Jugend und Widerstand im 3. Reich – EDELWEISSPIRATEN

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Der Filmemacher Dobrivoie Kerpenisan erinnert an Jean Juelichs Kampf um die Anerkennung der Edelweißpiraten

Von Roland Kaufhold

Am 10.11.1944 wurden in Köln-Ehrenfeld 13 Widerständler, darunter sechs jugendliche Edelweißpiraten, öffentlich gehängt. Hunderte Kölner wohnten der Hinrichtung bei. Es folgten in Köln drei Jahrzehnte Schweigen. Das Unrechtsregime hatte sein Ziel erreicht: Die Kriminalisierung der Widerständler, der Unangepassten, hatte funktioniert: Ausgerechnet die nationalsozialistischen Kriminellen, die Mörder und Unterstützer des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden, galten weiterhin als akzeptiert. Sie bestimmten weiterhin den gesellschaftlichen Diskurs. Das nationalsozialistische Erbe lebte unter den Deutschen weiter.

1978 begann eine, durch Recherchen von Peter Finkelgruen und des jungen Matthias von Hellfeld ausgelöste, Debatte über die Anerkennung dieser „unangepassten“ Edelweißpiraten und Widerständler, die teils gespenstische Züge trug. An diesen Kampf um das Erinnern erinnert der soeben abgeschlossene Dokumentarfilm Edelweißpiraten des Filmemachers Dobrivoie Kerpenisan, der am 19.8.2021 (17:30 Uhr) im Kölner Filmforum im Rahmen des IFFC Filmfestivals Premiere hat.

Die Verweigerung der Erinnerung an das große Unrecht, die Kriminalisierung und moralische Diskreditierung des jugendlichen und politischen Widerstandes dauert, wie der 40-minütige Film eindrücklich aufzeigt, letztlich bis 2005 an, vielleicht auch noch bis heute.

Immer wieder, über Jahrzehnte und in großer Vehemenz, wurden die von den Nationalsozialisten 1944 in Köln-Ehrenfeld Ermordeten als „Kriminelle“ denunziert – also ausgerechnet die ganz Wenigen, die sich den Nationalsozialisten nicht angepasst, die nicht mitgemacht hatten beim staatlich organisierten antisemitischen Massenmord. Dass die Edelweißpiraten und insbesondere der Kölner Widerständler Hans Steinbrück von den Nationalsozialisten und der Kölner Gestapo als ernstzunehmende politische Feinde eingeschätzt wurden, das demonstrierte diese öffentliche Hinrichtung der 13 Unangepassten ungewollt: Sie, insbesondere der aus einem KZ-Außenlager ausgebrochene und nach Köln zurückgekehrte 23-jährige Hans Steinrück, waren ein  Machtsymbol, ein politischer Widerstand, auch in Köln, den die Nationalsozialisten durch den öffentlichen staatlichen Mord zu vernichteten versuchten, wie Peter Finkelgruen (2020) in seinem Buch „Soweit er Jude war…“ in persönlicher Weise eindrücklich verdeutlicht hat.  Alle Kölner Widerständler und Zeitzeugen, die von Finkelgruen (2020) in den Jahren von 1978 – 1981 befragt wurden, haben Hans Steinbrücks zentrale Bedeutung für den Widerstand hervorgehoben. Dieser junge, zornige, zum Äußersten entschlossene proletarische Mann hatte zumindest zwei Jüdinnen versteckt, osteuropäische Zwangsarbeitern Unterschlupf geboten und sie mit geklauten – eine andere Möglichkeit gab es in der Diktatur nicht, wie auch eine Protagonistin im Film betont – Lebensmitteln etc. unterstützt.[i] Für Finkelgruen war die Identifikation mit dem Widerständler Hans Steinbrück eine Selbstverständlichkeit, ermöglichte ihm diese doch, wie er dargelegt hat[ii], sich seines familiären jüdischen Lebens mit Stolz zu erinnern: Auch seine eigenen Eltern und Verwandten hatten, in ihrer Weise, Widerstand geleistet – wie die Edelweißpiraten, wie Jean Juelich und wie Hans Steinbrück.[iii]

Anfänge des filmischen Erinnerns

Dietrich Schubert war der erste Filmemacher, der den verleugneten und verdrängten Widerstand der Edelweißpiraten bereits 1980 – in Nachforschungen über die Edelweißpiraten – filmisch rekonstruierte. Nun erinnert der Filmemacher Dobrivoie Kerpenisan, auch anlässlich des nahenden 10.ten Todestages von Jean Juelich, an diese Debatte – und zeigt auf, dass diese keineswegs beendet ist. Die meisten Zeitzeugen, denen wir auch in diesem Film begegnen, leben nicht mehr, die Erinnerung bedarf neuer Mittel und neuen Engagements. Jan Krauthäusers jährliches Edelweißpiratenfestival zeigt, wie es geht.

