Ein jüdischer Athlet

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Aus dem Projekt „Treasures from Jewish Storytellers – Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten“

Eine Geschichte erzählt von Ken Oguss
Übersetzt von Moira Thiele, Englisches Original weiter unten
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Es ist schön, sich in etwas hervorzutun. In der Familie meines Vaters war sein älterer Bruder Lenny, geboren als Louis, besonders klug. Er hatte ein Talent für Sprachen und Codes und Mathe. Er würde sich sicher gut machen in der Schule, dachten meine Großeltern – vielleicht würde er Rechtsanwalt werden.

Die jüngere Schwester meines Vaters, Sally, geboren als Zelda, war eine Schönheit und hatte volles, naturblondes Haar und angenehme Umgangsformen. Und sie war eine gute Köchin, anders als meine Großmutter, die zehn Standardgerichte kochen konnte, was sie immer und immer und immer wieder tat. Man konnte den Kalender danach richten, sagte mein Dad.

Jedenfalls würde Sally mit Sicherheit eine gute Partie machen. Worin würde sich also mein Vater Murray, Geburtsname Morris, auszeichnen? Das mittlere Kind, groß für sein Alter, immer bereit für einen Wettkampf und gewieft, ein Athlet.

„Ein Athlet?“ sagte meine Großmutter und ließ die Zwiebel fallen, die sie für die Suppe kleinhacken wollte.

„Ja, Ma, ich habe diese Jungs von der Columbia University am Strand getroffen und sie sagten mir, ich sähe so aus als wäre ich gut in Track.“  (Anm.: ‚Track‘ entspricht in etwa Leichtathlethik)

„Track? Was ist Track?“ fragte meine Großmutter, und rückte ihre Brille zurecht. „Ich weiß nichts über Track.“

„Es sind Wettkämpfe im Laufen, Werfen und Springen.“

„Ach, so wie Himmel und Hölle, das Hüpfspiel!“

„Nein, Mum, nicht wie Himmel und Hölle. Man läuft 50 yard Sprints, 100 yard Sprints…“

„Oh, das erinnert mich: Murray, hol mir das Morton-Salz vom Regal, ich reiche nicht hinauf!“

Murray wandte sich um und reichte hinauf und griff die vertraute runde Dose mit dem kleinen Mädchen darauf, das den Schirm hielt.

„Ma, warum bewahrst du es so hoch oben auf?“

„Damit dein Vater nicht so viel auf sein Essen tut. Der Arzt sagt, es ist nicht gut für ihn. Also, welche Sportart wirst du machen?“

„Man nennt es ‚Shot put‘, es sieht aus wie eine Kanonenkugel.“ (‚Shotput‘ entspricht Kugelstoßen)

Meine Großmutter hielt inne. „Mein Sohn wirft Kanonenkugeln auf einer Sportbahn? Oh Gott!“ und stellte sich dabei ein Gespräch mit einer ihrer Freundinnen vor. „Hallo, Mrs. Edelstein, was macht Ihr Sohn? Er studiert Medizin, wie schön! Oh, Murray? Der wirft Kanonenkugeln! – Oh, sagt sie zu mir, da müssen Sie ja so stolz auf ihn sein! – Murray, ich bitte dich, deine Familie kam in dieses Land, um den Kanonenkugeln und dem Zar zu entfliehen, und du willst damit werfen!“

„Dies ist ein freies Land, Ma!“

„Freiheit ist ein Geschenk, Murray. Wirf es nicht weg für irgendeinen Unsinn! Außerdem – wer hätte je von einem jüdischen Athleten gehört! (Sie seufzt.) Murray, gib mir den Kohl vom Küchentisch herüber!“

POSTSCRIPTUM DES AUTORS:

Mein Vater, Murray Oguss, begann mit Kugelstoßen und Diskuswerfen in der High School. Seine Eltern verstanden seine Liebe für den Sport nicht, waren aber beeindruckt, als er sich dadurch Stipendien für die Prep School (auf ein College vorbereitende Privatschule) verdiente und dann für die Columbia University in New York City. Er gewann die National Championship für Hallensport und andere Preise fürs Kugelstoßen in seiner Prep-School-Zeit.

