Eskalation mit Methode

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Erst Unruhen in Jerusalem, jetzt ein handfester Schlagabtausch zwischen Israel und der Hamas. Die Ereignisse in Scheich Jarrah sowie am Tempelberg lieferten den im Gazastreifen regierenden Islamisten den Vorwand, um wieder einmal ihre Raketen auf Israel abzufeuern. Doch die aktuelle Runde unterscheidet sich grundlegend von allen vorangegangenen in diesem Konflikt.

Von Ralf Balke

Die Nachrichten überstürzten sich in den vergangenen zwei Tagen. Am Montag hatte die Hamas ein Ultimatum verkündet: Israel solle bis 18 Uhr Ortszeit alle Sicherheitskräfte vom Tempelberg abziehen, ebenso aus dem Viertel Scheich Jarrah. Anderenfalls würde man Ziele in Israel angreifen, was dann auch prompt geschah. Seither feuerten die im Gazastreifen regierenden Islamisten über 1000 Raketen auf Israel. Zuerst geriet Jerusalem selbst ins Visier, daraufhin Sderot und später auch Aschkelon. Dort waren am Dienstag ebenfalls die ersten Toten zu beklagen: eine ältere Frau und ihre aus Indien stammende Pflegerin, die nicht rechtzeitig die Schutzräume erreichen konnten. Wie erwartet schlug die israelische Luftwaffe zurück, bombardierte die Infrastruktur von Hamas und Islamischen Jihad. In einer weiteren Eskalationsstufe dann setzte in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch der Beschuss von Tel Aviv ein, normalerweise eine rote Linie, die die Islamisten aus Furcht vor massiven Vergeltungsmassnahmen eher selten in der Vergangenheit überschritten. Ihre Taktik diesmal: möglichst viele Raketen gleichzeitig abzufeuern, um das israelische Verteidigungssystem „Iron Dome“ zu überfordern. In einigen Fällen gelang dies sogar, weshalb erstmals Holon, Givatayim sowie in Rishon LeZion von Geschossen getroffen wurden, wobei eine Frau getötet und mehrere dutzend Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Eine weitere Rakete traf die Kleinstadt Lod, wo ein arabischer Israeli sowie seiner Tochter ums Leben kamen.

Auf den ersten Blick gleicht vieles in dem aktuellen Schlagabtausch dem, was man aus den vorherigen Runden im Konflikt zwischen Israel und der Hamas kennt. Doch die Vorgeschichte ist diesmal eine ganz andere. Denn die Hamas hat die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage rund um den Tempelberg als auch den Immobilienstreit in dem Viertel Scheich Jarrah in Jerusalem als Anlass genommen, ihre Raketen auf Israel abzufeuern. Sich auf diese Weise in Vorgänge in Israel direkt einzumischen, ist definitiv ein Novum. Dabei verfolgen die Islamisten gleich mehrere Ziele: Durch ihre militärische Intervention will sich die Hamas zurück auf die politische Bühne katapultieren, um nach außen zu demonstrieren, dass sie die eigentlichen Beschützer der Heiligen Stätten auf dem Tempelberg sein können und man Israel seine Bedingungen diktieren kann.

Immer wieder war es in den vergangenen Wochen in Jerusalem zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gekommen, die ebenfalls eine komplizierte Vorgeschichte haben. Die ohnehin zu Ramadan stets angespannte Stimmung in der Stadt war eskaliert, weil palästinensische Jugendliche vermehrt Juden in der Altstadt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln angegriffen und beleidigt hatten. Diese physischen und verbalen Übergriffe wurden gefilmt und in den sozialen Medien geteilt, was wiederum eine ganz besondere Dynamik bekam – Stichwort „Tiktok-Intifada“. Zugleich lieferten sie den Neo-Kahanisten aus dem Lager der Religiösen Zionisten den Vorwand, ebenfalls in der Altstadt zu demonstrieren, wobei Parolen wie „Tod den Arabern“ gerufen wurden. Von der Polizei aufgestellte Sicherheitsabsperrungen am Damaskustor waren ein weiterer Anlass, warum es zu wütenden Protesten der Palästinenser kam, die sich dann mehrfach bis auf den Tempelberg selbst ausweiten sollten. Dabei wurden an der Klagemauer betende Juden regelmäßig mit Steinen beworfen, so dass die Sicherheitskräfte auch an Orten wie der al-Aksa-Moschee eingreifen mussten. Nachrichten von Tränengaseinsätzen sowie Bränden in den Heiligen Stätten des Islam gingen um die Welt.

All das lieferte genau die Bilder, die es brauchte, um die Stimmung nicht nur in Jerusalem unter den Muslimen weiter anzuheizen, kurzum Wasser auf den Mühlen der Propaganda der Hamas. „Nach unzähligen Protesten und Demonstrationen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir ohne Waffen unser Land nicht befreien, unsere heiligen Stätten nicht beschützen, unser Volk nicht in sein Land zurückbringen und unsere Würde nicht bewahren können“, so Mahmoud Zahar, einer ihrer Anführer, bereits Ende April. Die Entscheidung, Israel jetzt mit Raketen anzugreifen, war also keinesfalls eine spontane. Auch hatte die Hamas bereits in den vergangenen Wochen wiederholt das Umland des Gazastreifen mit Raketen beschossen, all das mit Hinweis auf die Ereignisse in Jerusalem. Doch nun ausgerechnet für den Montag ein Ultimatum zu stellen und dann sofort nach dem Verstreichen der Frist anzugreifen, hat eine große symbolische Bedeutung. Denn der 10. Mai war zugleich der Jerusalem-Tag, an dem Israel die Wiedervereinigung der Stadt nach dem Sechstagekrieg 1967 feiert. Mit einer solchen Wucht genau an diesem Tag zuzuschlagen, sollte eine Signalwirkung nach außen haben.