Der Zeitzeuge Jean Juelich

Der wohl wichtigste Protagonist der Debatte war der 1929 geborene Kölner Widerständler und Lebenskünstler Jean Juelich. Der Edelweißpirat Juelich, der mit 13 Jahren zu den Edelweißpiraten dazugestoßen war und dessen Vater als Kommunist im Gefängnis saß, war der Erste, der sich öffentlich zu den Edelweißpiraten bekannte, nach den drei Jahrzehnten des kollektiven Schweigens in Köln. Ab dem Jahr 1978 – nach der Ausstrahlung eines Monitor-Beitrages über diesen jugendlichen Widerstand gegen die Kölner Nazis – stritt der couragierte Kölner Edelweißpirat für die Wiederherstellung der Würde seiner 1944 hingerichteten Freunde, insbesondere seiner Freunde Bartholomäus Schink und Hans Steinbrück.[iv] „Der Bombenhans“, betont Juelich im Dokumentarfilm, „hatte eine wahnsinnige Wut auf die Nazis“.

Am 10.11.1944, dem Tag der Hinrichtung seiner Freunde, saß der 15-jährige Jean Juelich selbst in der Gestapohaftanstalt Brauweiler – und sann doch, gemeinsam mit dem in Haft sitzenden, neun Jahre älteren Widerständler und späterem Diplomaten Michael Jovy [v], darüber nach, wie man Widerstand in Köln organisieren, vielleicht sogar die Gestapozentrale in Köln in die Luft sprengen könnte. Vor allem jedoch auch: Wie ein demokratischer Neuanfang in Köln aussehen könnte, nach der Niederschlagung der Nazidiktatur. Das Ziel des Widerstandes, der jugendlichen Verweigerung, war die Schaffung einer Demokratie.

Unterstützt wurde Jean Juelich hierbei insbesondere von seinem Freund, dem jüdischen Journalisten Peter Finkelgruen, wie Juelich in seiner Autobiografie Kohldampf, Knast un Kamelle – Ein Edelweißpirat erzählt aus seinem Leben (2003) nacherzählt hat.

Kerpenisan hat den vor knapp zehn Jahren verstorbenen Juelich fünf Jahre lang filmisch begleitet, bis zum Jahr 2005. In diesem Jahr beendete der damalige Kölner Regierungspräsident Jürgen Roters die unselige und geschichtsblinde Debatte durch einen symbolischen Akt: Er rehabilitierte die wenigen mutigen Kölner, die Edelweißpiraten, in einem feierlichen Akt im Kölner Regierungspräsidium als Verfolgte und Widerständler gegen das deutsche Nazisystem. Der Sozialdemokrat Roters, daran muss erinnert werden, war der Nachfolger von Regierungspräsident Antwerpes. Dieser Sozialdemokrat hatte, im Gleichschritt mit dem damaligen Kölner SPD-OB Burger, in den Jahren zuvor nichts unversucht gelassen, um den nationalsozialistischen Geist der Entrechtung  fortleben zu lassen – und die Aufklärer zu diskreditieren (vgl. Finkelgruen 2020). Roters hatte diese Ehrung über Jahre hinweg, im persönlichen Gespräch und Austausch mit den noch lebenden Kölner Edelweißpiraten Jean Juelich, Mucki Koch, Heinz Humbach, Fritz Theilen und Weiteren, in umsichtiger Weise vorbereitet.

„Du häst doch die Bilder damals von dem Holocaust!“

Im Juni 2005, am Vorabend dieser symbolischen Rehabilitation, begab sich Kerpenisan mit Kamera in die nur 50 Meter vom Ort der Hinrichtung gelegene Köln-Ehrenfelder Kneipe „Zur Schänke“. Dort, im ehemals proletarischen Ehrenfeld, hatte Jean Juelich bei der „Ehrenfelder Gruppe“ der Edelweißpiraten mitgemacht. Dort lebte und handelte auch Juelichs Vorbild Hans Steinbrück antifaschistisch, indem er verfolgte Juden in der Ehrenfelder Schönsteinstraße versteckte und auch bewaffneten Widerstand gegen die Nazis zu organisieren versuchte. Steinbrück gehörte zu den 13 am 10.11.1944 Hingerichteten.