Mein Vater war begierig darauf, bei der Sommerolympiade 1936 in Berlin anzutreten. Die Schulleitung machte ihm klar, dass es zu gefährlich für einen jüdischen Athleten war, zu den Spielen nach Nazideutschland zu reisen. Mein Vater war zutiefst enttäuscht.

Als er schon in den Fünfzigern war, nahm er Kugelstoßen und Diskuswerfen wieder auf, in Meisterkämpfen für frühere Hochschulathleten. Er gewann weiterhin Gold- und Silbermedaillen bis weit über Achtzig. Mein Vater ließ sich nicht gerne sagen, wozu er nicht im Stande wäre.

Er zeigte den Leuten mit Erfolg, dass er nicht nur ein jüdischer Athlet war – er war ein Champion!

 

A JEWISH ATHLETE
by Ken Oguss

It’s nice to excel in something. In my father’s family his older brother Lenny, born Louis, was smart. He had a knack for languages and codes and math. He was sure to do well in school, my grandparents thought – maybe become a lawyer.

My father’s younger sister Sally, born Zelda, was beautiful and had rich, natural blonde hair and social graces. A great cook, unlike my grandmother who knew how to cook ten basic dishes and did so over and over and over again. You could set your calendar by it, my Dad said. Anyway, Sally was bound to marry well.

So what would my father Murray, born Morris, excel in? The middle child, tall for his age, competitive and street smart; an athlete. “An athlete?“ my Grandmother said, dropping the onion she was chopping for soup.

“Yeah, Ma, I met these guys from Columbia University at the beach and they told me I look like I would be good at Track.“

“Track? What’s Track?“ my grandmother asked, adjusting her glasses. “I know nothing of Track.“

“They are running events, throwing events, jumping events.“

“Oh, like hopscotch!“

“No, Mum, not like Hopscotch. You run on the track 50 yard dashes, 100 yard dashes…“

“Oh, that reminds me: Murray, get the Morton Salt off the shelve, I can’t reach it.“

Murray turned around and reached up, grabbed the familiar round box with the little girl holding the umbrella on it.

“Ma, why do you keep it up so high?“

“So that your father does not put so much on his food. The doctor says it’s not good for him. So which track event are you going to do?“

“Shot put, it looks like a cannonball.“

My grandmother stopped. “My son is going to throw cannonballs on a track? Oh God!“ and imagined a conversation with one of her friends. “Hallo, Mrs. Edelstein, how is your son? Studying medicine, how nice! Oh, Murray? He‘s throwing cannonballs! – Oh, she says to me, you must be so proud!‘ Murray, please, your family came to this country to get away from cannonballs and the Tsar, and you want to throw them!“

“It’s a free country, Ma!“

“Freedom is a gift, Murray. Don’t throw it away on some nonsense. Besides, who has ever heard of a jewish athlete! (She sighs.) Murray, hand me the cabbage on the kitchen counter, please.“

POSTSCRIPT FROM THE AUTHOR: 

My father, Murray Oguss, began throwing shot put and discus in high school. His parents did not understand his love for sports, but they were impressed when he earned  scholarships to prep school and then Columbia University in New York City. He won the indoor national championship and other awards for shot-put while in prep school.  My father was eager to compete in the 1936 Summer Olympics in Berlin.  School officials told him that it was too dangerous for a Jewish athlete to go to the games in Nazi Germany.  My father was deeply disappointed.  While in his fifties my father resumed  throwing shot put and discus again in Masters Competitions for former collegiate athletes.  He continued to win Gold and Silver metals well into his eighties.  My father did not enjoy being told what he could not do.  He thrived in showing people that not only was he a Jewish athlete, he was a champion!

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