Aller guten Dinge sind drei?

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In Israel steigt die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen dramatisch an. Vor allem jüngere Menschen sind von der Delta-Variante des Coronavirus betroffen. Mediziner und Politiker suchen nach Möglichkeiten, eine weitere Welle zu verhindern, weshalb jetzt eine dritte Dosis Impfstoff angeboten wird.

Von Ralf Balke

Eigentlich dachte man, die Coronavirus-Krise sei überstanden. Im Juni zählte die Behörden in Israel an manchen Tagen gerade einmal vier Neuinfektionen, so dass sogar die Maskenpflicht in geschlossenen Räumen wieder aufgehoben wurde. Ohnehin gab es vor sechs Wochen nur noch rund 200 aktive Fälle. Dann kam die Delta-Variante des Coronavirus um die Ecke und die Zahlen schossen erneut in die Höhe. So wurden allein am Mittwoch 2.260 Personen positiv auf Covid-19 getestet. Über 14.360 aktive Fälle gibt es derzeit. Auch werden wieder vermehrt schwere Krankheitsverläufe registriert, und zwar mittlerweile über 150. Davon befinden sich 41 in einem kritischen Zustand. Gegenüber der Vorwoche ist dies eine Verdopplung. Genau deshalb erklärten am Mittwoch gleich mehrere Krankenhäuser, ihre bereits dicht gemachten Corona-Intensivstationen erneut öffnen zu wollen. All das stellt Mediziner und Politiker vor neue Herausforderungen. Denn Israel hatte sich den Ruf erarbeitet, „Impf-Weltmeister“ zu sein. Von den rund 9 Millionen Israelis haben fast 5,8 Millionen eine Erst-Impfung erhalten, knapp 5,4 Millionen bereits beide Spritzen bekommen. Nun aber sorgt vor allem die Tatsache, dass auch bereits Geimpfte unter den Neuinfizierten und Erkrankten zu finden waren, für Unruhe.

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der Hebräischen Universität in Jerusalem enthielt weitere unschöne Botschaften. So sei der Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf durch die Vakzine von Pfizer, die fast ausschließlich in Israel zum Einsatz kamen, auf rund 80 Prozent gesunken, bei älteren Personen sogar auf nur 50 Prozent. Vor dem Aufkommen der Delta-Variante hätte dieser noch bei über 90 Prozent gelegen. „Die aktuelle Wirkung des Impfstoffs ist deutlich niedriger als die, die wir im März beobachten konnten“, heißt es dazu. Man sollte jetzt davon ausgehen, dass die Zahl der problematischen Fälle ansteigen werde, und zwar auf womöglich 400 in weniger als drei Wochen. Auch müssten dann mehr Personen künstlich beatmet werden. „Die Infektionswelle im Juli vergangenen Jahres konnte nur dank verhängten Restriktionen gestoppt werden“, so die Autoren der Studie. „In diesem Jahr ist aber bisher noch nichts geschehen, weshalb ein ähnliches Abflauen derzeit nicht zu erwarten ist.“

Jüngste Daten des Gesundheitsministeriums verheißen ebenfalls nichts Gutes. Sie würden zeigen, dass diejenigen, die am Anfang der Impfkampagne ihre zwei Dosen erhalten hatten, nun einen deutlich geringeren Schutz vor Covid-19 hätten, als Personen, die zu einem späteren Zeitpunkt geimpft wurden. „Wir haben zehntausende von im Juni getesteten Personen untersucht und uns die Daten angeschaut, wie viel Zeit seit ihrer zweiten Impfung vergangen war“, erklärte Dr. Yotam Shenhar, der die Untersuchungen begleitet hatte, gegenüber der Presse. „Dabei mussten wir feststellen, dass diejenigen, die relativ früh geimpft worden waren, öfter auch Covid-19-positiv waren als andere.“ Im Januar Geimpfte hätten sogar nur noch einen Schutz von 16 Prozent, während bei Personen, die im April die Spritze erhalten hatten, dieser bei 75 Prozent zu veranschlagen sei. Zugleich hob man hervor, dass die Gruppe derjenigen, die zuerst geimpft wurde, überwiegend zu der älteren Bevölkerungsgruppe gehört, die ohnehin eher an gesundheitlichen Problemen leide als jüngere Menschen. Dieses müsse in der Bewertung berücksichtigt werden.

