Gleis 17 am 27. Januar 2022 in Berlin-Grunewald

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Über die Rampe gehe ich herauf zu den Gleisen am Bahnhof Grunewald zum Gleis 17. Dunkle Wolken ziehen über Berlin, ziehen über Grunewald, leichter Regen fällt auf die am Boden liegenden Blumen. Von Oktober 1941 bis Februar 1945 wurden von diesem Güterbahnhof fünfzigtausend jüdische Bürger in die Konzentrationslager deportiert. Internationaler Holocaust-Gedenktag ist heute. Wir denken an die 6 Millionen ermordeten Juden in der Nazizeit, die dem Wahn eines grauenvollen Regimes zum Opfer fielen, ermordet wurden.

Von Christel Wollmann-Fiedler

An der Betonwand mit Negativabdrücken menschlicher Körper komme ich vorbei. Karol Broniatowski, der Bildhauer aus Łódź, hat diese Mauer 1991 künstlerisch gestaltet. Von Gleis 17 fuhren die meisten Deportationszüge in den Osten, bis 1942 hatten sie als Ziel die Ghettos Litzmannstadt (Łódź), Riga und Warschau, ab Ende 1942 wurden die jüdischen Bürger ausschließlich nach Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau deportiert. An beiden Seiten der Gleise liegen gusseiserne Platten, an den Bahnsteigkanten dieser Platten sind in chronologischer Folge die Ghettos und Lager mit Datum und Anzahl der Deportierten eingraviert. 1998 entwarf das Architektenteam Nicolaus Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wandel dieses Mahnmal Gleis 17 der Deutschen Bahn. Blumen werden heute zum Gedenken an die Gleise gelegt.

In der Nachbarschaft dieses Bahnhofes, dieses Güterbahnhofes, in der Villenkolonie Grunewald, die 1920 nach Berlin eingemeindet wurde, wohnten berühmte Bürger Berlins. Auf einer Tafel ist zu lesen:  Karl Abraham, Max Alsberg, Vicki Baum, Karl Bonhoeffer und Dietrich Bonhoeffer, Isadora Duncan, Lion Feuchtwanger, Samuel Fischer, Carl Fürstenberg, Maximilian Harden, Engelbert Humperdinck, Alfred Kerr, Fritz Kreisler, Lilli Lehmann, Franz von Mendelssohn, Friedrich Wilhelm Murnau, Max Planck, Walter Rathenau, Max Reinhardt, Ferdinand Sauerbruch, Hermann Sudermann, Hans Ullstein und noch andere mehr.

Vor dem Bahnhof, der 1899 von dem Architekten Karl Cornelius erbaut wurde, steht die Bücherboxx Gleis 17. Bücher zum Thema dieses historischen Geländes und des Geschehens in der Nazizeit sind gesammelt worden, können geliehen und gelesen werden. Durch den Tunnel unter den Gleisen ziehen lesende Menschen entlang mit Erinnerungsschildern auf dem Rücken und Büchern aus der Bücherboxx. „Laufend Lesen“ ist das Motto, das alljährlich in ähnlicher Form an diesem Tag stattfindet.

Morgens spricht im Bundestag die Überlebende Inge Auerbacher, das Fernsehen überträgt die sehr feierliche Stunde. Die deutsche Regierung hat die Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt nach Berlin eingeladen. Über ihr gutes Leben als Kind im Schwarzwald erzählt die heute Siebenundachtzigjährige im Bundestag. Empfangen wird sie von der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, dem Bundeskanzler Olaf Scholz und anderen wichtigen Politikern und Persönlichkeiten. Frau Bas beginnt die feierliche Stunde mit einer beeindruckenden Rede, Musik von jüdischen Komponisten wird gespielt.

Inge Auerbachs Erzählungen sind authentisch. In Kippenheim im Schwarzwald wird sie 1934 geboren, erzählt über ihre unbeschwerte und schöne Kindheit im Schwarzwald. Der weiche badische Dialekt ist noch immer zu hören. Als Schwarzwälder Mädle bezeichnet sie sich noch heute. 1942 wird die gesamte Familie von Stuttgart nach Theresienstadt deportiert, doch zuvor sind sie einige Zeit in Göppingen untergebracht, der Gelbe Stern wird angeordnet. Theresienstadt gilt bei den Nazis als „Vorzeig- und Altersghetto“. Inge Auerbacher erzählt von unbändigem Hunger, eine Kartoffelschale wird zur Speise, sie erzählt von Ratten und Flöhen, erzählt von Überfüllung und unendlichen Nöten, vielen Toten und schrecklichen Krankheiten. Sie erzählt vom Schlafen auf Strohsäcken und eisigen Temperaturen. An Tuberkulose erkrankt sie, Medikamente gibt es keine, nur Hoffnung. Sie erzählt von fürchterlichen Ängsten, täglich gibt es Transporte in den Osten, in die Gaskammern. Sie ist acht Jahre alt, ihre Freundin Ruth aus Berlin im gleichen Alter. Sie sind Freudinnen und fühlen sich wie Schwestern. Ruth Abraham wird eines Tages mit der Familie abtransportiert und in Auschwitz ermordet. Bis heute erinnert sich Inge Auerbacher immer wieder an diese Freundin, in Berlin begrüßt sie mental diese Freundin und Spielkameradin von damals im KZ Theresienstadt. Stolpersteine wurden vor dem Wohnhaus der Familie Abraham in der Wallstraße in Berlin – Mitte gelegt.

1945 befreit die sowjetische Armee Theresienstadt. Die Eltern und Inge haben überlebt, zusammen gehen sie nach Göppingen zurück, doch 1946 emigriert die Familie nach New York. Die Stadt wird Inges neue Heimat bis heute. Die Tuberkulose gibt keine Ruhe, Monate verbringt sie im Krankenhaus, doch kann sie in den USA mit Penicillin behandelt werden, das es seit kurzer Zeit gibt. 1945 erhalten die drei Penicillin-Forscher für ihre wichtige Erfindung den Nobelpreis. Viele Behandlungen und Schulausfälle sind das Ergebnis dieser Infektionskrankheit. Sehr bewegend erzählt die Holocaustüberlebende, dass sie aufgrund dieser schrecklichen Krankheit nie ein Brautkleid tragen konnte, nie Mama und nie Oma werden konnte! Chemie studiert sie als Erwachsene und arbeitet bis zur Rentenzeit in diesem Beruf. Bücher hat sie geschrieben, Kinder und Jugendlichen erzählt sie von der Nazizeit und ihren persönlichen schrecklichen Erlebnissen in der mörderischen Zeit.

Der Knesset Präsident Mickey Levy ist aus Jerusalem angereist und hält eine emotionale, sehr eindrucksvolle Rede an diesem wichtigen Tag. Eine hohe Ehre ist sein Besuch für die Bundesrepublik Deutschland.

Ein Tag des Grauens, ein Tag der Hoffnung, ein Tag des Glücks für die überlebenden Juden im Todeslager Auschwitz, die vor 77 Jahren von der sowjetischen Armee befreit wurden.

Schalom!