Ein jiddischer König Lear

0
52

Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten…

Diese Geschichte von Judith Heineman eröffnet unsere Sammlung jüdischer Storytellers. Es sind  Erzählkünstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt, die großzügig Texte und Videos ihrer Geschichten zu dieser Sammlung beisteuern. Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten als Storyteller aktiv, in der unglaublich aktiven und vielfältigen amerikanischen und internationalen Erzählszene bekannt und erfolgreich.

Zur englische Originalfassung dieses Textes gibt es auch ein Video von Judith Heineman.

Ein jiddischer König Lear

Von Judith Heineman, Storyteller

Als ich acht war, spielte ich das Schneewittchen, und der Prinz wollte mich einfach nicht küssen.

Ich lag da und wartete mit klopfendem Herzen. Psst! Kenny! Du musst mich küssen! JETZT!

Ich lag da und wartete… auf einer schmalen, harten, hölzernen Bank im Versammlungssaal, wo wir probten.

Ich wusste wahrscheinlich noch nicht, was das Wort „improvisieren“ bedeutet, aber ich wachte aus meinem vergifteten Schlummer auf und jagte Kenny Epstein, den schnuckligsten Neunjährigen im Ferienlager, um den Wunschbrunnen herum. Kenny Epstein, mein Prinz Charming, kam mir nicht ohne einen Kuss davon! Er küsste mich tatsächlich… auf die Wange!

Dies Schneewittchen-Spiel fand in einer Sommer-Feriensiedlung in Mountaindale im Staat New York statt, in den Catskills. Wir wohnten in dem kleinsten Bungalow mit einer verglasten Veranda, dem ersten Haus in einer langen Reihe von Bungalows, die sich den grasbewachsenen Hügel hinaufzog.

In jenem Sommer kümmerte sich mein Großvater um mich, Oscar Markowitz, der zu dieser Zeit 75 Jahre alt war. Meine Mutter arbeitete in der Stadt und kam an den Wochenenden zu Besuch. Ich war so aufgeregt nach der Probe, dass ich zurück zu unserem Bungalow rannte – wir aßen zuhause. Ich knallte mit der Verandatür und rief: „Grandpa, Grandpa, wenn ich groß bin, will ich Schauspielerin werden!“

Er wandte sich vom Herd zu mir, eine schwarz gewordene Bratpfanne in der einen Hand und ein Geschirrtuch in der anderen und sah mich nur an… mit einem ganz seltsamen Blick. Er sagte nichts. Und dann drehte er sich wieder weg, um mein Essen weiter anbrennen zu lassen.

An jenem Wochenende kam meine Mutter aus der Stadt, um mich als Schneewittchen zu sehen! Mein Haar hatte einen perfekten Pagenschnitt, mit einem blauen Band gebunden, ich trug eine Bauernbluse mit Puffärmeln und einen Dirndl-Rock. Und ich sagte: „Ma, Ma, wenn ich groß bin, werde ich Schauspielerin!“ und dachte dabei: „…auch wenn mich der Prinz nicht küssen mag!“ Und zwischen den Rauchwolken ihrer filterlosen Pall Mall Zigarette sagte sie: „Schauspielerin? Warum willst du Schauspielerin werden? Davon kann man doch nicht leben. Vergiss diese Narrischkeit und suche dir etwas Praktisches aus, mit dem du versorgt bist… zum Beispiel Lehrerin! Kusine Jenny war Lehrerin, zu Zeiten der Depression, und ihre Familie musste nie hungern. Also werde Lehrerin und vergiss diese Dummheiten!“

Nun, irgendetwas davon muss zu mir durchgedrungen sein, denn ich wurde tatsächlich Lehrerin, eine Lehrerin für Englisch und Journalismus an der Washington Irving High School am Gramercy Park, nahe East und West Village, in der großen Zeit der Off-Broadway- und Off-Off-Broadway-Bewegung.

