Jüdische Geschichte Köln-Kalks

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Im Kontext der Feiern zu 1700 Jahren Jüdisches Köln hat der Köln-Kalker Geschichtsverein  – Kalk ist ein heute überwiegend „migrantischer“, früher stark proletarisch geprägter Stadtteil Kölns mit 120.000 Einwohnern – eine informative, 72seitige Broschüre über ein weitestgehend unbekanntes Thema vorgelegt: Jüdinnen und Juden in Kalk – mit dem Zusatz „Eine verdrängte Geschichte“.

Von Roland Kaufhold

Wissenschaftliche Publikationen hierüber gab es bisher nahezu nicht. Kalk hat – im Gegensatz zu den migrantischen Stadtteilen Köln-Chorweiler und Köln-Porz – bis heute keine Außenstelle der Synagogengemeinde. Aus einem einfachen Grund: In Kalk wohnen nur wenig Juden.

Das Heft mit historischem Schwerpunkt ist eine Fortschreibung einer 1999 gleichfalls von der Kalker Geschichtswerkstatt vorgelegten Studie über „Kalk im Nationalsozialismus“. Geprägt wird das Heft vor allem durch Studien des Kölner Historikers Fritz Bilz. Bilz hat durch die von ihm aus einem Erbe finanzierte Bilz-Stiftung, die regelmäßig einen Preis für Kölner Initiativen verleiht, seit Jahren wirkkräftige Impulse für lokalpolitische, politisch eher „links“ einzuordnenden Kölner Initiativen gesetzt.

Das großzügig bebilderte Heft enthält informative Studien zur Geschichte der Kalker Jüdinnen bis 1910, zur Verfolgung Kalker Jüdinnen sowie ein lehrreiches Interview mit Ernst Simons. Weiterhin enthält es eine historische Einzelfallstudie über das Schicksal der jüdischen Familie Katz sowie eine Dokumentation zu den – bisher 29 – Stolpersteinen, die in Kalk zur Erinnerung an jüdische und weitere verfolgte Menschen verlegt worden sind.

1858 sind die ersten zwei Familien in Kalk dokumentiert, in Kalk ließen sich vor allem jüdische Handwerker nieder. Gemeinsam mit Kindern aus dem benachbarten – direkt am Rhein gelegenen – Köln-Deutz besuchten die Kinder bis 1872 eine jüdische Elementarschule in Deutz. 1894 lebten bereits 101 Juden in Kalk. Versuche, eigene Gemeindestrukturen in Kalk zu errichten misslangen; die Bindungen an die jüdische Gemeindestruktur in Deutz blieben erhalten. Immer wieder war es in der 1700-jährigen Geschichte Kölns zu massiven Verfolgungsmaßnahmen und Pogromen gekommen. Juden mussten immer wieder aus Köln fliehen – und ließen sich vor allem in den rechtsrheinischen, damals unabhängigen Ortschaften Köln-Mülheim und Köln-Deutz nieder. „Köln und seine jüdischen Bürger“ wird als „eine Verfolgungsgeschichte“ beschrieben (S. 8-13).  

Ein Interview mit Ernst Simons

Am anregendsten war für den Rezensenten das Interview mit dem Pädagogen und Religionsgelehrten Ernst Simons (1919 – 2006), der als Überlebender und späterer Lehrer sehr früh Brücken nach Israel geschlagen hat. Simons gründete 1957 das Ferienheim für jüdische Kinder in Sobernheim und gehörte 1958 auch zu den Mitbegründern der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Bereits in den 1960er Jahren baute er mit dem Schuldezernenten der Stadt Köln den Schüleraustausch mit der Partnerstadt Tel Aviv auf; insofern hat er bleibende Spuren hinterlassen. Auch eine Kölner Realschule wurde nach ihm benannt. Im 2004 geführten Interview von Bilz erinnert Simons sich detailreich an frühe Lebenserfahrungen und Lebensstationen, an das Schreckliche aber auch an Tröstendes – etwa dass ein katholischer Pfarrer (Theissen) seinen Eltern im holländischen Exil persönlich Geld vorbei brachte, um ihr Überleben zu erleichtern. „Ich habe das nicht vergessen, dass so ein Mann das getan hat.“ (S. 27). Ernst Simons und seine Frau überlebte zwei Jahre Konzentrationslagerhaft in Bergen-Belsen. Unauslöschlich ist seine Erinnerung an eine Szene kurz vor Kriegsende, als ihm in Berlin Soldaten zuriefen: „Zieht die (Juden-) Sterne aus. Die Scheiße ist zu Ende.“ (S. 35) Simons wurde direkt nach Kriegsende in der winzigen jüdischen Gemeinde Kölns aktiv: „Es gab viele alte Leute, die aus Theresienstadt zurückgekommen waren. Die brauchten jüngere Leute, die denen auch einmal zu Hause helfen konnten.“ (S. 36)

