Gedenkveranstaltung im Alten Rathaus

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Nach rein digitalen Veranstaltungen im Vorjahr fand die Gedenkstunde zum Jahrestag des 9. November 1938 in München heuer erstmals seit zwei Jahren wieder in Präsenz statt. Zum 83. Jahrestag der Pogromnacht wurde insbesondere an die nahezu eintausend jüdischen Münchnerinnen und Münchner erinnert, die mit dem ersten Deportationszug aus München am 20. November 1941 vom Güterbahnhof Milbertshofen in die Nähe von Kaunas transportiert und dort nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Es sprachen Oberbürgermeister Dieter Reiter und die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. h.c. Charlotte Knobloch; Dr. Kim Wünschmann, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, hielt die Gedenkrede.

Oberbürgermeister Dieter Reiter verband in seiner Rede eine Übersicht über die historische Verwurzelung jüdischen Lebens in München mit dem eindringlichen Appell, Judenfeindlichkeit in der Gegenwart stärker zu bekämpfen, nicht zuletzt auf dem Wege tätiger Erinnerung. Er verwies in seiner Ansprache auf die seit 1229 verbürgte Präsenz von jüdischen Menschen in München, die „von Beginn an aber auch diskriminiert, gedemütigt, vertrieben, verleumdet, mit Pogromen überzogen und ermordet“ worden seien. Diese Entwicklung habe im 20. Jahrhundert mit München als „Hauptstadt der Bewegung“, „als Brutstätte und Protagonistin des nationalsozialistischen Terrors“ einen „erschütternden Tiefpunkt“ erreicht.

Von besonderer Bedeutung sei dabei die Pogromnacht vom 9. November 1938, markierte sie doch „den Übergang von der Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland hin zu deren offener und systematischer existentieller Vernichtung“. Reiter verwies auf die knapp 1000 jüdischen Münchner, die in dieser Nacht von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden waren. Auf Hilfe ihrer nichtjüdischen Freunde und Bekannten hätten die Betroffenen nicht zählen können, so Reiter: „Die meisten haben einfach zugeschaut, bisweilen in die Hetzgesänge der Ausführenden mit eingestimmt oder sich im schlimmsten Fall sogar aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligt.“

Das Gefühl, auf keinen Beistand zählen zu können, sei auch heute wieder in der jüdischen Gemeinschaft präsent. Reiter erinnerte an den Anschlag von Halle vor zwei Jahren sowie an das mutmaßlich vereitelte Attentat von Hagen im September dieses Jahres. Allzu schnell erlahme die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft nach solchen Vorfällen wieder: „Es gibt nichts Schlimmeres in einer solchen Situation, als alleine dazustehen, alle anderen stumm, mit sich befasst, gleichgültig, wegschauend, ohne Anteil und mit kaltem Herzen.“

Der Oberbürgermeister appellierte, Judenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten. „Solche Unmenschlichkeiten“ müssten im Zweifel immer zur Anzeige gebracht werden, „(e)gal, wieviel Aufwand und Mühe damit verbunden ist.“ Unterhalb der Strafbarkeitsschwelle müsse eingeschritten werden, wenn antisemitische Stereotype, Vorurteile und Feindbilder reproduziert würden.

Abschließend betonte Reiter, Ziel müsse ein so selbstverständliches jüdisches Leben in München sein, „dass sich die Zuschreibung des Anderssein von vornherein verbietet.“ Und so diene die Gedenkstunde am 9. November nicht nur dazu, die historische Verantwortung vor Augen zu führen, sondern auch als Manifestation der klaren Absicht, Judenhass entschlossen zu begegnen – mit, so Reiter wörtlich, „dem heiligen Versprechen, dass wir die jüdischen Menschen in Deutschland nie wieder im Stich lassen werden.“

Dr. h.c. Charlotte Knobloch, IKG-Präsidentin und Beauftragte für Holocaust-Gedenken des World Jewish Congress (WJC), blickte in ihrer Rede auf ihr eigenes Erleben der Pogromnacht vom 9. November zurück, richtete den Blick aber auch in eine Gegenwart, in der das Gedenken immer stärker bedroht sei. So gehe die Zahl der Überlebenden, die von ihren Erfahrungen berichten können, stetig zurück, immer größer werde dagegen die Gruppe derjenigen, „die das Erinnern am liebsten überhaupt vergessen würden – und denen eine Vergangenheit, die wir absichtsvoll im Gedächtnis halten, zuwider ist.“ Der einst unumstrittene Konsens des Gedenkens sei heute immer stärkeren Fliehkräften ausgesetzt, so Knobloch weiter.

Knobloch betonte, dass die politischen Verschiebungen sich dadurch auch gesellschaftlich bemerkbar machten: „So sehen die Konsequenzen aus, wenn bestimmte Fraktionen, die außer Hetze kein Programm haben, vom Rand der Gesellschaft in die Mitte der Parlamente katapultiert werden.“ Die Angst, die solche Entwicklungen bei ihr auslösten, beschrieb Knobloch als „dieselbe Angst, mit der ich aufgewachsen bin: Die Angst, die alle jüdischen Kinder meiner Generation kannten.“

Die Präsidentin der IKG schilderte den Schrecken der Pogromnacht, die sie als Kind von sechs Jahren mit ihrem Vater in der Innenstadt erlebte und in deren Verlauf sie Attacken auf jüdische Menschen ebenso mitansehen musste wie die Zerstörung der orthodoxen Ohel-Jakob-Synagoge. Sie erinnerte darüber hinaus an die Opfer der Verhaftungswelle jener Nacht: „Fast 1000 jüdische Münchner wurden in dieser Nacht nach Dachau verschleppt und teils schwerst misshandelt. Viele überlebten diese Tortur nicht.“

