietrich (*1931), aus Klein Steinort/Ostpreußen. Emeritus f. Völkerrecht, Uni Göttingen. 1979 und 1997, jeweils ohne zureichende Prüfung, Fürsprecher seines von der DFG wg. seiner Auswertung des Berichts der Wehrmachtsuntersuchungsstelle (WUSt.) geförderten Zunftgenossen Alfred de Zayas, jeweils den NS-Charakter dieses Werkes ignorierend. (s. Essay Nr. 13.3.5) [403 f.]

 

Die Rechte. Rechtsextreme Splitterpartei mit ausgeprägt antisemitischer Gesinnung. So wurde bei der Europawahl 2019 bundesweit plakatiert, in Abwandlung der auf Heinrich von Treitschke zurückgehenden und in der NS-Zeit durch Julius Streicher adaptierten Losung „Die Juden sind unser Unglück!“: „Israel ist unser Unglück.“ (SZ 257 [2019], Nr. 275, S. 1)

 

Redpilling. „Wer in rechtsextremen Foren unterwegs ist, wird einer Frage häufig begegnen: ‚Was war deine Red Pill?‘“, schreiben die (linken) Netzaktivisten Patrick Stegemann & Sören Musyal und erläutern das R. im Nachgang zu Julia Ebner (2019) (s. Prolog Nr. 4) als Initialisierung der eigenen Rechtswende durch eine Schlüsselfigur – gerne auch Nietzsche, wie im Fall des Richard Spencer – resp. eines Schlüsselerlebnisses, wie, in den Fällen Caroline Sommerfeld sowie Marie-Thérèse Kaiser zu beobachten, der Flüchtlingskrise 2015, hier analog des S/F-Film The Matrix (1999), wo der Held Neo nach Schlucken der Red Pill die Welt mit offenen Augen sieht und überzeugt davon, dass er sein Leben fortan „im Widerstand“ führen muss, gegen jene, die noch der blaue Pille unterworfen sind und folgerichtig nicht wissen können, wie sie der „Scheinwelt des Establishment“ (Stegemann/Musyal 2020: 49) entkommen können. Als politische Allegorie hat das solcherart verstandene R. Bedeutung insbesondere für die Identitäre Bewegung, hier als „Prozess der Erleuchtung und Aufklärung aus dem tiefen Dornröschenschlaf der glückseligen Ignoranz“ (zit. n. Ebner 2019: 58), aber auch im neu-rechten Netzdiskurs allgemein, zumal es erlaubt, zwischen Insidern und Outsidern, die noch ihres R. harren, zu unterscheiden. Außerdem stattet die Vorstellung des R. Rechtssein mit dem Nimbus des Avantgardistischen aus, resultierend aus Insiderwissen bezüglich einer umfassenden Verschwörungstheorie. [50-52, 60 f., 116, 134, 397, 655, 658 f., 708]

 

Red Pill Women. Antifeministische Online-Community mit Nähen zur IB, in welcher eine feindliche Haltung gegen Frauenrechtler*innen („Feminazis“) dominiert, zusammen mit einer entschlossenen Pro-Feminität à la Laura Doyle und Laura Schlessinger, unter Einschluss der Einübung der STFU-Methode, ausbuchstabiert als „Shut-the-Fuck-Up-Methode“, auf gut deutsch: „Männer bevorzugen Frauen, die nicht zu viel reden.“ (Ebner 2019: 72) Von Ferne kann hier das Hausfrauenideal eines Hans Breuer in zeitgemäßer Gestalt wiederentdeckt werden. [529]

 