So unterrichtete ich also untertags und trug dabei „Backstage“, die Casting-Zeitung mit den Besetzungsanzeigen, unter meinem Arm. Und ich hatte tatsächlich Auftritte – an den seltsamsten Orten. Ich trat damals in Schaufenstern auf, in Kunstgalerien, schwarzen Kästen und Kellerräumen. Und ich sagte mir immer wieder: „Warum? Warum mache ich das? Warum bin ich so besessen davon, wie von einem Dybbuk oder anderem bösen Geist, der mich am Genick packt und nicht loslässt? Ich habe doch keine Vorbilder, niemand in meiner Familie ist Schauspieler, also warum mache ich das?“

Und trotzdem war ich da, in Downtown New York, an der Lower East Side, auf dem Weg zu Ruth Malaczek’s Unter-Kellergeschoss-Experimentierbühne, und da traf es mich wie ein Schlag! Mein Fuß erstarrte auf der Treppe. Wie konnte ich es nur vergessen? Wie konnte ich nur vergessen, dass Oscar Markovitz, der mit dem angebrannten Mittagessen, mein Vorbild gewesen war. Mein Großvater war nicht immer Oscar Markovitz, Er war Ascher Marcu, ein Schauspieler! Ein Schauspieler im Jiddischen Theater in Rumänien. Wie konnte ich das nur vergessen?

Und in diesem Augenblick kam seine Stimme wie eine Flut zurück zu mir und er sang für mich mit Stentor-Stimme in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dann erinnerte ich mich. Er sagte, er sänge den König Lear, auf Jiddisch. Er war ein Schauspieler, und er muss ein sehr guter Schauspieler gewesen sein, denn die Bankiersfamilie Rothschild, die in allen Hauptstädte Europas im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielte, bezahlte seiner Schauspieltruppe die Flucht aus Rumänien, damit sie in allen europäischen Städten spielen konnte, bevor sie nach Amerika kam. (Das war vermutlich einer der ersten Fälle eines großzügigen Kultursponsors, und wir wissen alle, wie schwer es ist, heutzutage Geld für Kultur locker zu machen!)

Also musste er wirklich ein sehr guter Schauspieler gewesen sein, um eine Europareise finanziert zu bekommen. Aber es ging nicht um eine internationale Tournee. Nein, die Rothschilds halfen diesen jüdischen Schauspielern, der religiösen Verfolgung zu entkommen, der Armut und den blutigen Pogromen, die Rumänien und ganz Osteuropa Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts heimsuchten. Natürlich ging es um die staatlich geförderten rassistischen Gewaltakte, aber auch um die fehlende Zukunft, denn die Gesetze schlossen jüdische Kinder von gleichen Bildungschancen aus. Politische Rechte hatten nur Nichtjuden, ein beruflicher Aufstieg war nahezu unmöglich. Über Nacht sah er, wie mehr als vierzig Prozent der jüdischen Arbeiter arbeitslos wurden.

Aber dennoch – alles, was ihm vertraut war, zurücklassen für eine ungewisse Zukunft?

Wie konnte ich das vergessen? Wie konnte ich seine Stimme vergessen, wie sie den König Lear sang?

Das war nicht Shakespeare’s King Lear. Das war Abraham Goldfadens King Lear, das war ein schuldiger King Lear, das war ein leidender König Lear, das war ein jüdischer König Lear.

Zu jener Zeit, wenn die Einwanderer ins Theater gingen, taten sie das nicht, um sich zurückzulehnen und unterhalten zu werden. O nein! Es war ein Tempel des Lernens, Es diente der Erziehung. Die Familien schleiften ihre Kinder ins Theater und sagten zu ihnen: „Schaut, schaut, wie der Mann auf der Bühne leidet! Schaut, wie seine Kinder ihn im Stich lassen! Das ist es, was ihr uns antut, ihr undankbaren amerikanischen Kinder der ersten Generation! Wenn ihr doch nur lernen würdet, uns zu respektieren und die alten Traditionen wie früher hochzuhalten…“

Seine Schauspielerei war seine Leidenschaft, und sie war seine Rettung. Er schaffte es nach Kanada. Als er fünf Dollar in der Tasche hatte, erlaubte man ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten.

