Zum Tod von Inge Deutschkron

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Zusammen mit ihrer Mutter überlebte Inge Deutschkron den Holocaust in Potsdam im Versteck. Am Gleis 17 in Berlin-Grunewald war sie in den früheren Jahren bei den Gedenkfeiern stets dabei, Ehrenbürgerin der Stadt Berlin wurde sie 2018, zuvor, im Jahr 2006, gründete sie die Inge-Deutschkron-Stiftung.

Von Christel Wollmann-Fiedler

„Lernen aus der Geschichte“ ist das Motto ihrer Stiftung. 1933 wurde Adolf Hitler in Potsdam zum Reichskanzler ernannt und am 30. Januar 2013 hielt die Überlebende und Zeitzeugin Inge Deutschkron ihre sehr bewegende Rede zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ im Deutschen Bundestag. Vieles hat sie bewegt, die kleine, kämpferische Person. Informative Bücher über die Nazizeit hat sie geschrieben und hohe Ehrenzeichen bekam sie in den Jahren. Zu ihrem 90. Geburtstag 2012 lud der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit ins Rote Rathaus ein. Am 9. März 2022 starb Inge Deutschkron mit 99 Jahren in Berlin. Ich erinnere mich an ihren 90. Geburtstag und schrieb damals:

Inge Deutschkron wurde zum Neunzigsten gewürdigt

Am Arm von Staatssekretär Andre Schmitz und in Begleitung von Klaus Wowereit, dem Regierenden Bürgermeisters von Berlin, wird Inge Deutschkron, die rüstige Neunzigjährige in den Festsaal zu ihrem Platz geführt unter großen Ovationen des Publikums. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat ins Berliner Rathaus, dem Roten Rathaus, nach Mitte zum 90. Geburtstag von Inge Deutschkron eingeladen.

Das Berliner Rathaus baut 1869 Hermann Friedrich Waesemann aus Danzig. Alte Berliner Bauten werden kurzerhand auf diesem Terrain, dem ältesten von Berlin, abgerissen, um dem modernen Rathaus aus Klinkersteinen mit Terrakottafriesen Platz zu machen. Nach Der Teilung Berlins 1945 gehört die Mitte zur Sowjetischen Besatzungszone und der Ost-Berliner Magistrat hält Einzug, später auch der Bürgermeister von Ost-Berlin der Hauptstadt der DDR. Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin hat seinen Amtssitz bis zur Wiedereröffnung Berlins, Deutschlands und Europas, im Schöneberger Rathaus. 1991 zieht der Regierende, wie man kurz in Berlin sagt, mit dem Berliner Senat wieder ins Rote Rathaus nach Mitte, direkt neben den Alexanderplatz. Aus Klinkersteinen wird es erbaut und im Berliner Jargon wird kurz und bündig daraus das „Rote“ Rathaus.

1922 wird Inge Deutschkron in Finsterwalde, südlich von Berlin in der westlichen Niederlausitz geboren. Der Vater wird später Gymnasiallehrer in Berlin und die Deutschkrons ziehen 1927 in die Metropole nach Schöneberg. Noch ist die Welt in Ordnung, doch bereits 1933 wird der Vater aus dem Schuldienst entlassen und flüchtet nach England, Frau und Tochter Inge kann er nicht mehr nachholen. Für Mutter und Tochter beginnt das schreckliche Leben als Juden in der Nazizeit in Berlin. Voller Angst beobachten sie, wie täglich Nachbarn auf Nimmerwiedersehen abgeholt werden. In der Blindenwerkstatt von Otto Weidt in der Oranienburger Straße bekommt Inge Deutschkron Arbeit und Schutz. Sie überlebt zusammen mit ihrer Mutter im Untergrund, geschützt und beschützt von christlichen Familien.

Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin hält eine sehr persönliche Rede, kennt Inge, wie er sie nennt, seit langem. Der Hanns-Eisler-Chor Berlin singt Werke, die sich die Jubilarin gewünscht und ausgesucht hat.

Professor Dr. Norbert Frei von der Friedrich-Schiller-Universität Jena hält die Festrede, kennt Inge Deutschkron erst seit zweiundzwanzig Jahren, lernt sie kennen auf einer Konferenz in Schweden, auf einer Konferenz der „inszenierten Emotionalität“, wie er sagt. Er nennt Inge Deutschkron eine kluge Zeitzeugin, einen Glücksfall für die Zeitgeschichte!

Erst nach dem Auschwitzprozess in Frankfurt am Main Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre beginnt allmählich das Interesse an Aussagen von Zeitzeugen in der alten Bundesrepublik Deutschland. Man mag es kaum glauben, doch das Fernsehen hat mit der einen oder anderen Sendung und Serie dazu beigetragen. Für die konkrete Geschichte interessiert sich die Bewegung der „68er“ nicht!

Seit 2001 wohnt Inge Deutschkron, die kleine, zierliche Person mit den klugen Augen und dem energischen Auftreten wieder in Berlin, ein Glücksfall für Berlin, ein Glücksfall für die Berliner Juden. Ihr Engagement gegen das Vergessen ist grenzenlos.

Avi Primor, der in Palästina Geborene, später als Botschafter Israels in Bonn akkreditierte, lernt diese kämpferische kleine Berlinerin bereits in den 1970 Jahren kennen, als sie in Tel Aviv und später auch in Bonn für die Zeitung „Ma‘ariw“ als Korrespondentin arbeitet. Ihr Buch „Ich trug den gelben Stern“ wird weltberühmt, das dazugehörige Theaterstück „Ab heute heißt Du Sara“ haben sie und ihre Kindheitsgeschichte bekannt gemacht. Seit Jahren wird dieses Theaterstück mit größtem Erfolg auf vielen Bühnen gespielt und berührt junge und alte Menschen. Durch ihre Literatur hat sie so manchem das Schicksal der Deutschen Juden und ihre Tragödie im 20. Jahrhundert nahe gebracht, besser als jeder Geschichtsunterricht es hätte tun können!

Das Bundesverdienstkreuz lehnt sie mehrere Male mit der Begründung ab, dass zu viele Nazis in den 1950er Jahren damit ausgezeichnet wurden. Den Berliner Orden und viele andere Ehrungen nimmt sie dankend an. Viele Initiativen rief sie ins Leben oder gründet sie gar. Wegbegleiter und Freunde schreiben für sie kleine und längere Aufsätze, die in einem Buch „Liebe Inge…“gebündelt und ihr als Geburtstagsüberraschung übergeben werden.

Berlin im September 2012