Reeducation / „Umerziehung“. Das von den Westalliierten nach 1945 gestartete Projekt der R. sollte den Deutschen nach zwölf Jahren totalitärer Herrschaft wieder an die Demokratie sowie westliche Werte heranführen – an sich nachvollziehbar, aber wg. der dabei führenden Kollektivschuldthese zum Scheitern verurteilt. Eugen Kogon: „Die ‚Schock‘-Politik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Desaster.“ (Kogon 422004: 409) Jene Abwehr hatte allerdings auch andere Gründe, wie der Fall Erich Weniger zeigt. Er nämlich wusste an Hans Breuers Liederbuch Zupfgeigenhansl nichts Schlimmes auszumachen und empfand es als „drollig“ – und bezeichnend für die hysterisch überbesorgte Politik der R. –, dass nach 1945 „die erste Neuauflage des ‚Zupfgeigenhansl‘ ohne Soldatenlieder erscheinen mußte.“ (Weniger 1959/60: 54) Derlei Bedenken erklären sich mit der spezifischen Leseschwäche des hier Klagenden, dem es ganz allgemein in der NS-Zeit schwer fiel, die von ihm durchaus registrierten Umstellungen im Ideenhaushalt der Herrschenden sowie im praktischen Alltag, handele es sich um Bücherverbrennungen oder Judenverfolgung, als bedenklich einzustufen. Am Ende war an all dem Nietzsche schuld. (vgl. Niemeyer 2002: 232 ff.) Von anderem, sehr viel bedenklicheren Gehalt sind die neu-rechten Einwände gegen die R. Sie eint die Überzeugung, dass sie, so Siegfried Gerlich, auf den Spuren Armin Mohlers wandelnd, „erklärtermaßen nicht bloß die politische Entnazifizierung der Deutschen, sondern ihre kulturelle Entnationalisierung überhaupt zum Ziel hatte.“ (Gerlich 2013: 15) Von hier aus ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt zur Ballhaus-Watzke-Rede von Björn Höcke vom Januar 2017. R., neudeutsch resp. neurechtsdeutsch: „U.“, steht entsprechend verbreitet auf der Agenda der Neuen Rechten als Teufelszeug und bestimmt deren Feldzug auch gegen die ‚Frankfurter Schule‘ der kritischen Theorie unter Einschluss der durch die AfD zu übernehmenden Aufgabe der „Überwindung der linksideologischen Indoktrination unserer Gesellschaft in Angriff zu nehmen.“ (Bender 2017: 161) Dieser Feldzug setzt fort, was mit Caspar von Schrenck-Notzings Buch Charakterschwäche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen (1965) begann und mit der hier grundgelegten Einsicht, dass es den Amerikanern vor allem „um einen nachhaltigen Eingriff in die Mentalität der Besiegten, eine Korrektur der Kollektivpsyche, um die Deutschen harmlos zu machen und als Konkurrenten auszuschalten.“ (SH 2: 43) [58, 62, 103, 137, 140, 213, 399, 439, 471, 474 f., 483, 595, 748]

 

Reichenau, Walter von (1884-1942), aus Karlsruhe. Generalfeldmarschall bei der Heeresgruppe Süd der 6. Armee ab 9. Dezember 1941. 1904 Leutnant, 1918 hochdekorierter Hauptmann, führte die Reichswehr an Hitler heran, verantwortlich für die Neuformulierung des Soldateneids auf den „Führer des deutschen Reichs und Volkes“ sowie „Oberbefehlshaber der Wehrmacht“, führte, wie der Kindermord von Bjelaja Zerkov vom August 1941 zeigt (vgl. Wette 2002: 111 ff.), den Russlandfeldzug wie einen Vernichtungskrieg und forderte nach dem Massaker von von Babi Jar, der Soldat müsse „für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.“ (zit. n. Boll 1998a: 199) Entsprechend konsequent geriet seine Unterstützung der Einsatzgruppen. R. ließ sich Ende Juli 1941 zwecks „‘Säuberung‘ des rückwärtigen Armeegebiets von Himmler die 1. SS-Infanterie-Brigade unterstellen, die bis Mitte September rund sechstausend Menschen, fast ausschließlich Juden, erschoß.“ (ebd.) Stalins Ankündigung vom 6. November 1941, „den ‚Vernichtungskrieg‘ der ‚deutschen Landräuber‘ mit Tod und Vernichtung zu beantworten, konterte er mit einem Tagesbefehl, in welchem er „‘den Russen‘ als ‚rote Bestie‘, ‚imstande, jede Gemeinheit zu begehen.“ (ebd.: 200) Gut zwei Monate später erlag R., der die Verbrechen der Wehrmacht exemplifiziert, den Folgen eines Schlaganfalls, nicht untypisch bei Pervitin-Abusus. 1944 Hitler-Dotation von 1 Million Reichsmark an Familie. (vgl. Klee 2003: 485)    