In dem bemerkenswerten Edelweißpiratenfilm lässt Kerpenisan die im Juni 2005 zufällig in der Kneipe Anwesenden über die Edelweißpiraten sprechen – und erlebt den Kampf zwischen naiv-brutaler Leugnung und – zumindest verspäteter, symbolischer – Rehabilitation in eindrücklicher Weise: Der Bartholomäus Schink sei „ein Verbrecher“, lässt ein selbstgefälliger, wohl erst nach Kriegsende geborener Kneipengast dröhnend und lachend mehrfach verlauten; seine Freude, zumindest seine Genugtuung über die Hinrichtungen ist schwerlich in Abrede zu stellen.

Die Edelweißpiraten und Widerständler seien „keine Idealisten“ gewesen, selbst der 16-jährige Bartholomäus Schink nicht, schwadroniert der Kneipengast vor der Kamera – frohlockend, dass er nun „ins Fernsehen komme“. Deren Rehabilitation sei „ein Zirkus“ – während die übrigen Kölner im Krieg ihren notwendigen Beitrag geleistet hätten. „Mitgefangen – mitgehangen“, fügt er lachend hinzu. Dann ruft der Kneipengast extra einen Freund an; der solle die Fotos der Hinrichtung[vi] sogleich vorbei bringen: „Du häst doch die Bilder damals von dem Holocaust!“

Eine deutlich ältere Kneipenbesucherin, die der Hinrichtung noch selbst beiwohnen musste – „Da sind wir zu gezwungen worden“ – , tritt hingegen für die Ehre der Widerständler ein. Zumindest heute müsse man das Unrecht anerkennen, betont die couragierte, betagte Dame.

Der Zeitzeuge Jean Juelich

Im Film begegnen wir dem vitalen Jean Juelich mehrfach: In seiner Rolle als – gerne kölsch sprechender – , Zeitzeuge, der immer wieder in Kölner Schulen vor Jugendlichen sprach; beim jährlichen Erinnern am 10.11. am Ehrenfelder  Bahnhof – dem Hinrichtungsort – sowie bei einem Vortrag im Kölner EL-DE Haus. Als Zeitzeuge erinnerte er an die nationalsozialistischen Verbrechen, an die Systematik der Verfolgung der jugendlichen Edelweißpiraten, aber auch an ihre eigenen, kleinen Widerstandsaktionen: „Alle das verdrießt natürlich das System“, resümiert Jülich auf kölsch. Will heißen: Die Verweigerung, der Widerstand der Edelweißpiraten wurde von der Gestapo politisch ernst genommen. Solange es in Köln auch 11 Jahre nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten noch Widerstand gab waren diese die „Vierte Front“ (Finkelgruen 2020) gegen die Diktatur. Wir sehen Jean Juelich im Film auch gemeinsam mit seinen Freunden, der legendären Edelweißpiratin und Zeitzeugin Gertrud „Mucki“ Koch (Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin) sowie dem Kommunisten Heinz Humbach.

Dann erleben wir Juelich bei einem Besuch in seinem ehemaligen Gefängnis in Brauweiler. Seine jugendliche Angst lässt sich auch 60 Jahre später noch erahnen. Gesprochen hat er hierüber als Zeitzeuge vereinzelt; in seiner Autobiografie Kohldampf, Knast un Kamelle (2003) hat er sie vorsichtig beschrieben. Innerfamiliär hingegen musste er diese verleugnen, um seine Rolle als Schutz bietender Familienvater aufrecht zu erhalten.

Dann erleben wir den charismatischen Juelich bei einer Lesung aus seiner Autobiografie. Einer der Zuhörer ist der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken, dieser hatte auch ein Vorwort zu Juelichs Autobiografie beigesteuert.

In einer Szene sehen wir Jürgen Roters im Gespräch mit Jean Juelich. Roters, der die Anerkennung der Edelweißpiraten mit persönlichem Engagement über Jahre vorbereitet  hatte, dankt in dieser Szene gegenüber Juelich „der israelischen Regierung“ – es war die israelische Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem – für deren Anerkennung der Widerständler Juelich, Schink und Jovy bereits 23 Jahre zuvor (vgl. Finkelgruen 2020). Damit habe diese der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten, wie wenig diese sich um den jugendlichen Widerstand gekümmert, diesen gewürdigt habe. Diese israelische Rehabilitation, im Jahr 1982 beschlossen und im Frühjahr 1984 zeremoniell in Yad Vashem durchgeführt[vii], sei eine „wichtige Geste“ gewesen. Auch seine eigene Behörde habe den Edelweißpiraten „schweres Unrecht angetan“.