„Die Regierung sollte jetzt nicht in Panik verfallen, aber die Daten auf jeden Fall ernst nehmen und sie nicht ignorieren“, betont Dr. Amit Huppert von der biostatistischen Abteilung des Gertner-Instituts, Israels nationaler Forschungseinrichtung für Epidemiologie. „Auch die meisten von uns hätten vor einem Monat kaum geglaubt, dass wir uns wieder in so einer Situation befinden könnten.“ Man hätte der Delta-Variante, die sich im Frühjahr erst in Großbritannien und nun ebenfalls in Israel verbreitete, mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Zugleich aber mehren sich kritische Stimmen, die das Ganze etwas skeptischer sehen. Sogar Professor Ran Balicer, Vorsitzender des nationalen Expertengremiums, das die Regierung berät, sprach davon, dass die Daten mit Vorsicht zu genießen seien, weil sie zu „schrecklich verzerrten“ Schlussfolgerungen führen könnten. „Jeder Versuch, auf Basis von halbgaren Krankheitsraten unter den Geimpften oder Nichtgeimpften auf die Wirksamkeit des Impfstoffs zu schließen, ist sehr, sehr riskant“ , meinte er. Auch Yael Paran, Fachärztin für Infektionskrankheiten am Sourasky Medical Center in Tel Aviv, betonte gegenüber der Times of Israel, dass die Zahlen zu den schweren Erkrankungen wenig mit der Realität zu tun haben. „Was wir in unserem Krankenhaus und auf der ganzen Welt sehen, bestätigen diese Befürchtungen nicht“, sagt sie. „Ich glaube, die Zahlen sind schlichtweg übertrieben.“ Amit Huppert räumt zwar ebenfalls ein, dass es mit den neuen Angaben so einige Probleme gibt. „Es handelt sich um frühe Schätzungen, die auf einem relativ kleinen Datensatz basieren, weshalb es womöglich zu Ungenauigkeiten kommen kann.“ Trotzdem glaubt er an ihre Relevanz.

Yael Paran sieht bei der Definition der Kategorie „schwerer Krankheitsverlauf“ schon eine der Ursachen für Missverständnisse. So werde diese bereits für Patienten verwendet, deren Versorgung mit Sauerstoff beeinträchtigt sei, was vor der Impfkampagne ein guter Indikator für eine Verschlechterung des Zustands von Patienten war. Bei geimpften Personen dagegen ist diese aber oft nur von kurzer Dauer, weshalb man nicht von einer signifikanten negativen Veränderung sprechen sollte. „Nehmen Sie als Beispiel einen Patienten, der jetzt in meinem Krankenhaus liegt“, skizziert sie die Problematik. „Er ist 80 Jahre alt und wird als schwer eingestuft – aber nur, weil er kurzfristig leichte Atemprobleme hat.“ Das würde auch bei vielen anderen Krankheiten auftreten und lässt sich medikamentös einfach behandeln. „Dennoch wird diese Person als ein solcher in der Statistik erscheinen.“

Auch Dr. Dvir Aran, Experte für Gesundheitsstatistiken vom Technion in Haifa, macht sich Sorgen, dass „schlechte Forschungsergebnisse“ vom Gesundheitsministerium ohne eine richtige Kontextualisierung in politische Entscheidungen mit einfließen könnten. „Nicht der Impfstoff ist das Problem, sondern die Daten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen über ihre Wirkung.“ Die Zahlen wurden durch den Vergleich von Infektions- und Krankheitsraten bei geimpften und ungeimpften Personen ermittelt. Doch unter der Gruppe der Nichtgeimpften dürften sich unverhältnismäßig viele befinden, die entweder den Vakzinen misstrauen oder glauben, dass Covid-19 harmlos oder eine Erfindung sei, weshalb sie sich sowieso nur sehr selten testen lassen. „Wir finden daher wahrscheinlich weniger Fälle, in denen ungeimpfte Personen sich mit Corona infiziert hat. Da aber die Statistiken auf einem direktem Vergleich beruhen, erscheint die Wirksamkeit für Geimpfte so viel geringer.“ Und weil auch die aktuellen Daten zu den schweren Krankheitsverläufen nur auf einer sehr mageren Datenmenge basieren, können bereits minimale Abweichungen große Auswirkungen haben.