 

Reichsbürger. R. eint der Glaube, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 wg. fehlenden Friedensvertrages weiter existiere und die Bundesrepublik folglich kein souveräner Staat sei und, als besetztes Land, von den USA gesteuert werde. Erster R. war der Westberliner Eisenbahner Wolfgang Ebel, der 1985 eine Kommissarische Reichsregierung gründete, der er als Reichskanzler vorstand. Der Holocaust-Leugner Horst Mahler griff diese Ideologie auf und bereicherte sie um die These einer jüdischen Weltherrschaft. Seitdem haben weitere geistig nicht ganz Sattelfeste sich dieser Ideologie bemächtigt, etwa Peter Fitzek, der 2012 das Königreich Deutschland ausrief und sich 2016 wg. Veruntreuung ihm überlassener Gelder verantworten musste, oder Adrian Ursache, der jahrelang die Zahlung von Grundschulden verweigerte. R. finden vereinzelt auch hin zur AfD, Alexander Gauland hält sie für „harmlose Irre“ u. adaptiert damit ein auf Franz-Josef Strauß sowie Gerhard Frey zurückgehendes Erklärungsmuster bezogen auf die Wehrsportgruppe Hoffmann. Treffender scheint mir Tobias Ginsburgs Einordnung: „In gewisser Weise ist Reichsideologie nur der gute alte Nazidreck, der es qua Verschwörungstheorie in andere Milieus geschafft hat.“ (Ginsburg 2018: 208) (s. Glosse Nr. 20) [67, 76, 378, 738]

 

Reitschuster, Boris (*1971), aus Augsburg. 1999-2015, parallel zu Michael Klonovsky, beim Focus (Moskauer Büro), seitdem u.a. Autor bei Junge Freiheit, rechtspopulistischer Blog reitschuster.de mit aggressiver, AfD-naher Rhetorik, bizarre Auftritte ad Corona als Verschwörungstheoretiker in der Bundespressekonferenz. [42, 50]

 

Reker, Henriette (*1956), aus Köln. Kölner Oberbürgermeisterin (seit 2015; parteilos), wurde am 17. Oktober 2015 an ihrem Wahlkampfstand vom einschlägig vorbestraften Neonazi Frank S. mit einem Bowiemesser lebensgefährlich verletzt (vgl. Röpke 2017: 80 ff.), vergleichbar dem – allerdings tödlich verlaufenen – Attentat auf Walter Lübcke.

 