Selbstverständlich wusste die Hamas von Anfang, dass Israel entsprechend reagieren wird und im Gegenzug Ziele im Gazastreifen attackiert, weshalb es auch auf palästinensischer Seite schnell Opfer zu beklagen gibt. Doch diese „Märtyrer“ nimmt man gerne in Kauf, wird doch so die eigene Bereitschaft, sich der Sache in Palästina hinzugeben, noch einmal hervorgehoben. Und wenn Kinder darunter sind, hat man sogar ein paar Bilder, um die internationale Meinung gegen Israel weiter aufzubringen. All das kennt man bereits aus der Vergangenheit. Zugleich hat sich aber die Hamas in dem seit Jahren schwelenden Streit um die Führung unter den Palästinenser mit der Bereitschaft, sich auf diese neue Eskalationsebene mit Israel einzulassen, im wahrsten Sinne des Wortes in die Pole-Position gebombt. Mahmoud Abbas hatte gerade erst die für den Juli angesetzten Wahlen wieder abgesagt, zu groß war die Furcht des greisen Palästinenserpräsidenten, dass ihm die Islamisten den Rang ablaufen könnten. Nun ist er in dem aktuellen Konflikt dazu verdammt, allenfalls eine Nebenrolle zu spielen – schließlich hat jetzt allein die Hamas das Heft in der Hand. Und wenn dieser Tage hunderte von Palästinensern auf dem Tempelberg oder in der Altstadt Jerusalems „Wir sind alle Mohammed Deif“ – so der Name des Anführers des militärischen Arms der Hamas – skandieren und ihn auffordern, Tel Aviv dem Erdboden gleichzumachen, dann ist die Botschaft sehr klar.

Auch außenpolitisch soll Israel durch diese neue Konfrontation getroffen werden. Erst im vergangenen Jahr hatte man quasi in Serie Friedensabkommen mit mehreren sunnitischen Staaten abgeschlossen – sehr zum Entsetzen der Palästinenser. Denn die alte Formel, dass es eine Verständigung nur dann geben kann, wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückzieht und ein lebensfähiger Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt entstanden ist, schien ihre Gültigkeit verloren zu haben. In Ramallah und im Gazastreifen kam dies gar nicht gut an, man fühlte sich ausgebootet. Durch das gezielte Schüren der Konflikte rund um den Tempelberg und Scheich Jarrah will die Hamas vor allem Stimmung in den muslimischen Staaten machen, die nun diplomatische Beziehungen mit Israel pflegen – in der Hoffnung, dass es in Marokko oder Abu Dhabi angesichts der Ereignisse mehr als nur ein paar verbale Protestnoten gibt. Last but not least dürfte sich der Iran als Geldgeber und Waffenlieferant der Hamas und des Islamischen Jihads die Hände angesichts der Entwicklungen reiben, er ist auf jeden Fall der Profiteur davon.

Von einer ganz besonderen Dramatik aber sind derzeit die Reaktionen vieler arabischer Israelis auf die Entwicklung der vergangenen Tage. Offensichtlich haben die Raketenangriffe der Hamas bei ihnen einen Dammbruch bewirkt, dessen Folgen für die Zukunft man noch gar nicht einzuschätzen vermag. Die Tatsache, dass es in Akko, Lod und Ramle, allesamt von Juden und Arabern gleichermaßen bewohnten Städten, zu Ausschreitungen kam, bei denen nicht nur Fahrzeuge abgefackelt wurde, sondern ebenfalls Synagogen und mehrfach jüdische Israelis beinahe von einem aufgestachelten Mob ermordet worden wären, dürfte die innergesellschaftliche Kluft zwischen beiden Gruppen vergrößert haben. Zu stark werden die Eindrücke von den bürgerkriegs- und pogromartigen Ausschreitungen nachwirken. Ebenfalls fallen die Parteien der arabischen Israelis als Partner erst einmal weg. So hat Mansour Abbas, der bis vorgestern von beiden politischen Lagern heftigst umworbene Vorsitzende der islamistischen Ra’am, erklärt, dass er für weitere Gespräche vorläufig nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Und weil sowohl der „Bloß-nicht-Bibi-Block“ auf die Zustimmung von Ra’am angewiesen ist, um eine neue Koalition auf die Beine zu stellen, als auch der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, kann die Hamas von sich behaupten, die aktuelle Regierungsbildung in Israel erfolgreich torpediert zu haben – auch das ein Image-Gewinn.

Egal ob der Konflikt weiter eskaliert und sich womöglich auch noch die Hisballah einschaltet, was einem Worst-Case-Scenario gleichkäme, oder es dank der Vermittlung durch Ägypten und anderer Staaten in der Region bald zu einem Waffenstillstand kommen kann, bleibt Israel auch in der Zukunft mit dem Dilemma konfrontiert, wie man mit der Hamas und dem Gazastreifen umgehen soll. Sich auf irgendwelche Deals mit den Islamisten einzulassen, hat schon in der Vergangenheit nicht funktioniert, weil man auf diese Weise erpressbar wird – Raketen oder Zugeständnisse, würde die Drohung dann schnell heißen. Ein Einmarsch, um der Herrschaft der Hamas ein Ende zu bereiten, verbietet sich angesichts der immensen Opfer, die so ein Vorgehen mit sich bringen würde, ebenfalls. Überzeugende wie auch realisierbare Konzepte sind daher gefragt.

Bild oben: Jeder rote Punkt zeigt einen Luftalarm, der gestern Abend innerhalb einer halben Stunde ausgelöst wurde, Screenshot Red Alert Appl.