Die Heftbeiträge zur „Verfolgung jüdischer Menschen in Kalk“ (S. 38-49) sowie über das Schicksal der Familie von Fritz Katz (S. 50-57) sind detailreich und solide recherchiert. Der erste Transport aus Köln mit 1.000 Menschen fand am 22. Oktober 1941 statt. Der letzte große Transport mit 508 Juden startete am 27. Juli 1942 vom Bahnhof Köln-Deutz-Tief nach Theresienstadt. Aus Kalk waren viele Jüdinnen und Juden bei den Transporten, nur wenige konnten der Verfolgung und Ermordung entkommen. (S. 47)

Insgesamt 29 Stolpersteine sind bisher in Kalk verlegt worden, 16 hiervon erinnern an Sinti, die am 21.5.1940 aus ihren Wohnungen in der Kurze Straße und Vietor Straße getrieben und alle in Konzentrationslagern ermordet wurden. Drei Stolpersteine erinnern an politisch Verfolgte. Im Heft wird detailgenau an das Schicksal von zehn Personen erinnert, für die Stolpersteine verlegt worden sind: An Bernhard, Martha und Karl Heinz Rolf Walter Horn, an Edmund und Sophie Meyer, an Julius Mendel, an Jakob, Berta und Amalia Katz sowie an den im Evangelischen Krankenhaus Kalk tätigen Arzt Dr. Kurt Frankenstein. Auch dessen Frau Susanne Frankenstein wurde 1942 über das Deportationslager Müngersdorf ins Ghetto Litzmannstadt deportiert, wo sie am 21.3.1943 verstarb. In Köln-Müngersdorf, dies sei ergänzend angemerkt, wurde 2020 im Äußeren Grüngürtel ein eindrücklicher Erinnerungsort eingeweiht.

Abgeschlossen wird das Heft durch ein gegenwartsbezogenes Portrait zweier knapp 30-jähriger, familiär u.a. aus Kiew stammender, miteinander befreundeter jüdischer Frauen, die in Kalk aufgewachsen sind. Beide ließen sich auf das Wagnis ein, anonymisiert über ihre Erfahrungen in Köln seit Mitte der 1990er Jahren zu berichten. Beide haben in Kalk nahezu keine jüdischen Freunde. Beide fühlen sich durch ihre jüdische Familien- und Verfolgungsgeschichte geprägt, und beide berichten von Erfahrungen mit Antisemitismus bereits während ihrer Schulzeit in Kalk.  A.P. erinnert besonders den Geschichtsunterricht, wo ihr immer wieder die Rolle der Jüdin zugewiesen wurde: „Wir hatten den dicken Polen, wir hatten den Schwulen, den Schwarzen, den Asiaten und mich als jüdisches Kind. Das war so der Mix.“ (S. 67) Für sie sei es „immer schwierig“ gewesen „zu sagen, dass ich jüdisch bin.“ (ebd.) Immer wieder wurden sie in der Schulzeit auch in den sog. „Palästina-Israel-Konflikt“ (S. 68) hineingezogen, was sie als eine enorme Belastung und als eine gesellschaftliche Ausschließung erlebten.  Sie stünden heute, als Erwachsene, zu ihrem Jüdisch-Sein, seien jedoch sehr vorsichtig, ihre Jüdischkeit öffentlich preiszugeben. Der „Schmerz der Schoah“, den ihre Familien erleben mussten, sei ihnen „schon in die Wiege gelegt“ worden (S. 69) – ein lesenswertes Kurzportrait. Und beide vermissen Solidarität durch ihre, vorwiegend migrantische, Umwelt.

Das Heft wurde mit großer Sorgfalt erstellt und enthält viel bisher unbekanntes historisches Material.

Geschichtswerkstatt Köln Kalk (Hg.): Jüdinnen und Juden in Kalk. Eine verdrängte Geschichte. Verlag „Edition Kalk“ der Buchhandlung Winfried Ohlert ISBN: 978-3-935735-22-3, 72 S., 5 Euro, http://gw-kalk.de/publikationen/