Revolution Chemnitz. Rechtsterroristische Vereinigung, bestehend aus „acht Männern, zwischen 22 und 32 Jahre alt, allesamt bekennende Nationalsozialisten“, alle vorbestraft, etwa wg. „gefährlicher Körperverletzung, Volksverhetzung, Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, Haus- und Landfriedensbruch.“ Im August 2018, nach den Krawallen von Chemnitz, weil „Asylbewerber mutmaßlich einen Deutsch-Kubaner erstochen hatten“, fand die R. Ch. Zusammen. Mutmaßlicher Rädelsführer der R. Ch. ist Christian K., der an das Motto „Taten statt Worte“ des Terrortrio NSU anknüpft, diese allerdings als „Kindergarten-Vorschulgruppe“ bezeichnet „im Vergleich zu der Revolte, die sie im Sinn hätten“ und als deren Fanal der 3. Oktober 2018, also der Tag der deutschen Einheit, in die Geschichte eingehen sollte, als die Gruppe in Berlin mit halbautomatischen Schusswaffen einen Anschlag insbesondere auf „Merkel-Zombies“ und „Linksparasiten“ begehen und dadurch die „Systemwende“ anstoßen wollte. Im Prozess befragt dahingehend, ob der mutmaßliche Anführer des Chats Hilfe vom Verfassungsschutz bei der Formulierung des Gründungstextes der Chatgruppe erhielt: ausgerechnet der damaligen BfV-Präsidenten Hans-Georg Maaßen, der 2018 die Krawalle in Chemnitz verharmloste und deswegen sein Amt verlor. (SP Nr. 9/22.2.2020: 19-21) Im März 2020 wurden die Angeklagten wg. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie teilweise auch Landfriedensbruch zu Gefängnisstrafen zwischen drei und fünf Jahren verurteilt.

 

Ribbentrop, Annelies von (1896-1973), geb. Henkell, aus Mainz. Gattin des Untengenannten, nach 1945 unbelehrbar, GfP, Hutten-Preis 1973, zahlreiche geschichtsrevisionistische Werke in der Absicht, ihren als Kriegsverbrecher hingerichteten Gatten zu rehabilitieren, zuletzt, bei Druffel: Die Kriegsschuld des Widerstandes (1974). [452]

 

Ribbentrop, Joachim von (1893-1946), aus Wesel. Gatte der Vorgenannten, Adelstitel 1925 per Adoption. 1932 NSDAP, SS-Obergruppenführer. 1936 Botschafter in London. 1938 Reichsaußenminister. Todesurteil im Nürnberger Prozess, Hinrichtung am 16.10.1946. (vgl. Eberle/Uhl 2005: 607 f.) [452]

 

Rice and Shine. Podcast von Minh Thu Tran & Vanessa Vu m. Geschichten über vietnamesische Menschen in Deutschland. Preisgekrönt: Hamburg 1980: Als der rechte Terror wieder aufflammte (2020), über den ersten rassistischen Mord in Deutschland. Verantwortlich: Drei Männer um Helmut Roeder, Vorläufer des NSU.

 

Richthofen, Manfred Freiherr von (1892-1918), aus Kleinburg b. Breslau. Der rote Kampfflieger (Red Baron), Führer des Kampfgeschwaders seines Namens, das später Hermann Göring übernahm. In der NS-Propaganda verglichen mit Rudolf Berthold, einer Neu-Rechts-Ikone. (s. Essay Nr. 13.3.3) [416, 660]

 

Ritter, Tod und Teufel. Kupferstich von Albrecht Dürer (1513), der in der Völkischen Bewegung im hohen Ansehen stand. So sah Willibald Hentschel „in Dürers Ritter den Prototyp des germanischen Helden, der wider alle Unbill und begleitet von Tod und Teufel, hoffnungsvoll dem Heiligen Gral des künftigen germanischen Reiches entgegenreitet.“ (Kater 1971: 627) Ähnliche Lesarten finden sich bei Bruno Tanzmann oder Hans F. K. Günther, in dessen – auf der Leseliste Heinrich Himmlers stehenden – gleichnamigen Werk von 1920 „der germanische Held als primitiv-Nietzschescher Übermensch wiederaufersteht.“ (ebd.) Folgenreich wurde derlei in der Artamanenbewegung, wo 1926 ein Loblied gesungen wurde auf den Artam-Held, der „Opfer, Tod, Gefahr und Waffen“ (zit. n. ebd.: 628) liebe. Zu nennen ist aber auch der SS-Ideologe und Germanist Josef Otto Plaßmann (1895-1964; vgl. Klee 2003: 463), der 1937 in der von ihm herausgegebenen SS-Zeitschrift Germanien am Exempel des Siegfried-Mörders Hagen das Hohe Lied anstimmte auf den Mörder „als Vollstrecker des Gesetzes der Ehre und Treue“ (zit. n. Kater 1971: 628) und damit ein zentrales Motiv von Himmlers berüchtigter Posener Rede (vom 4.10.1943) zur Rechtfertigung des Ausrottung des jüdischen Volkes als „Ruhmesblatt unserer Geschichte“ (zit. n. Klee 2003: 256) vorwegnahm.