Ihre Erlebnisse hätten es ihr nach 1945 sehr schwer gemacht, noch einmal Vertrauen in eine Demokratie in Deutschland zu fassen. Es sei für sie unvorstellbar gewesen, „dass aus diesem Land, das physisch und moralisch in Trümmern lag, je eine Heimat werden könnte. Nicht nur, aber ganz besonders für jüdische Menschen.“

Das staatliche Versprechen des „Nie wieder“ und einer unantastbaren Menschenwürde hätten genau das schließlich doch möglich gemacht. Wer in der bundesrepublikanischen Politik „diesem Konsens entgegentrat, stellte sich ins Abseits. Auf Dauer.“

Knobloch wies zudem darauf hin, dass dieses Prinzip heute nicht mehr in gleicher Weise selbstverständlich sei. Im Gegenteil, „(g)enau die Grundlage von Demokratie und Respekt, die nach 1949 so beherzt verteidigt wurde und die unser Zusammenleben erst ermöglicht, steht heute unter Beschuss.“ Die Angriffe kämen dabei „nicht mehr nur von Verwirrten an den Rändern – sondern von Überzeugungstätern mitten in der Herzkammer der Demokratie, in unseren Parlamenten.“ Knobloch benannte namentlich die AfD; die Vertreter der Partei „schwächen die Brandmauern, die jahrzehntelang allen Angriffen getrotzt haben, und sie sorgen dafür, dass eine alte Angst in der jüdischen Gemeinschaft zurückkehrt.“ Extremisten aller Art fühlten sich durch diese Verrohung ermutigt, ihren Judenhass offen und deutlich zu zeigen. Das aber erschüttere das Vertrauen in den Erinnerungskonsens. Gerade dieses Vertrauen sei „das Fundament, auf dem die vielen neuen Synagogen und Gemeindezentren in Deutschland stehen – auch einen Steinwurf von hier entfernt am St.-Jakobs-Platz. Sie bauen auf Zukunft.“

Knobloch warnte, wenn „gerade junge Gemeindemitglieder das Gefühl haben, Deutschland könne oder, noch schlimmer, wolle sie nicht schützen, dann werden wir diese Zukunft verlieren. Wir alle – jüdisch und nichtjüdisch gemeinsam.“

Deutschland müsse daher den eingeschlagenen Weg, der auf Reflexion der Vergangenheit beruhe, im Sinne aller weitergehen. Über 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik sei heute „die Zeit gekommen, die Versprechen, die damals gegeben wurden, zu erneuern: Respekt, Toleranz, Sicherheit und Anerkennung für alle Menschen – besonders auch für die jüdische Gemeinschaft.“ Das habe nichts mit Schuld zu tun – aber alles mit Verantwortung.

Diesen Gedanken gab Knobloch abschließend auch den jungen Menschen mit, auf deren Einsatz es entscheidend ankommen werde. Sie sollten, so die IKG-Präsidentin abschließend, vor allem eines beherzigen: „Lasst Euch von niemandem sagen, wen Ihr zu lieben oder zu hassen habt“.

Die Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Dr. Kim Wünschmann, ging in ihrem Gedenkvortrag mit dem Titel „Bewegte Bilder der Zerstörung jüdischen Lebens. Vom Abbruch der Münchner Hauptsynagoge zum Novemberpogrom 1938“ am Beispiel historischer Filmaufnahmen auf die Verbindung zwischen der Pogromnacht vom November 1938 und dem Abbruch der Hauptsynagoge wenige Monate zuvor im Juni desselben Jahres ein. Dabei betonte sie die „Zentralität der Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Geschichte für unsere Gegenwart und Zukunft“. Um gegen Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Leugnung wirkungsvoll anzugehen, so Wünschmann, sei ein kritischer Umgang mit historischen Quellen besonders wichtig: Gerade die von und für die Nationalsozialisten produzierten Bilder müssten umfassend historisch eingeordnet werden, um ihre bewusst verfälschenden Botschaften zu erkennen und zu entkräften.

Im Fall des Abrisses der Münchner Hauptsynagoge im Juni 1938 etwa hätten die Filmaufnahmen das Bild einer professionell durchgeführten Baumaßnahme zur planvollen Umgestaltung der Münchner Innenstadt gezeichnet und so den Angriff auf die jüdische Gemeinschaft gezielt verschleiert. Durch eine Gegenüberstellung der Filmaufnahmen mit Zeitzeugnissen unterstrich Dr. Wünschmann, dass die Bilder trotz der scheinbar harmlosen Darstellung einen einschneidenden antisemitischen Gewaltakt zeigten. Schon fünf Monate vor dem 9. November 1938 habe damit die physische Verdrängung jüdischen Lebens aus dem Herzen der Stadt begonnen. Ein jüdischer „Ort, der vertraut und ein Zuhause war“, musste in München weichen. Aus dieser Geschichte und ihrer Kenntnis ergebe sich ein klarer Auftrag, so Dr. Wünschmann abschließend: „Jede und jeder ist aufgerufen, bei Antisemitismus ganz genau hinzusehen und dagegen einzuschreiten. Erinnern heißt Handeln und es ist unsere Aufgabe, den Kampf gegen Geschichtsvergessenheit weiter zu führen.“