Europas Juden als Mordopfer nach Pest-Pandemien

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Seit 4000 Jahren brachen von Fernost aus in Vorderasien und Russland, ab dem 13. Jahrhundert in weiteren europäischen Ländern wiederholt Pestwellen über die wehrlosen Menschen herein. Die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) definiert „neu, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweit starke Ausbreitung epidemischer Infektionskrankheiten“ als „Pandemie“. Allein zwischen 1349 und 1743 gab es 16 pandemische Epidemien mit fünf bis 25 Millionen Todesopfern in Europa, erheblich mehr als gegenwärtig durch Covid 19 und dessen Mutanten. Europaweit wurden damals Juden als Verursacher der Massensterben beschuldigt, ermordet, beraubt oder vertrieben…

Von S. Michael Westerholz

Ab dem 13. Jahrhundert rasten Pandemien von Konstantinopel (heute Istanbul) über Caffa auf der Krim (heute Feodosija) durch die Ukraine und Russland, nach Polen, Deutschland, Dänemark, Schweden und sogar nach Grönland, ferner nach Frankreich und England. Eine weitere über Marseille, Paris, Straßburg, Genf, Kiew, London, Venedig, Frankfurt am Main, Trier, Koblenz, Köln bis nach Hamburg. Den Massenerkrankungen folgten stets Judenmorde.

Diese Verbrechen waren das Ergebnis schier ungeheuerlicher Hetze. Der Historiker und Abgeordnete der Grünen im Bayerischen Landtag, Toni Schuberl, identifizierte unter den Hetzern Päpste, Priester und, 1348, einen Abt der niederbayerischen Zisterzienserabtei Aldersbach. Brutaler als viele Fürsten wirkte ein italienischer Graf, der hetzte und mordete.

Die Folgen waren grauenhaft: Überall in der damals bekannten Welt wurden ohnedies unterdrückte Juden zahlreich ermordet. Überlebende der Pogrome wurden vertrieben, ihr Eigentum konfisziert. Aufklärungsversuche des Verfassers der ersten deutschen Naturgeschichte, des Regensburger Dompfarrers Konrad von Megenberg, scheiterten: Er hielt nach Erdbeben aus dem Boden ausgetretene Giftgase als Ursache der Pest.

14. Jahrhundert: Ein Abt hetzt gegen verfolgte Juden

Im Jahre 1338 ermordeten die Bürger der Donaustadt Deggendorf von ihrem Stadtrichter Konrad Freyberg angeführt ihre jüdischen Mitbürger. Sie beschuldigten sie ohne jeden Beweis der Brandlegung. Das Mord-Verbrechen setzte sich in über 20 weiteren Gemeinden bis nach Böhmen fort. Die nach Erdbeben und Pestpandemien panische Bevölkerung hetzte der 17. Aldersbacher Abt Konrad II. (1343 bis 1361) weiter auf. Justament zu jener Zeit, da auch die Straubinger ihre Juden ermordet und beraubt hatten, schrieb der Abt in einem klaren Verstoß gegen seine Pflicht, christliche Nächstenliebe zu predigen:

„Besagtes Volk der Juden beging … in ganz Deutschland ein furchtbares Verbrechen. Indem es daran ging, zur Vernichtung der Christen überall die Brunnen zu vergiften, brach in ganz Europa eine so furchtbare Pest aus, wie wir sie vorher in der Geschichte nicht finden. Vielerorts wurden die Juden als Urheber dieser gewaltigen Seuche infolge der Brunnenvergiftung entlarvt und überall in ganz Deutschland von den wütenden Volksmassen hingerichtet…. So geschehen 1348.“

Mit diesem Schreiben amnestierte er die Mörder vorweg – darin seinen bayerischen und europäischen Herrschern folgend, die sich an der Beute beteiligen ließen und dann ihre „Huld und Gnade“ gewährten!

Abt Konrad II. wirkte in der Kirchenverwaltung des Landes unter dem Patronat der mächtigen Bamberger Bischöfe, die zugleich Reichkanzler stellten.

Seine Hetzreden wider die Juden wurden weit über Niederbayern hinaus beachtet. Sie passten nahtlos in Verdikte unterschiedlicher Päpste und Inquisitoren der Kirche, sowie der Herrscher Italiens und verschiedener Könige Frankreichs. Deren Verfolgungsaktionen allerdings konzentrierten sich zeitweilig auf Kennzeichnungspflichten der Juden, auf deren Vertreibung oder die Alternative einer Taufe. Morde geschahen in Frankreich, Italien, auf der iberischen Halbinsel und im Baltikum seltener.