 

Roeder, Helmut (1929-2014), aus Berlin. Rechtsextremist, Anwalt von Rudolf Heß, CDU 1965-1970, 1974 Demonstrationen zur Freilassung von Heß. 1978 in den Untergrund, 1980 Asyl im Iran, Brandanschläge, etwa in Hamburg 1980 m. der Folge von zwei toten Vietnamesen (s. Rice and Shine), 1982 zwölf Jahre Freiheitsstrafe (1990 wg. guter Führung entlassen), 1995 Referent bei der Führungsakademie der Bundeswehr, 1996 Farbanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt (vgl. Grumke/Wagner 2002: 402 ff.), an Protesten gegen den dagegen gerichteten Prozess beteiligten sich auch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. 1998 war R. NPD-Bundestagskandidat, 2000 antisemitische Hetzschrift, die auch im Thüringer Heimatschutz um den NSU verteilt wurde, 2007 war R. bei der Gründung einer deutsch-russischen Friedensbewegung um Thorsten Heise, weitere Verurteilungen wg. Volksverhetzung und Holocaustleugnung.

 

Röhm, Ernst (1877-1934), aus München. Duz-Freund Hitlers. Hitler-Putsch 1923, 15 Monate Haft auf Bewährung, 1931 Stabschef der SA, 1933 Reichsminister o. Geschäftsbereich; nach Gerüchten über einen Aufruhr gegen Hitler am 30.6.1934 mit vielen SA-Männern in einem Hotel in Bad Wiessee verhaftet und im Gefängnis in Stadelheim aufgefordert, sich zu erschießen; nach Weigerung auf Befehl Hitlers erschossen. (vgl. Eberle/Uhl 2005: 609 f.) [1,2,3,4,5]

 

Röhm-Putsch. Von den Nazis in Umlauf gebrachte Bezeichnung, die den Staatsnotwehrcharakter eines Verbrechens – der systematisch geplanten Ermordung von mehr als 200 SA-Mitglieder um Ernst Röhm sowie weiterer, nicht mehr als politisch hinreichend zuverlässig eingeschätzter Pappenheimer – in der ‚Nacht der langen Messer (am 30. Juni/1. Juli 1934) legitimieren sollte. Aus neu-rechter Lesart ein nicht ganz leicht einzuordnender Vorgang, da sowohl unter den Opfern (z.B. Edgar Julius Jung) als auch unter den Tätern resp. deren Verteidigern (z.B. Carl Schmitt) Repräsentanten der Konservativen Revolution verborgen sind. [265 f., 368, 409, 417]  

 

Roewer, Helmut (*1950). Jurist, Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (1994-2000), wg. diverser Vorwürfe vom Dienst suspendiert, seitdem Schriftsteller, mit dubioser Rolle im NSU-Skandal (1998, im Verlauf seiner Amtszeit, tauchten die späteren NSU-Mörder unter), inzwischen im neu-rechten Lager angekommen mit unhaltbaren Thesen (2016 dahingehend, es sei „denkbar unwahrscheinlich“, dass den NSU-Morden ein rechtsextremes Motiv zu Grunde läge) sowie dubiosen Verschwörungstheorien (2006 etwa dahingehend, die NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten nicht Suizid begangen, sondern seien ermordet worden; so auf Querdenken-TV 2016). R. ist des Weiteren berüchtigt wg. unhaltbarer Thesen auf dem Felde des rechtsextremistischen Geschichtsrevisionismus. (vgl. Hemmerling 2019) [26, 103]