Trotzdem, die neue Regierung macht jetzt ordentlich Druck. Weil die Delta-Variante vor allem Jüngere trifft, sollen Kinder in der Altersgruppe zwischen fünf und elf Jahren nun ebenfalls geimpft werden, wenn sie Risikofaktoren wie extreme Fettleibigkeit, chronische Lungenkrankheiten oder Herzprobleme aufweisen. Und bereits vor über zwei Wochen beschloss man, dass einigen Senioren und Personen mit einem besonders geschwächten Immunsystem die Option für einen sogenannten „Booster-Schuss“ erhalten sollen. Zusammen mit Frankreich war man so eines der ersten Länder, das diese dritte Impfdosis verabreichen wird. „Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Patienten mit einer Immunsuppression selbst nach zwei Dosen des Coronavirus-Impfstoffs immer noch keine zufriedenstellende Antikörperreaktion entwickeln“, schrieb Dr. Emilia Anis, Leiterin der epidemiologischen Abteilung des Gesundheitsministeriums, in der entsprechenden Mitteilung. „Einige von ihnen haben erst nach einer dritten Dosis ausreichend Antikörper.“ Unmittelbar nach dieser Ankündigung lud Israels größtes Krankenhaus, das Sheba Medical Center, Dutzende seiner Herztransplantationspatienten zu einer Impfauffrischung ein.

Auch Impfverweigerern schlägt nun ein anderer Wind entgegen. „Alle Bürger unsere Landes, die älter als zwölf Jahre sind und keine gesundheitlichen Gründe anführen können, sollten sich endlich impfen lassen“, forderte Naftali Bennett in einer Ansprache. „Eine Million Israelis weigert sich noch. Sie gefährden die gesamte Bevölkerung, sie gefährden die acht Millionen anderen Bürger des Landes.“ Von einer Impfpflicht ist derzeit nicht die Rede, man setzt auf Überzeugungsarbeit. „Wenn Sie einen Impfverweigerer kennen sollten, überzeugen Sie ihn, erklären Sie ihm, dass er die Gesundheit anderer gefährdet“, so der Ministerpräsident. Und am Donnerstagmorgen gab das Kabinett grünes Licht für eine Ausweitung der Impfkampagne. Nun sollen alle Israelis, die älter als 60 Jahre sind, die Möglichkeit für eine dritte Impfung erhalten. Voraussetzung: Ihre Zweitimpfung muss mindestens fünf Monate zurückliegen.

Trotzdem reißen die Diskussionen nicht ab. Einige Gesundheitsexperten würden das Angebot für eine Drittimpfung eher für die Altersgruppe ab 65 beschränkt wissen. Andere wiederum verweisen auf Großbritannien, wo in einigen Studien eine Abschwächung der Wirkung des Vakzine nicht in dem Ausmaß beobachtet werden konnte wie in Israel. Als Erklärung für diese Diskrepanzen wird einerseits die problematische Datenbasis der israelischen Studien genannt, andererseits aber ebenfalls auf die Tatsache verwiesen, dass der zeitliche Abstand in Großbritannien zwischen der Erst- und der Zweitimpfung mit zwei bis drei Monaten deutlich größer war als in Israel, wo dieser nicht einmal die Hälfte betrug – auch das könnte die Unterschiede erklären. Denn der Aufbau einer Immunität braucht wohl Zeit. Und genau die wird es brauchen, um entsprechende Resultate zu sehen. Die Infektionszahlen dürften sich daher erst einmal weiterhin auf hohem Niveau bewegen.

Foto: Die Impfquote bei Jugendlichen liegt derzeit in Israel um die 40%, Foto: haGalil