Nach wiederkehrenden Pandemien häuften sich in Europa Verschwörungs-Phantasien. Ihr Motto: Irgendwer trägt Schuld am Massensterben! Wie schon öfter zuvor wurde der Verdacht auf die Juden gelenkt. Sie waren von Obrigkeiten ebenso wie von deren Untertanen als Finanziers erwünscht, jedoch völlig rechtlos. Ihr Status als „Schutzjuden“ unterschiedlicher Herrscher erwies sich in Krisenzeiten als brüchig, äußerst selten wurde ihnen bei Pogromen der teuer erkaufte Schutz tatsächlich gewährt.

Karl IV., seit 1355 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, verkaufte zur Schuldentilgung seine Rechte und Pflichten für das Wohl und Wehe von Juden im Reich an lokale Herrscher. Die Verträge regelten exakt, dass die Juden „erschlagen, verbrannt oder gebannt“ werden dürften; dass solche Taten nicht bestraft würden und wie die Beute verteilt würde. Unmittelbare Folge zum Beispiel in Frankfurt: Im Ghetto wurden 500 jüdische Familien ermordet, weitere in Mainz, Worms, Koblenz und Köln.

Das französische Judentum litt im 7., 11., 12. und 14. Jahrhundert unter brutalen Vertreibungen. In der Zeit der Kreuzzüge, den zwischen 1095 und 1291 von Christen aus strategischen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen geführten Kriegen gegen muslimische Staaten im Nahen Osten, gab es Juden-Verbrennungen aller Altersstufen zum Beispiel in einer Kirche in Rouen. Auch die Taufe bescherte ihnen keine Sicherheit. Der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. vertrieb sie, rief sie aber flehentlich zurück, als seine Staatskassen leer

waren. In der Zeit wandelte sich Paris zum Zufluchtsort geflohener Juden aus Deutschland und Portugal. In Rom und in ganz Italien wurden Juden je nach päpstlicher Laune und Finanzbedarf verfolgt, als Bankiers geholt, bei Epidemien ermordet oder vertrieben. In beiden Ländern mussten sie sich zeitweise mit gelben Ringen an der Kleidung kenntlich machen.

 

Massensterben in Europa

Toni Schuberls Forschungsergebnisse schockieren auch heute noch: Am 29. Juni 1348, war Mühldorf am Inn als erste süddeutsche Gemeinde blitzschnell von einer Pest-Pandemie überrollt worden, der 1400 Bürger erlagen. Schon 1349, dann 1380, 1424 und 1463 wütete der „Schwarze Tod“ im dünn besiedelten Bayerischen und im Böhmerwald. Kiel erreichte die Pest 1350, ein Pestfriedhof erinnert an 125 000 Pestopfer in dem heutigen Bundesland Schleswig-Holstein. Binnen drei Jahren durchzog die Pest das Land. Sie kostete mit rund 25 Millionen Toten jeden dritten Europäer das Leben!

In jener Zeit „schien der Himmel über den Menschen zusammenzubrechen“, schrieben die bayerischen Historiker Otto Denk und Josef Weiß.

„Schwer suchten Gottes Strafgerichte dir Völker heim. Ein am 25. Januar 1348 durch ganz Europa gehender Erdstoß jagte die Menschen in Entsetzen und wahnsinnige Angst. Vierzig Tage rollten die Donner der Tiefe bald stärker, bald schwächer. … Bis in die Gegend von Regensburg pflanzten sich die unterirdischen Bebungen fort.…. Und dann rauschten die schwarzen Fittiche der Pest.“

Wissenschaftlich belegt ist ein Erdbeben der Stärke 8 bis 9, welches vom Friaul ausgehend im heutigen Österreich, in Italien, Ungarn, Slowenien, Böhmen und Bayern spürbar war. Ein Bergsturz staute Gletscherbäche auf, der Stauüberlauf riss kärntnerische Taldörfer mit. Dies, die Erdstöße und folgende Brände zerstörten bis zu 29 Städte und Dörfer sowie 34 Burgen. Wie so oft ging die Not in eine Pestepidemie über. Denk und Weiß:

„Italienische Kauffahrer hatten das gräßliche Ungeheuer bereits 1346 an die Küstenländer des Mittelmeeres verschleppt, aber erst drei Jahre später fuhr es mit seiner ungezügelten Mordlust über die Lande Europas. `Das große Sterben´ erschlug Hunderttausende, in Bayern allein den achten Teil der Bevölkerung. Wessen Drüsen anschwollen, war am dritten Tag dahin. In München, Regensburg, Landshut, Passau, in Augsburg und anderen Städten hielt die Pest reiche Ernte….Dass gemeine Volk warf die Schuld auf die Juden, in vielen Ländern brach eine gräßliche Judenschlächterei aus. München, Landsberg, Augsburg, Braunau, Salzburg, Würzburg und andere Städte waren die Schauplätze wahnsinniger Greueltaten. In Speyer warf man die Unglücklichen in Tonnen in den Rhein.“

Die Drohung des Papstes Clemens IV, Judenmörder mit einem Bann zu belegen, lief ins Leere. Beschuldigungen der Juden müssten gerichtlich geprüft werden, verlangte der Papst. Das Verdikt umgingen die Mörder, indem sie die Angeklagten folterten und so mit Geständnissen vor die Richter traten, um danach ihr Mordwerk zu vollenden. Straßburger metzelten so 2000 Juden nieder, in Basel, Freiburg und Brüssel wurden sie bei lebendigem Leib verbrannt, in Nürnberg 556 unschuldige Menschenleben ausgelöscht.

Über Thüringen zog die Pest weiter, Bremen, Lübeck und Kiel wurden erreicht. Nord- und Ostsee-Häfen mit ihren nach langen Seereisen verdreckten und ermatteten Matrosen sowie Transitstraßen quer durch die Länder mit ihren unhygienischen Menschenunterkünften waren Hotspots der Seuchen und des Massensterbens. So verlor Hamburg 1350 mit 6000 Toten die Hälfte seiner Einwohner. Weil im damals dänischen Altona unter 13 000 stationierten Soldaten die Pest wütete, schloss die hamburgische Stadtobrigkeit ihr wichtigstes Tor – und sperrte so mit Bedacht die meisten ihrer jüdischen Mitbürger aus, die im Lande rings um Hamburg ihren Geschäften nachgingen und nur durch dieses „Millerntor“ ihre Heimatstadt betreten durften.

Zwar waren Judenmorde ab 1298 von Franken aus durch rebellierende Ritter und Bauernheere in Gang gesetzt worden: Gerüchte über angebliche Hostienschändungen und die Anschuldigung der Kindstötung durch Juden, um das Blut der Kinder zur Bereitung des Pessach-Brotes zu verwenden, verbreiteten mörderische Christen über Aschaffenburg, Lohr am Main und den Spessart. Kaiser Friedrich II. widersprach in Briefen an Behörden und Bischöfe „diesem Unsinn“. Überlebende Juden flohen nach Polen, wo König Kasimir III. sie mit offenen Armen aufnahm. 1336 erreichte eine neuerliche Pest-Pandemie das Taunus- und Rhein-Main-Gebiet um Frankfurt, Wiesbaden, Mannheim und Mainz. Ein Drittel der Bevölkerung starb. Ein marodierendes Raubgesindel aus Franken mordete heftiger denn je: Vom Elsass bis Schwaben und Österreich rotteten die selbsternannten „Judenschläger“ zahlreiche Gemeinden aus. Nur Heidelberg, Augsburg und Regensburg schützten ihre Juden.

Die 1348 in Italien ausgebrochene Pest nutzte der Graf von Savoyen, um Juden in Genf foltern zu lassen, bis sie bekannten: „Wir haben Brunnen vergiftet!“ Die Nachricht verbreitete sich über die Handelsstraßen und Flüsse Italiens und Frankreichs, im Schwarzwald, den Vogesen und Ardennen bisStraßburg, von wo Schiffer und Flößer die Kunde den Rhein, Mosel und Saar entlang weitertrugen. Dort wurden mehr als 200 jüdische Gemeinden vernichtet. Auch die Deggendorfer begründeten nun ihren Judenmord von 1338 mit einer angeblichen Brunnenvergiftung.

Schlesien war von der schlimmsten Pest-Pandemie verschont, Juden schon früh vertrieben worden. Angesichts der Mordorgien weitum verbrannte man nun kurzerhand ins Christentum übergetretene Juden! 1453 hetzte der Kapuzinermönch Johannes Caprianus in Schlesien gegen die Juden. Nun wurden neuangesiedelte verbrannt, Überlebende vertrieben.