 

Rohrbach, Paul (1869-1956), aus Gut Irgen b. Goldingen/Russ. Kaiserreich. Ev. Theologe, Publizist, Kolonialbeamter, bekannt geworden durch sein Buch Deutschland unter den Weltvölkern (1903), Relevant für den Kolonialismus (s. Essay Nr. 10), war auch in den völkischen Kreisen der Jugendbewegung bekannt. Verharmlost in der Kindt-Edition. (vgl. Niemeyer 2013: 164) [324, 352, 357]

 

Roschmann, Eduard (1908-1977) aus Graz. SS-Obersturmführer, ab 1943 Kommandant des Rigaer Ghettos, von Überlebenden als sadistisch beschrieben, als „Schlächter von Riga“ für die Ermordung von 70.000 Jüdinnen und Juden verantwortlich, 1947 in Graz verhaftet, Flucht bei Überstellung nach Dachau, 1948 von Alois Hudal mit einem kirchl. Empfehlungsschreiben an das Rote Kreuz ausgestattet (vgl. Sachslehner 2019: 198), entkam n. Argentinien, 1958 nach Deutschland, Anzeige wg. Bigamie, erneut Argentinien, nach Hamburger Haftbefehl 1963 entwickelt Simon Wiesenthal zusammen mit Frederick Forsythe (Die Akte Odessa, 1972) den Plan, R. literarisch einen Mord an einem Wehrmachtssoldaten anzuhängen, damit er als „Kameradenschwein“ seiner Unterstützer (ODESSA?) verlustig geht. Der Plan ging auf, R. wurde aufgeschreckt, entkam aber nach Paraguay (vgl. Forsythe 1972; Klee 2003: 507; Steinacher 2008: 282 ff.; s. Essay Nr. 13.3.5) [454 f.]

 

Rose, Gerhard (1896-1992), aus Danzig. Tropenmediziner, Vizepräsident Robert-Koch-Institut 1937, Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald 1942. 1947 zu lebenslang verurteilt. Entlassung Landsberg 1955, uneinsichtig, Todesanzeige mit Bitte um Spende für die „Stille Hilfe“ (Klee 2003: 507) (s. Prolog Nr. 5) [45, 47 f., 385, 435, 793]

 

Rosenbaum, Wilhelm (1915-1984), aus Berlin. Seit 1930 Mitglied der HJ, SA 1932. NSDAP 1933. Arbeitslos, 1936 Wechsel zur SS, Stelle bei der Gestapo, 1939 Krakau, Erschießungskommando, 1941 beteiligt an Massenerschießungen in Galizien. Frühjahr 1943 Leitung der Führerschule der Sicherheitsschule in Bad Rabka. Dort Ausbeutung der (jüdischen) Zwangsarbeiter, regelmäßige Massenerschießungen, Misshandlungen mittels einer mit Metall besetzten Peitsche, die er ständig bei sich trug. Tötung einer jüd. Familie, die den gleichen Nachnamen trug. Nach 1945 erst unbehelligt, 1961 verhaftet. 1968 zu lebenslänglich verurteilt, 1982 wurde die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. (vgl. Kuhlmann 2006: 158 ff.)

 

Rosenberg, Alfred (1893-1946), aus Reval. Zeichenlehrer in Riga, 1918 Übersiedlung nach München, 1919 Thule-Gesellschaft, 1921 SA, Chefredakteur, dann Herausgeber des Völkischen Beobachter, 1929 Kampfbund für dt. Kultur, ab 1930 MdR, ab 1934 Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, 1934 Überwachung der NSDAP-Schulung (Amt Rosenberg) durch diesen Nietzsche-Anhänger und seine Vasallen, darunter Alfred Baeumler und Heinrich Härtle, ab 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet. (vgl. Eberle/Uhl 2005: 611) [279, 287, 463, 475, 524, 595, 620, 622]

