Die Übriggebliebenen

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Hans-Joachim Löwer schreibt in „Flucht über die Alpen“ darüber, wie jüdische Holocaust-Überlebende nach Palästina gelangten

Von Galina Hristeva
Zuerst erschienen bei: literaturkritik, 01.12.2021

Ein eleganter, reich bebilderter, vorzüglich gestalteter Band beunruhigt sofort mit dem Davidstern, den man auf dem Einband und auch zu Beginn eines jeden Kapitels findet. Die ursprüngliche Bedeutung dieses „magischen und tragischen Hexagramm[s]“ wird vom Autor Hans-Joachim Löwer so erklärt:

Es sind zwei blaue, gleichseitige, ineinander verwobene Dreiecke, die das Judentum symbolisieren. Das nach unten weisende Dreieck bedeutet, der Mensch hat sein Leben von Gott erhalten. Das nach oben weisende Dreieck bedeutet, der Mensch wird zu Gott zurückkehren. Die zwölf Ecken stehen für die zwölf Stämme Israels.

Die verbrecherische Pervertierung dieses Symbols durch die Nazis dürfte jedem Leser bekannt sein: In „Judenstern“ umbenannt steht der Davidstern nun „auch für den Versuch, alle Juden in Europa auszurotten. Als Judenstern, wie die gelbe, schwarz umrandete Variante hieß, machte er jede Person, die ihn tragen musste, zu einem Paria und Todeskandidaten.“ Gleich neben diesen Definitionen findet sich im Buch ein Bild, welches einen aus Waffen geformten Davidstern darstellt – von Löwer zum „Symbol des Widerstandes“ erhoben.

Der Journalist, Auslandsreporter und freie Autor Hans-Joachim Löwer hat im Zeichen des Davidsterns die Geschichte der „Übriggebliebenen“ nachgezeichnet – der Holocaust-Überlebenden, die im Nachkriegseuropa keine richtige Bleibe hatten und ihren dornenvollen Weg erst suchen mussten. Auch der Begriff der „Übriggebliebenen“ ist symbolträchtig und wurde „in alten jüdischen Schriften, im Buch der Chronik, im Buch Esra, im Buch Nehemia“ gefunden: „Der übrig gebliebene Rest“ sind dort „die Juden, die nach der Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem 587 v. Chr. durch Truppen Nebukadnezars II. nicht ins Babylonische Exil gehen mussten, sondern im Reich Juda bleiben durften“. Bei Löwer sind die Übriggebliebenen hauptsächlich die Juden aus den Displaced Persons-Lagern, die sich über Tirol und die italienischen Häfen auf den Weg nach Palästina machen. Zu der Masse der Holocaust-Überlebenden stoßen auch die sogenannten infiltrees dazu – Juden, die zwar nicht im KZ gewesen sind, aber ebenfalls auf der Suche nach einer neuen Existenz und einer besseren Welt sind. Nach den Gräueln des Holocaust und den Kriegswirren wollen sie alle nach Palästina – aus der Überzeugung heraus: „Wir können nur dort zu Hause sein, wo unsere Vorväter ihre ersten und tiefsten Wurzeln hatten.“ Palästina ist aber zu dieser Zeit britisches Mandatsgebiet.

Sche´erit Ha´pletah (hebr. für „der übrig gebliebene Rest“) ist nur eine der Organisationen, die diesen Menschen ein neues Leben ermöglichen will. Löwer rekonstruiert die Initiativen und Aktivitäten weiterer Organisationen wie Mossad le Alija Bet, Hagana, Bricha, Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) u. a. m., denn sie alle bemühten sich um „Wege zur Erlösung“ für die Übriggebliebenen. Löwer entführt den Leser an eine Vielzahl verschiedener Orte – alles Stationen dieses Erlösungsweges zwischen April 1945 und Mai 1948, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Wäre die Geschichte samt ihrer Vorgeschichte nicht so haarsträubend, könnte man viele der Bilder in diesem vom Tyrolia-Verlag veröffentlichten Bilderband regelrecht genießen, geht die Flucht doch, wie auch der Bandtitel sagt, „über die Alpen“. Stationen wie Salzburg und Meran verbindet man bekanntlich mit Kultur, Zivilisation, einem mondänen Weltzustand. Alpenpässe wie der Brenner und der Reschen führen in den Süden und erinnern an den aus der deutschen Literatur bekannten Topos der italienischen Reise. Der Davidstern aber, der nie weit weg von solchen Bildern steht, hemmt diesen Impuls sofort, ebenso Bilder von ausgemergelten, durch die alpenländischen Wälder und Täler keuchenden Flüchtlingen.