Auf einem Foto von dieser Gedenkfeier sehen wir den damaligen liberalen Bundesinnenminister Gerhart Baum, ein enger Freund und Weggefährte Finkelgruens. Baum gehörte ab 1978, neben dem urliberalen FDP-Hochschullehrer und Politiker Ulrich Klug, zu den zentralen Persönlichkeiten in Köln, die einen Stimmungsumschwung in Köln zur Anerkennung der Edelweißpiraten ermöglichten.

Dann ein Zeitungsbeitrag aus dem KStA über die Auszeichnungsfeier in Jerusalem, in dem die „Hoffnung auf Anerkennung“ auch in Deutschland betont wird. „Gerhart Baum sprach über Widerstand“, heißt es in der Titelzeile.[viii]

Für Jean Juelich war diese Feier in Jerusalem der bewegendste und ermutigendste Augenblick seines Lebens. Finkelgruen hatte ihm zuvor Jerusalem gezeigt. Dort begegnete er bei einer eilig anberaumten kurzen Ansprache auch 30 ehemaligen jüdischen Kölnern, nun Israelis, die ihn nach dem Leben in Köln befragten. Mit Deutschland wollte die Mehrheit von ihnen nichts mehr zu tun haben, auf das Treffen mit Jean hingegen freuten sie sich.

„Ich verneige mich in Dankbarkeit vor den Israelis“, sagt der sichtlich gerührte Jean Juelich mit belegter Stimme. Und Roters habe es ihnen, den Edelweißpiraten, ermöglicht, „wieder aufrecht zu gehen.“

In der Schlussszene sehen wir Jean Juelich mit Gitarre: „Es klappt noch…“, dann beginnt er mit seinem Lied über die Edelweißpiraten – und ist sichtlich glücklich.

Ein sehenswerter Film.

 

Jugend und Widerstand im 3. Reich. EDELWEISSPIRATEN. Ein Film von Dobrivoie Kerpenisan

Premiere: Do., 19.8.2021 17:30 Uhr Filmforum

Weitere Termine:
Fr. 20.8. 18 Uhr Kulturkirche Ost, Köln
Sa. 21.8. 16:45 Uhr Rex am Ring
So. 22.8. 16 Uhr Filmforum Köln

https://iffc.io/edelweispiraten

Trailer: www.dobriart.com

 

[i] Vgl. im Detail:  Matthias von Hellfeld (2019): Vorwort. In Finkelgruen (2020): „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln, BoD 2020, Hg.: R. Kaufhold, A. Livnat & N. Englhart, S. 9-12.
[ii] Peter Finkelgruen (2020), S. 11, 70, 82, 133, 153-157, 214, 255, 263 und 153-157.
[iii] Peter Finkelgruen: Vorwort zum Buch. In: Finkelgruen (2020), S. 25-33. 
[iv] Peter Finkelgruen (2020): Sie waren Widerstand genug! Nachwort zu „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944. Herausgegeben von Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Engelhart, BoD 2020, S. 209-2016 https://www.bod.de/buchshop/soweit-er-jude-war-peter-finkelgruen-9783751907415
[v] Zu Jovy siehe: Roland Kaufhold (2018): Ein Leben gegen den Strom, haGalil 9.6.2018 https://www.hagalil.com/2018/06/jovy/ sowie Kaufhold (2020): Die „Kölner Kontroverse“?. In: Finkelgruen (2020), S. 217-342. Internet: https://www.hagalil.com/2019/09/edelweisspiraten-kontroverse/
[vi] Hierzu eine Erläuterung: Am 25.10.1944 wurden am Ehrenfelder Bahnhof vom NS-Regime elf aus Polen und Ungarn nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter öffentlich hingerichtet. Hiervon existieren mehrere Fotos. 15 Tage später, am 10.11., wurden am gleichen Ort – die Galgen waren offenkundig noch stehen gelassen worden – die besagten 13 Edelweißpiraten und Widerständler hingerichtet worden (vgl. Kaufhold 2020 in Finkelgruen: „Soweit er Jude war…“). Von dieser Hinrichtung existieren keine Fotos. Die besagten, im Film eingearbeiteten Fotos wurden häufig der zweiten Hinrichtung zugeordnet, was jedoch in der Sache selbst keinen Unterschied macht.
[vii] Der Zeremonie in Yad Vashem wohnten u.a. Juelich, dessen 21-jähriger Tochter Conny, Wolfgang Schwarz (der Bruder des am 11.10.1944 hingerichteten Günther Schwarz), Peter Finkelgruen, Gerhart Baum und Matthias von Hellfeld bei.
[viii] Siehe hierzu ergänzend Gerhart Baums Rede über Peter Finkelgruen und die Edelweißpiraten im Sommer 2020: https://www.youtube.com/watch?v=ucKHeR2PwBA&t=315s