 

Rosenberg, Alwiß (1906-1980). Mitglied bei den Fahrenden Gesellen, 1.3.1923 trat er der NSDAP und SA bei. Ab 1929 Bundeskanzler der ‚Bündischen Gemeinden‘. 1932 wurde er bis zur Auflösung 1935 zum Führer des neuen Bund Artaman gewählt. 1944 zur Wehrmacht eingezogen, kam R. bald in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im Herbst 1955 zurückkehrte. Fortan Sprecher des Freundeskreises der Artamanen. (Brauckmann 2006: 193 f.) In dieser Eigenschaft brachte R. immer wieder bagatellisierende Einwände zu Gehör, nicht zuletzt im Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (vgl. etwa R. 1977a, b). In der Kurzbiographie der Kindt-Edition wird R.s völkische Orientierung verdunkelt und seine NS-Vergangenheit verschwiegen. (vgl. Niemeyer 2013: 52 ff.) [151, 594, 596, 599 f.]

 

Roßbach, Gerhard (1893-1967) aus Kehrberg/Provinz Pommern, Berufsoffizier, Freikorpsführer, 1923 Teilnahme am Hitlerputsch, Flucht nach Österreich (bis 1926), Verbindung mit der Neu-Rechts-Ikone Ernst Jünger, der 1923 die Organisation Roßbach in Sachsen leitet. 1924 Gründung der Schilljugend, 1925 Kontakt zu Wilhelm Kotzde mit der Folge der gemeinsamen Unterstützung der Artamanen sowie der Gründung der Zeitschrift Die Kommenden (s. Essay Nr. 11). R. wurde beim Röhm-Putsch 1934 kurzfristig inhaftiert und führte danach ein Privatleben als Versicherungskaufmann (vgl. Klee 2003: 509). [368]

 

Roth, Claudia (*1955), aus Ulm. Grünen-Politikerin, eine Hassfigur der Neuen Rechten, die sich immer wieder Beleidigungen (qua Fake News) und Morddrohungen ausgesetzt sieht. [70, 89, 92, 789]

 

Rouhs, Manfred (*1965), aus Krefeld. CDU (1979), danach NPD (1981), REP (1987), Ausschluss dort 1989, danach versch. rechtsextreme Splittergruppen (vgl. Grumke/Wagner 2002: 306 ff.), seit März 2019 Autor bei PI-News, Spezialist für Hate Speech. [177, 648]

 

Rüdin, Ernst (1874-1952), aus St. Gallen. Mediziner, 1915 a.o. Prof. München, 1925 o. Prof. Basel, 1933 Prof. München, 1936-45 dort Direktor des Inst. f. Rassenhygiene (vgl. Harten/Neirich/Schwerendt 2006: 456 f.), wo auch Karl Thums sein Assistent war, was er seit 1945 gerne, zusammen mit dem Mainstream der Jugendbewegungshistoriographie, unterdrückte. (vgl. Niemeyer 2013: 45) (s. Essay Nr. 22.3) [616]

 

[Zum Autor: Christian Niemeyer, Prof. (i.R.) für Sozialpädagogik an der TU Dresden. Zum Text: Dieses Lexikon wurde, wie die noch ausstehenden Folgen, wurde dem Online-Material (S. 21-106) meines Schwarzbuch Neue / Alte Rechte. Glossen, Essays, Lexikon (= Bildung nach Auschwitz 1). Mit Online-Materialien. Weinheim Basel 2021 entnommen. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlages Beltz Juventa.]

Bild: Ein QAnon-Anhänger demonstriert in Peoria (Arizona), 25. Oktober 2020. Der auch als „QAnon-Schamane“ bekannte Mann nahm am 6. Januar 2021 in derselben Aufmachung am Sturm auf das Kapitol teil. Foto: wikicommons