Bei Löwer geht es um eine Flucht, die oft im Zwielicht stattfindet. In diesem Zwielicht bewegen sie sich alle – die Flüchtlinge, die Schleuser, die amerikanische Regierung, welche die Displaced Persons loswerden will, weil sie die Camps nicht ewig unterhalten möchte, die oben genannten Organisationen. So schreibt Löwer über die Fluchthilfeorganisation Bricha: „Für die Bricha ist Chuzpe eine der beliebtesten Waffen. Wenn man sie einsetzt, fließt kein Blut.“ Einige „zwielichtige“ Personen, die sich durch Chuzpe auszeichnen und sich um die Evakuierung der Juden über die Alpen und über die italienischen Häfen nach Palästina besonders verdient gemacht haben, werden von Löwer ebenfalls ans Licht gezogen – z. B. Julius Levy, bekannt als Jaac van Harten, oder Jehuda Arazi. Sie organisieren Gelder, gründen Organisationen, bestechen Grenzbeamten, fälschen Urkunden usw. Löwers Geschichte ist nicht zuletzt die Geschichte der geheimnisvollen, für diese Operationen unerlässlichen, im Zwielicht fließenden Geld- und Finanzströme. Es ist auch eine Geschichte des Widerstands, die erkennen lässt, dass Sabotage, Bluff, die Subversion von Regeln, welche im Kampf gegen menschenfeindliche Regimes immer schon hilfreich gewesen sind, auch im Nachkriegseuropa noch ihre Berechtigung hatten.

An der Grenze zwischen Krieg und Frieden schreibt Löwer zugleich aber auch eine andere Geschichte – der „verkrüppelten Seelen“ der Opfer, die „dem Inferno entkommen sind“. Zwischendurch erfährt man zwar auch Erhebendes – z. B. über jüdischen Optimismus, wie er etwa im jüdischen Codewort „Tamid Kadima“ („Immer Vorwärts!“) zum Vorschein kommt, oder über die Gründung von Kibbutzim noch in Europa, z. B. in Pleikersdorf in Mittelfranken, als Vorbereitung auf das kommende Leben in Palästina. David Ben Gurion und andere für die jüdischen Flüchtlinge zentrale Figuren sorgen mit der Kraft ihrer Ideen und mit der Stärke ihrer Begeisterung für eine beflügelnde Pionierstimmung und sind ein helles Beispiel. Löwer ist es aber wichtig, auch auf manche dunklen Seiten der Flucht einzugehen, die dem Blick verborgen bleiben. Man liest bei ihm über die Versuche, die „Verantwortung für die Übriggebliebenen“ von sich zu schieben, über Demoralisierung und Resignation, Judenzwist und „Brudermord“ „in den eigenen Reihen“, über jüdische Verräter in den Lagern, über viele negative Eigenschaften, die das Leben in den KZ-Lagern den Opfern vererbt hat. Auch dies gehört laut Löwer zu den „Eiterbeulen“ der Nachkriegszeit. Die in Palästina aus Europa einreisenden Flüchtlinge kommen den Einheimischen wie „menschliche Wracks“ vor.

Löwer geht jedoch noch weiter. Nachdem das legendäre Schiff Exodus trotz aller Hindernisse und Attacken den Hafen von Haifa und hiermit sein Endziel erreicht hat, habe „ein brutales Erwachen“ stattgefunden. Es dauert nicht lange und die Neuankömmlinge aus Europa müssen sich gegen Bomben wehren. Der von Löwer auf den letzten Seiten des Buches präsentierte Gang der Ereignisse spielt sich im neu gegründeten Staat Israel und vor allem in Camps ab, z. B. im „verlassene[n], verlotterte[n] Camp“ in Kfar Jona, wo Rekruten der jüdischen Elitetruppe Palmach ausgebildet werden. Zusammenstöße zwischen arabischen und jüdischen Truppen, Kämpfe unter Eukalyptusbäumen und das „Bluten im Olivenhain“ durchkreuzen die Vorstellung von der Erlösung und der friedlichen Koexistenz im Land der Vorväter. Hans-Joachim Löwer zieht am Ende seines Buches „unheilvolle Parallelen“: von den Konzentrationslagern in Europa über die DP-Lager, aus welchen „die Flucht über die Alpen“ begann, weiter über die durch die Briten auf Zypern für die jüdischen „Übriggebliebenen“ aufgebauten Lager und schließlich zu den von Juden errichteten „Lager[n] für geflüchtete Palästinenser“. Die „Blutspur“ und die Massaker steigern sich nun Löwer zufolge zu wahren „Blutorgie[n]“. Sein Fazit: „Der Schatten des Holocaust ist lang.“

Löwers Stärke liegt im Facettenreichtum seiner Darstellung, in der Rekonstruktion der unzähligen Stränge und Episoden der „Flucht über die Alpen“ und der zahlreichen, verschlungenen Wege der Menschen- und Geldströme während dieser meist erfolgreichen, hochdramatischen Flucht. Die Atmosphäre, die er mit Bild und Text wiedergibt, ist immer wieder beunruhigend, oft bedrückend und aufrüttelnd, jedoch zusammen mit dem allgegenwärtigen, immer spürbaren Appell zum Verzicht auf Gewalt unter Menschen auf weiten Strecken auch erhebend. Es gelingt dem Autor, innerhalb der Kräfte bzw. Organisationen, welche die Flucht über die Alpen organisierten, einige Nuancen einzubringen und Differenzierungen vorzunehmen, womit seine Darstellung an Überzeugungskraft und an Objektivität gewinnt.