Zwar durften da und dort vertriebene Juden heimkehren. In Ostfranken und der Oberpfalz wurden sogar neue Synagogengemeinden eröffnet. Doch ihre soziale und rechtliche Degradierung nahm stetig zu, ihre endgültige Vertreibung zeichnete sich ab. Sie erfolgte 1440 in Augsburg, 1442 in Oberbayern, 1450 in Niederbayern, 1499 in Nürnberg, 1519 in Regensburg. Nur wo deutsche Reichsritter oder Fürsten ihre Souveränität bewahrt hatten und das Leben ihrer Untertanen allein bestimmten, blieben jüdische Gemeinden erhalten, wenn auch stetig gefährdet.

1552 bis 1648: Kriege, Pest-, Typhus- und Cholera-Pandemien – und wieder wurden zahllose unschuldige Juden ermordet

Erneut zwischen 1552 und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1648 raste die Pest in Abständen von kaum zehn Jahren gleich fünf Mal über das heutige Deutschland und angrenzende Regionen. 1552, 1571, 1599, 1625, 1634 und 1648/49 traf „das gewaltig pestilenzische sterben“ das Herrschaftgebiet der Fürstbischöfe von Passau,. Die Pfarrei Freyung verlor 400 Menschen, Waldkirchen 700, Röhrnbach 600 – viele weitere Opfer wurden nicht mehr registriert, weil keine Schreiber mehr lebten. Die Gemeinden Leopoldsreut, Herzogsreut und Schwendreut starben aus.

1576 traf Berlin, Cölln und Spandau die fünfte Seuchenwelle seit 1348. Der Stadtschreiber, zugleich Arzt, Apotheker und Totengräber, schrieb:

„Im Monat Junio hat die pestilenzische Seuche zu Berlin grewlich zu romorn angefangen und vollends auch gen Cölln kommen und fast bis zu Ende des Jahrs regiert, also das in beiden Stetten (Anm: Berlin und Cölln!) beinahe 4000 Menschen jung und alt plötzlich gestorben.“

Die Doppelstädte Berlin-Cölln, in denen seit 1295 Juden ansässig waren, hatten damals knapp 11 000 Einwohner. In Spandau waren zehn Jahre zuvor bereits 1400 von 3000 Einwohnern gestorben. 1510 waren 51 Juden verbrannt worden. Dass Morde sich hier seltener ereigneten, hatte einen praktischen Grund: Die brandenburgischen, später preußischen Kurfürsten warben angesichts der dünnen Besiedlung ihres Sand-, Sumpf- und Seen-reichen Landes allüberall Neubürger an: Hugenotten aus Frankreich und Exulanten aus Habsburger-Gebieten. Sie alle verweigerten die Rückkehr in die katholische Kirche. Ferner kamen Flüchtlinge aus kriegszerstörten Regionen. Sogar in den Türkenkriegen erbeutete Muslime wurden integriert, erhielten eine Moschee in Berlin, konnten, mussten sich aber nicht taufen lassen und stiegen in der Staatshierarchie auf. Weil für die Neubürger Wohn-, Arbeitsstätten, Schulen, Kirchen und eine Infrastruktur geschaffen, ferner die von Juden garantierte Fleischversorgung mit Graurindern aus Ungarn gesichert werden musste, waren die Kurfürsten auf ihre jüdischen Finanzhelfer angewiesen.

In Köln brachten 1605 Söldner aus Neapel, die im Dienst Spaniens in den Niederlanden gekämpft hatten, die Seuche mit. Es starben so viele Menschen, dass Zeitzeugen über weitum ausgestorbene Regionen berichteten. Juden zu beschuldigen erübrigte sich – auch sie waren wie ihre christlichen Nachbarn gestorben. Cholera, Typhus, Pocken, die „rote“ und „schwarze“ Ruhr, seit 1494 die von Kolumbus mitgebrachte Syphilis, Diphterie und die Tuberkulose („Schwindsucht“) als weitere Massenerkrankungen neben der Pest töteten in Europa Millionen. Als nun auch Juden beschuldigt und verfolgt wurden, die in Polen Asyl gefunden hatten, flohen viele in die russische Weite.

Und noch eine weitere Welle erfasste weite Teile Europas. In Koblenz, wo Rhein und Mosel zusammenfließen und Schiffe gewaltige Gütermengen an- und abtransportierten, kam es 1581, 1597/98, 1611/13, 1621/23 und 1666/68 zu zunächst lokal begrenzten Pestausbrüchen. Rigide Schutzmaßnahmen bewahrten benachbarte Regionen nicht vor sich ausdehnenden Epidemien. Juden waren hier schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ermordet worden, jetzt wurden sie Ansteckungsopfer wie ihre christlichen Nachbarn.

