Durch zivilgesellschaftliche Meldestellen für antisemitische Vorfälle wurden im vergangenen Jahr 1.909 antisemitische Vorfälle bekannt. Dies geht aus dem heute veröffentlichten Bericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020“ des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) hervor…
Drei der vier landesweiten Meldestellen, die sich im vergangenen Jahr an der bundesweiten Dokumentation beteiligten, registrierten mehr antisemitische Vorfälle als im Jahr zuvor: 30 % mehr in Bayern, 13 % in Berlin, 3 % in Brandenburg. Lediglich in Schleswig-Holstein konnte ein leichter Rückgang um 5 % verzeichnet werden. Erstmals veröffentlichte der Bundesverband RIAS zudem Zahlen für das restliche Bundesgebiet, wo 472 antisemitische Vorfälle bekannt wurden. Der Bericht kann online eingesehen werden.
Insgesamt waren 677 Personen und 679-mal Institutionen direkt von den dem Bundesverband RIAS bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen betroffen. Zwar kam es 2020, wohl auch pandemiebedingt, vielerorts zu weniger Angriffen und Bedrohungen als 2019, doch wurde auch in diesem Jahr ein Fall extremer Gewalt dokumentiert: Am 4. Oktober griff ein Mann in Hamburg-Eimsbüttel vor der Synagoge einen 26-jährigen Studenten mit einem Spaten an.
Mehr als ein Viertel aller dokumentierten Vorfälle (489) hatte einen direkten Bezug zur Coronapandemie. Dabei handelte es sich in 284 Fällen um antisemitische Inhalte, die auf Versammlungen gegen die Coronamaßnahmen in Reden, auf Schildern oder auf der Kleidung verbreitet wurden. In ganz Deutschland prägten Schoa bagatellisierende Vergleiche und Selbstviktimisierungen die öffentlichen Versammlungen, wie etwa im Dezember in Darmstadt, als ein Redner in Bezug auf die NS-Zeit sagte: „In der Zeit damals hat man die Juden verfolgt – jetzt verfolgt man die Querdenker.“ Gleichzeitig fanden antisemitische Verschwörungsmythen bezüglich der Herkunft der Coronapandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung häufig auch ihren Weg in den Alltag von Jüdinnen_Juden, wie im Mai in Berlin, als ein Mann zwei erkennbar jüdischen Spaziergänger_innen zurief: „Schämt ihr euch nicht, was ihr veranstaltet habt, ihr Juden?“ Aufgrund der hohen Virulenz von Verschwörungsmythen im Kontext der Coronapandemie verstanden die Betroffenen die Aussage als Vorwurf, sie seien an der Pandemie schuld.
Im Vergleich dazu registrierten die Meldestellen im Jahr 2020 einen geringeren Anteil des israelbezogenen Antisemitismus. Dies scheint jedoch angesichts der jüngsten offen antisemitischen Demonstrationen sowie der Angriffe auf und Bedrohungen von jüdischen Personen und Institutionen im Mai 2021 lediglich eine Momentaufnahme gewesen zu sein.
Die politisch-weltanschaulichen Spektren, denen 2020 die meisten bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle zugeordnet wurden, waren Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus (479) sowie das verschwörungsideologische Milieu (247), bei welchem während der Pandemie überall große Anstiege beobachtet werden konnten. Wie schon im Vorjahr konnten die Meldestellen den politischen Hintergrund der Vorfälle in etwa der Hälfte der Fälle nicht eindeutig bestimmen.