Nirgendwo mehr dazugehören

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Der autobiografisch geprägte Roman Ein Mann liest Zeitung erzählt die Geschichte des jüdischen Kaufmanns Leonhard Glanz aus Hamburg. Im Exil in der Tschechoslowakei zur Untätigkeit verdammt, verbringt er seine Zeit in Prager Kaffeehäusern mit dem Lesen von Zeitungen. Akribisch verfolgt er das politische Geschehen in der Tagespresse, und doch kann er sein eigenes Schicksal, das ihn in die Emigration trieb, nicht begreifen.

Erinnerungen an ein verlorenes Leben, Beobachtungen auf der Straße und Gedanken über das in der Zeitung Gelesene, die oft weit in die Vergangenheit weisen, verbinden sich zu einem dichten Panorama der dreißiger Jahre.

Atmosphärisch und präzise, klug und poetisch fängt Justin Steinfelds einziger Roman den Hexenkessel Europa am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ein. Ein großer, erst posthum erschienener Exilroman, der eine unerhörte Erfahrung zur Sprache bringt, die doch so viele traf und trifft: Die Erfahrung, nirgendwo mehr dazuzugehören.

Justin Steinfeld (1886–1970) war Journalist, Herausgeber einer Wochenzeitung und Mitbegründer eines Theaterkollektivs. Nach seiner »Schutzhaft« im Konzentrationslager Fuhlsbüttel gelang ihm 1933 die Flucht nach Prag, wo seine Artikel und Reportagen in diversen antifaschistischen Zeitungen erschienen. 1939 floh Steinfeld über Polen nach England, wo er bis zu seinem Tod 1970 lebte. 1984 wurde sein Roman Ein Mann liest Zeitung erstmals posthum veröffentlicht.

Justin Steinfeld: Ein Mann liest Zeitung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wilfried Weinke, Schöffling & Co. Verlag 2021, 528 S. inkl. 8-seitigem Bildteil, Euro 28,00, Bestellen?

LESUNG:

Frankfurt am Main (digital): Donnerstag, 18. März 2021, 19.00 Uhr
Der Herausgeber Wilfried Weinke stellt vor: »Ein Mann liest Zeitung«
Deutsche Nationalbibliothek digital
Deutsches Exilarchiv 1933-1945
Begrüßung: Dr. Sylvia Asmus
Lesung: Tomasz Robak
Die Lesung findet über GoToWebinar statt, die Teilnahme erfolgt über einen Link zur Veranstaltung.
Eintritt frei, Anmeldung hier.

LESEPROBE:

Ein Emigrant ist kein Emigrant. Irrtum. Ein Emigrant, zwei Emigranten, zehn Emigranten, alle Emigranten. Ein Emigrant sucht Schutz und Asyl in fremdem Land. Bitte sehr. Asyl sollst du haben. Wir nehmen dich auf. Nicht gerade am Herdfeuer. Wir leben nicht mehr in altersgrauer Zeit. Wir leben auch nicht mehr in der Zeit der guten Stube. Wir leben in der Zeit des Als-Ob.

Wir leben in der Zeit des Sports. Wir haben unsere politischen Parteien. Lasst die Parteien, damit sie sich in allzu ernste Regierungsgeschäfte nicht einmischen, ein wenig Fußball spielen. Die Emigration gibt einen guten Fußball. Den kann man treten. Die eine Seite der politischen Parteien sagt: Hinaus mit der Emigration. Im Namen der nationalen Erfordernisse. Die andere Seite sagt: Schutz der Emigration. Im Namen der Demokratie. Und dann geht das Spiel los, der Fußball wird hin und her getreten. Die Zeitungen ermuntern jeweils ihre Spieler. Das ist billig und schmutzt nicht. Feste! Feste! Die Nation ist in Gefahr! Die Demokratie ist in Gefahr! Ein Bravo unseren Stürmern. Sie haben die feindliche Verteidigung durchbrochen. Feste, feste! Schade. Ins Aus getreten.

Über dem Spielfeld brütet bleigrau der Himmel der Kriege. Nicht mehr der kommenden Kriege. Der bereits seienden. Einer löst den anderen ab. Peripheriekriege in Permanenz. Da zieht sich etwas Ungeheuerliches zusammen. Am Ende merken die Leute was und die öffentliche Meinung könnte sich beunruhigen. Los. Weiter. Spielen wir Fußball.

Gegen einen Emigranten, der eine Frau und zwei Kinder mit dem Verkauf von pergamentenem Butterbrotpapier zu ernähren sucht, hat der Verein der am Butterbrotpapierhandel beteiligten Hausierer protestiert. Die Nation ist in Gefahr. Wie, Sie sind auch ein Emigrant? Sie ruinieren auch unser Volk mit dem übertriebenen Butterbrotpapierhandel? Na, warten Sie. Wir werden Ihnen schon zeigen.

