Der Soziologe Achim Bühl wirft in seinem Buch „Die Shoah. Verfolgung und Ermordnung der europäischen Juden“ einen Blick auf die Mittäter in anderen Ländern. Dies geschieht analytisch und informativ auf engem Raum, was den Band auch zu einem nützlichen Nachschlagewerk macht.
Von Armin Pfahl-Traughber
Es gab einen Haupttäter der Shoah, es gab aber auch in unterschiedlichen Ländern viele Mittäter. Die Erinnerung daran, hat nichts mit einer Relativierung zu tun. Denn erst so erklärt sich das Ausmaß der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg. Darauf macht der Berliner Soziologe Achim Bühl in seinem neuen Buch „Die Shoah. Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ aufmerksam. Er will darin in Form von Länderdarstellungen veranschaulichen, wie die deutschen Haupttäter mit ihren europäischen Mittätern kooperierten. Am Beginn steht eine beachtenswerte Deutung zur Frage, warum von einem bestimmten Land die Shoah ausging: „Der deutsche Antisemitismus unterschied sich von der Judenfeindschaft anderer Länder dadurch, dass er zur Zeit der Romantik und erst recht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidendem Maß eliminatorischer Antisemitismus war, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch maßgeblich Judenhass des Wortes“ (S.10). Diese Einschätzung aufgrund von Ländervergleichen verdient näher Reflexionen.
Indessen geht es in dem Buch um einen anderen Schwerpunkt. Dazu heißt es: „Zwar darf die Verantwortung der Deutschen für die Shoah nicht relativiert werden, doch es bleibt Fakt, dass die Singularität des Genozids auch dem Sachverhalt geschuldet bleibt, dass der Völkermord des Haupttäters in seinem ganzen Ausmaß nur möglich war durch ein Heer europäischer Mittäter … Dergestalt betrachtet war und ist die Shoah ein deutscher, ein europäischer sowie ein weltweiter Tatbestand“ (S. 13). Was diese Einschätzung meint, veranschaulichen die folgenden Kapitel. Zunächst geht es um das „Altreich“ und die Initiierung der Judenverfolgung und Vernichtung, wobei der Autor „Ausgrenzung“, „Entrechtung“ und „Ermordung“ als Phasen unterscheidet und auch auf die nationalsozialistische Planung des Völkermordes eingeht. Gerade bezogen auf den letztgenannten Aspekt fasst er problemorientiert den Forschungsstand zusammen und liefert bilanzierend zur mörderischen Umsetzung eine differenzierte und offene Version der Zusammenhänge.
Danach folgen die Kapitel zu bestimmten Regionen, zur Shoah in West- und Nordeuropa, in Osteuropa, auf dem Balkan, in Südeuropa und Nordafrika, aber auch zur Rolle der Alliierten und der neutralen Länder. Die meisten Kapitel sind nicht länger als zehn Seiten. Gleichwohl gelingt es Bühl, die relevanten Fakten zusammenzutragen. Dabei geht er jeweils auf den kursierenden Antisemitismus in den jeweiligen Ländern, die den dortigen Juden eigene gesellschaftliche Relevanz, die Existenz faschistischer und judenfeindlicher Kleinparteien, das Ausmaß der gesellschaftlichen und staatlichen Kollaboration und die aktive Beteiligung an der Vernichtungspolitik ein. Dies geschieht in der Beschreibung aufgrund des begrenzten Raums meist etwas abstrakt, gleichwohl finden sich auch Augenzeugenberichte zur Veranschaulichung. Am Ende jeden Kapitels steht eine Zusammenfassung. Sie macht dann problemorientiert auf Besonderheiten aufmerksam, wobei häufig kritisch auf eine Ignoranz der Mittäterschaft verwiesen wird. Man war nicht nur Opfer.
Bühl gelingt es, komprimiert die wichtigsten Sachverhalte zu veranschaulichen. Dies macht sein Buch auch zu einem Nachschlagewerk. Bedauerlich ist dabei, dass er die Informationen nicht genauer mit Literaturhinweisen belegt, gibt es doch Quellenverweise nur für die direkten Zitate. Der Autor beschränkt sich nicht auf Faktenpräsentation, sondern fragt immer wieder nach Bedingungsfaktoren und Rahmenbedingungen. Dies erfordert viel Detailkenntnis und Differenzierungsvermögen. Und Bühl gelingt es, all dies auf engem Raum zu vermitteln. Er hebt für die jeweiligen Ländern auch immer wieder Spezifika hervor. So fragt der Autor für die Niederlande: „Warum so viele?“, konstatiert für Lettland „Verharmlosung der Mittäterschaft“ oder konstatiert für Ungarn „Täter statt Opfer“. Auch auf Ambivalenzen wird hingewiesen, etwa für Schweden, wo es in der gleichen Familie den finanziellen Kollaborateur Jacob Wallenberg und den berühmten „Judenretter“ Raoul Wallenberg gab. Insgesamt handelt es sich um ein differenziertes und informatives Buch zum Thema.
Achim Bühl, Die Shoah. Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Wiesbaden 2021 (S. Marix-Verlag), 223 S., 18,00 Euro, Bestellen?