Mein Großvater sang für mich in einer Sprache, die ich nicht verstand. Er erzählte mir von den Adlers und den Schiffs, und einem Jungen namens Muni Weisenfreund, der einen Krepp-Bart anklebte und das Publikum überzeugte, dass er ein Mann in den Achtzigern war. Später wurde er der berühmte Filmstar Paul Muni.

Dann traf mein Großvater an der Lower East Side eine Landsmännin aus der alten Heimat und sie verliebten sich. Sie hieß Dora und stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, anders als diese neue Kolossalfigur im Hafen von New York, die mit ihrer Fackel das Goldene Tor beleuchtete, und an der mein Großvater auf seinem Weg zur Second Avenue vorbeikam. Die Lower East Side in der Blütezeit des Yiddish Theatre!

Doras Füße standen auf keinem poetischen Podest. „Papa, Papa. Das ist Asher Marcu und er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will. Er… er ist ein Schauspieler! Ein sehr guter Schauspieler, ein Schauspieler im Yiddish Theatre.“

Ihr Vater spie Flüche auf Jiddisch aus und sagte: „Meine Tochter heiratet keinen Schauspieler! Ein Schauspieler ist ein Ganew, ein Gauner, das Allerletzte. Sag ihm, er soll etwas Respektables machen, etwas Praktisches, auf das man sich verlassen kann, und diese Narrischkeit vergessen, wenn er dich heiraten will.“

Wie konnte er sich da entscheiden? Seine Schauspielerei hatte ihm das Leben gerettet. Wenn er sie heiratete, würde König Lear sich zum Schweigen bringen lassen? Ein Leben mit Dora hingegen versprach etwas Anderes – eine neue Familie, die einzige, die er in der Neuen Welt haben würde.

Was sollte er tun? Alles schlucken? Sein Schauspielen für diese Frau aufgeben?

Er lenkte ein und gab diese „Narrischkeit“ auf. Er wurde ein respektabler und oftmals arbeitsloser Malermeister. Er war kein gewöhnlicher Hausmaler, so viel war sicher. Er vergoldete Kassettendecken und machte wunderschöne Schablonenzeichnungen mit der Hand:

Er schmückte die Träume der anderen aus
Während die Pläne für seine eigenen
Zerfetzt herumlagen
In einer Sammelmappe in Sienabraun
Ein Stilleben
Ungerahmt
Mit gefälschten Signaturen.

Und er war für den Rest seines Lebens bitter und frustriert. Außer, wenn er mir etwas vorsang in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich saß dann auf seinem Knie und er wurde wieder ein junger Mann von neunzehn im Jahr 1900, ein ganzes neues Jahrhundert vor sich, das ihm alles versprach, was er sich vorstellen konnte. Er saß dabei auf seinem Thron, einem Sessel, bezogen mit grauem Brokat und mit Fransen am unteren Ende.

Seine Brust hob sich, seinen Kopf hielt er aufrecht, während er da saß und Hof hielt, in seinem mietgebundenen Apartment im 3. Stock in der Bronx. Und seine Hände, ruhig, auch noch mit über 90, mit kräftigen Fingern, die in ungewöhnlich mondförmigen Nägeln endeten, die Hände hoben sich in die Höhe, während er Verwünschungen zum Himmel sandte und in einer Sprache sang, die ich nicht verstand.

Er sang sich all den Schmerz, alles Leid des König Lear aus der Seele.

Ich wusste wohl nicht, was jedes Wort für sich bedeutete. Aber sein Lied singt immer noch in mir in einer „Mame-Loschen“, einer Muttersprache, die keiner Übersetzung bedarf.

Übersetzung: Moira Thiele

Zu Judith Heineman
Zur Sammlung „Treasures from Jewish Storytellers“

Bild oben: Szene aus „Der Yidisher Kenig Lir“, Foto: The National Center for Jewish Film