Jetzt versucht unser Mann es mit dem Verkauf patentierter Milchtöpfe, bei denen die Milch nicht überkochen kann. Aber wenn die Milch nicht überkochen kann, dann kann sie auch nicht anbrennen. Angebrannte Milch muss aber durch neue, gute Milch ersetzt werden. Also hebt das Anbrennen von Milch den Konsum. Und der Mann mit den patentierten Milchtöpfen schädigt also die Volkswirtschaft. Das ist doch logisch. Na, sehen Sie. So sind die Emigranten.

Der Mann sieht also nun eine Zeitlang mit an, wie Frau und Kind langsam verhungern. Aber er ist ein Mensch. Das darf man ja nicht vergessen. Eines Tages meint er, nicht mehr mit ansehen zu können, wie Weib und Kind verhungern. Da geht er hin und stiehlt. Eine versilberte Tabakdose oder einen neuen Pelzmantel. Es ist ja auch ganz egal, was. Jedenfalls stiehlt er. Alle Emigranten sind Diebe. Dazu sind sie hergekommen. Die Nation ist in Gefahr, von den Emigranten ausgeplündert zu werden. Das Zeitungsgeschäft blüht. Die Überschriften sind balkendick. Leonhard Glanz stiehlt silberne Pelzmäntel en gros. Ein Emigrant ist ein Emigrant.

(…)

Ein Emigrant ist kein Emigrant. Ein Emigrant sind alle Emigranten und wer weiß, Leonhard Glanz, wann du im Mittelpunkt eines freundlichen Idylls stehen wirst. Das hängt nicht von dir ab. Sondern davon, wohin der Fußball getreten wird.

Humanismus aber ist ein schönes Thema, um Bücher darüber zu schreiben. Und um Bücher über die Bücher zu schreiben, die über den Humanismus bereits geschrieben worden sind. Das erste ist der theoretische, das zweite der praktische Humanismus. Und darüber hinaus gibt es keinen. Es gibt nur reiche Leute, die an so vollbesetzten Tischen sitzen, das rechts und links Brocken herunterfallen, und die nichts dagegen haben, wenn die Hungrigen diese Brocken aufsammeln. Es gibt auch die Oberlehrer.

Es gibt auch Damen der Gesellschaft, die mangels Beschäftigung, weil sie zu bequem sind um Tennis zu spielen und vielleicht zu gescheit um mit Kartenspielen die Zeit zu ermorden, oder vielleicht, um ihre Komplexe abzureagieren, das heißt: die blödsinnigen Gedanken, die ihnen kommen müssen, weil sie keine Beschäftigung haben – vom Beruf gar nicht zu reden –, gibt es also Damen der Gesellschaft, die sich sozial betätigen. Das heißt, dass sie sich das Recht anmaßen, anderen Menschen für ein paar Notgroschen, die sie ihnen zuteilen, das Herz gründlich schwer zu machen.

»Ja meine Liebe, wenn Sie auch auf Ihren Tellern nichts drauf haben, so könnten die Teller doch sauber sein und nicht so verstaubt, nicht wahr?«

»Gewiss, es ist nicht leicht, mit fünf Menschen in einer einzigen Stube sitzen zu müssen. Aber wenn Sie nur hier einen kleinen Firlefanz an die Wand hängen, nicht wahr, dann sieht das Ganze doch gleich viel wohnlicher aus.«

»Einen herzigen Buben haben Sie. Wie heißt du denn, mein Bübchen? Das ist aber ein schöner Name. Nur ein Rotznäschen hast du. Das darf man aber nicht. Hast du denn kein sauberes Taschentuch? Nein? Na warte, wenn ich wieder komme, bringe ich dir Taschentücher mit.« Gedanke in Klammer: Ich habe da zu Hause noch alte Taschentücher, wo das Waschen kaum noch lohnt. Klammer zu. »Und ein bisschen dreckig bist du auch, mein Bübchen. Komm, soll ich dich einmal gründlich waschen? Ja, meine werte Frau, an Seife darf man nicht sparen. Seife ist der Maßstab unserer Kultur. Ich für meinen Teil könnte morgens meine Grapefruit nicht essen, wenn ich nicht vorher gebadet hätte.« Die all so Apostrophierte weiß nicht, was Grapefruit ist.

Und das wäre nun alles, was dabei herausgekommen ist. Dieses und der Mann der Dreiländer-Ecke.

Im Vertrauen: was ist eigentlich Humanismus? Wann ist man human und wann ist man humanistisch? Und humanitär? In der Schule sind wir nicht so weit gekommen. Es gibt so viele Fremdwörter auf der Welt. Und im Grunde nur so wenig Emigranten, aber die haben mit Humanismus nichts zu tun. Womit haben Sie denn zu tun? Die einen haben mit sich zu tun und nur mit sich. Und das ist ihre Sache und geht uns garnichts an. Und die anderen haben mit viel mehr zu tun. Etwa mit der Gesamtemigration? Einer für alle, alle für einen. Das wäre am Ende noch keine so große Sache. Der Fußball, keine so große Sache. Nur im Dritten Reich schlafen einige Leute schlecht, wenn sie von der Emigration träumen.

Leseprobe aus: Justin Steinfeld »Ein Mann liest Zeitung«. Herausgegeben von Wilfried Weinke © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2020. 

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