Der 1618 in Prag ausgebrochene Dreißígjährige Krieg trug grauenvolle Massenmorde unter Zivilisten, wiederholte Pest- und Typhusepidemien und mörderische Judenhetzen quer durch Deutschland und angrenzende europäische Regionen. Aber die Pest brach auch ohne unmittelbare Kriegseinwirkungen aus. So in unheimlicher zehnjähriger Dauerfolge ab 1638 im Rodgau, wo Dörfer ausstarben, ferner in Sollach, Bingen und Sachsen. Wieder starben rund fünf Millionen Menschen, während die Obrigkeiten strikte Sperrungen von Gemeinden und Häusern anordneten, Überlebende sogar unter Zurücklassung kleiner Kinder flohen und Priester immer noch Juden, zugleich aber das „sündhafte Leben“ als Ursachen bezeichneten.

Dieser Krieg, der von 1618 bis 1648 weite Gebiete im heutigen Deutschland und in angrenzenden Ländern, ferner die Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur ruinierte, hatte schreckliche Pestwellen im Gefolge: 1625 bis 1627, 1632 bis 1635, ferner zwei Jahre andauernd ab 1647 über das im westfälischen Münster und Osnabrück besiegelte Kriegsende hinaus.

Was Wunder: Je länger der Krieg dauerte, je mehr Städte und Dörfer er in Schutt und Asche legte, und umso mehr Ernten, Wild- und Schlachttiere er vernichtete, desto anfälliger wurden die geschwächten Menschen. Sauberes Wasser war zur seltenen Kostbarkeit geworden, und weil Kulturlandschaften nicht mehr gepflegt, durch Kriegsereignisse zerstörte Wälder nicht aufgeforstet wurden, fehlte es an Grundnahrungsmitteln und an Brennholz zum Abkochen. Kriegsheere und gewissenlose Söldner, die Freund und Feind gleichermaßen beraubten, ferner Vertriebene und Entwurzelte verbreiteten die extrem ansteckenden Krankheiten. Nur gab es kaum noch Juden, die man beschuldigen konnte. Erst im 19. Jahrhundert, als die bakteriellen Krankheitsursachen entdeckt waren, durften zögerlich wieder Juden in deutschen Landen siedeln.

Während Katholiken mit alljährlichen Prozessionen an das wiederholte große Sterben erinnern, überall in Europa Pestkreuze und Pestsäulen sowie Pestfriedhöfe zu finden sind, erinnert nichts an die ermordeten Juden. Das Oberammergauer Passionsspiel mit Millionen Zuschauern aus aller Welt als Gelöbnis aus der Pestzeit wies noch vor Jahren antisemitische Inhalte auf, die antisemitische „Gnad“-Wallfahrt in Deggendorf, die auf dem Mord an den lokalen Juden basierte, wurde erst 1992 vom Bischof eingestellt, Prozessionen in Bingen und Lohr erinnern an frühe Pestgelöbnisse – die Judenverfolgungen aus der selben Zeit bleiben unbeachtet.

Die Ausnahme Fürth – das „fränkische Jerusalem“

Ausgerechnet im heute bayerischen Franken, wo seit dem 13. Jahrhundert immer wieder Pogrome aufflammten und scheinbar symbiotisch einander verbundene christliche und jüdische Nachbarn plötzlich zu unbarmherzigen Verfolgern und wehrlosen Opfern wurden, entwickelte sich nach frühen Mordaktionen seit 1440 eine dauerhafte Ausnahme: In Fürth am Rande Nürnbergs. Den Ort beherrschten Bamberger Bischöfe.

1440 wurden dort jüdische Geldverleiher aufgenommen, 1528 eine größere Niederlassung amtlich erlaubt, 1607 ein erster Rabbiner benannt. 1670 fanden hier aus Wien vertriebene Juden Schutz, und dann stieg ungeachtet wiederholter Pestausbrüche die Zahl der hier ansässigen Juden auf bis zu 400 Haushalte an. Den Kaufleuten verdankte Fürth den Aufschwung, jüdische Hygiene-, Speise- und Reinigungsgebote minderten Seuchengefahren.