Anders sieht es jedoch am Finale des Buches aus: Bei den hier mit nur allzu knappen, allzu groben Strichen gezeichneten Ereignissen, bei den allzu deklarativ getätigten, weitgehend auf die Operation Ha-Har fokussierten Festlegungen und Linienziehungen über die von Juden vollführten „ethnischen Säuberungen“ wird der kritische Leser sich gezwungen fühlen, nach einer differenzierteren und weniger voreingenommenen Rekonstruktion der Zusammenhänge Ausschau zu halten. Als Beispiel für die im Buch allzu skizzenhaft und plakativ gezogenen, auf Gleichsetzung zielenden Parallelen zwischen den Lagern in Europa und den durch die Juden in Israel für Araber und Palästinenser errichteten Lagern sei Folgendes zitiert: „Die Flüchtlingslager in Europa, in denen Juden jahrelang hausten, beginnen sich zu leeren. Dafür entstehen im Nahen Osten neue arabische Lager“. Eine ziemlich direkte Linie zieht Löwer auch zwischen dem im Zeichen des Hakenkreuzes funktionierenden NSDAP-Ausbildungslager in Königsdorf an der Isar und dem im Zeichen des Davidsterns als Kibbutz ebenfalls dort errichteten Lager für „Übriggebliebene“, in dem letztere von der Hagana – Löwer zufolge – „mit viel Disziplin und Glaube“ auf den „unausweichlich[en]“ Krieg mit den Arabern vorbereitet wurden. Dass diesen „Parallelen“ ähnliche, sich wiederholende „Denkmuster“ zugrunde liegen, wird nur behauptet, aber keineswegs begründet.

Beachtenswert ist auch der Finalakkord des Buches, der für die obigen Behauptungen eine Art geschichtsphilosophisches Fundament liefern will:

Der Schatten des Holocaust ist lang. Erst lag er über den Ghettos und Konzentrationslagern. Dann fiel er auf die Flüchtlingscamps in Deutschland und Österreich. Er wanderte durch Nord- und Südtirol, wuchs über die Alpen hinweg und über das Mittelmeer. Nun hat er Israel erreicht. Mit jedem Tag, so scheint es, wird er ein Stück länger. Er folgt den Menschen auf Schritt und Tritt, den Tätern wie auch den Opfern. Niemand, der sich in diesem Schatten befindet, kommt aus ihm heraus.

Obwohl hier Löwers Ziel, der Perpetuierung von Gewalt entgegenzutreten, nicht zu übersehen und begrüßenswert ist, ist gegen eine solche Art der Geschichtsschreibung, die Geschichte als eine rachsüchtige, den Menschen gnadenlos verfolgende Furie betrachtet, energisch Einwand zu erheben. Nicht nur, weil sie mit ihrem mystischen Fatalismus keinen Platz für Hoffnung übrig lässt, sondern in erster Linie, weil sie die eigentlichen Urheber der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts als bloße Handlanger und Vollstrecker des Willens eines schicksalsträchtigen „Schattens“ erscheinen lässt. Diese Sichtweise wird noch problematischer auch dadurch, dass sie die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern verwischt und die Opfer, in diesem konkreten Fall die entwurzelten und gemarterten „Übriggebliebenen“, zu Vehikeln solcher Prozesse stilisiert, um sie dann – ihnen das Recht auf Selbstschutz und Selbstverteidigung versagend – letztendlich als ,neue Täter‘ abzustempeln. Eine solche Lesart wirft zwar die berechtigte Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung des „Lagers“ als grauenvoller Bestandteil der conditio humana und als Hauptstation der Geschichte der Menschheit auf; konkreter wird durch diese Perspektive „die Flucht über die Alpen“ und die tatsächlich unter schwierigsten Umständen vollzogene Rettung der „Übriggebliebenen“ entwertet, indem sie zu einem der Weiterverbreitung der Ungerechtigkeit, dem Export von Lagern und Gewalt dienenden Unternehmen degradiert wird.

Eine am Schluss verkürzende, verzerrende Darstellung, die den „Übriggebliebenen“ und der historischen Wahrheit nicht gerecht wird.

Hans-Joachim Löwer: Flucht über die Alpen. Wie jüdische Holocaust-Überlebende nach Palästina geschleust wurden, Athesia Verlag 2021, 320 S., Euro 28,00, Bestellen?