Auf die erste Synagoge von 1617 folgten drei weitere, dann eine Talmudschule, 1653 das jüdische Armen- und Krankenhaus, in dem auch ein christlicher Wundarzt wirkte, 1846 das neue Hospital. Immer weitere Schulen, 1763 das erste jüdische Waisenhaus in Deutschland, ein Altenheim, ein Wöchnerinnenstift und Säuglingsheim, die erste Kinderkrippe Deutschlands wurden gestiftet, selbst die Wasserversorgung Fürths ab 1887 finanzierten jüdische Investoren.

Nachdem 1691 die erste jüdische Druckerei eröffnet hatte, folgten viele weitere, erst 1946 schmolz ein christlicher Nachbesitzer einer dieser renommierten Druckereien die Jahrhunderte alten hebräischen Lettern. 1862 wurde jene Realschule eröffnet, an der zuletzt der Vater des späteren US-Außenministers und Friedens-Nobel-Preisträgers Henry Kissinger lehrte. Das architektonische Gesicht der Stadt ist trotz Kriegsschäden bis heute von einst jüdischen Bauten geprägt, von Wohnsiedlungen auch, in denen christliche und jüdische Mieter miteinander lebten.

Als Fürth mit Franken 1806 Bayern zugeschlagen wurde, wurden die Lebensauflagen härter, so dass die Zahl der jüdischen Einwohner bis 1900 von 21 auf fünf Prozent sank. Der Fürther David Morgenstern war 1848 der erste jüdische Abgeordnete im bayerischen Landtag, Jakob Wassermann der wohl erfolgreichste Schriftsteller weit über Deutschlands Grenzen hinaus, Leopold Ullstein einer der erfolgreichsten Zeitungsmogule im Reich, Heinrich Berolzheimer der Mäzen, dessen Stiftung bis heute als Berolzheimerianum mit Bibliothek, Konzert-, Vortragssaal und „Comödientheater“ den Stifternamen trägt und dem Stiftungszweck dient: Die in Deutschland hochgerühmten Kommödianten Volker Heißmann und Martin Rassau treten dort zwischen TV-Engagements regelmäßig auf.

Doch im NS-Staat zerbrach auch hier die jüdisch-christliche Symbiose: Von den 2000 Fürther Juden des Jahres 1933 kehrten nur 20 Shoa-Überlebende in ihre Heimatstadt zurück, 950 waren in KZ ermordet worden. Die heutige Kultusgemeinde zählt rund 300 Mitglieder – und es gibt eines der berühmtesten jüdischen Museen Deutschlands in dem kläglichen Rest des einst so strahlenden „fränkischen Jerusalem“.

Bild oben: Die Massenszene Verbrennung der Juden bei lebendigem Leib vor den Mauern der Stadt (Miniatur von Pierart dou Tielt in der flandrischen Chronik Antiquitates Flandriae oder Tractatus quartus des Benediktinerabtes Gilles Li Muisis vom Kloster S. Martin in Tournai, um 1353 – Königliche Bibliothek Belgiens).

Quellen

Schuberl, Toni, MdL: Ein Jahrtausend voller Epidemien im Bayerwald, in: Passauer Neue Presse, Nummer 27 vom 03. 02. 2021, Seite 25

Kiermeier, Dr. Josef: 4. Juden im Mittelalter, in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1989, S. 161 f.

Gidal, T. Nachum: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Könemann Verlag Köln, 1997, hier: Blutlüge, Hostienlüge, Schwarzer Tod, S. 50 f.

Denk, Otto, Weiß, Josef: Unser Bayernland Vaterländische Geschichte volkstümlich dargestellt, Allg. Verlags-Gesellschaft München o. J., S. 208/09

Wikipedia: Erdbeben, Pest und Judenmord im 14. Jahrhundert in Europa, eingesehen am 25. 03. 2021

Wikipedia: Zur Geschichte der Juden in Frankreich; in Rom; in Italien, eingesehen am 13. 04. 2021

Jüdisches Leben in Bayern, Mitteilungsblatt des Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern, 16. Jahrgang Nr. 144, hier: Vor 100 Jahren, Beiträge zur Jüdischen Geschichte Fürths von Benno Reicher, Daniel Hoffmann, Stefan W. Rommelt, S. 11 bis 18.

Scharf, Felix Ephraim, Jerusalem, 1920 – 2013: Gespräche mit und Briefe an den Verfasser, 1967 bis 2012: Mein Leben im Hause Kissinger, Fürth; meine Erinnerungen an Deggendorf und meinen Freund Berthold Heckscher jun., Enkel eines Angehörigen der jüdischen deutsch-amerikanischen Banker-, Kaufmanns-, Industriellen-, Politiker- und Mäzenaten-Familie.