Aufklärungsresistent

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Die zweite Welle der Pandemie hat Israel noch voll im Griff. Vor allem unter den Ultraorthodoxen geht das Virus weiter um. Dennoch ignorieren viele von ihnen alle Maßnahmen zur Eindämmung der Krise. Genau deshalb drohen positive Lockdown-Effekte schnell wieder zu verpuffen…

Von Ralf Balke

Erst einmal die guten Nachrichten. Nachdem über Wochen hinweg das israelische Gesundheitsministerium fast täglich Rekordzahlen vermelden musste, scheint es langsam aber sicher eine Trendwende zu geben. Am Mittwochmorgen gab es „nur“ 2.255 registrierte neue Corona-Fälle. Zum Vergleich: Ende September waren es an einem Tag sogar mal 9.066. Ein weitere Entwicklung, die ein wenig hoffen lässt: Der Anteil der Personen, die sich haben testen lassen und als COVID-19-positiv erwiesen, sank von rund 15 Prozent auf zuletzt 5,4 Prozent. All das scheinen Indikatoren dafür zu sein, dass der strikte Lockdown, der pünktlich zu den Hohen Feiertagen Mitte September verhängt wurde, erste Wirkung zu zeigen beginnt. Bleiben die Zahlen für einen gewissen Zeitraum im Bereich um die 2.000 Fälle und möglichst darunter, werden die Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der allermeisten Israelis in den vergangenen Wochen massivst eingeschränkt hatten, sukzessiv bald gelockert.

Wann genau und in welchen Ausmaß das geschieht, darüber streiten die Verantwortlichen noch. Denn das sogenannte Corona-Kabinett, das aktuell die Geschicke des Landes bestimmt, hat den Lockdown erst einmal bis Sonntag verlängert. Am Donnerstag wollen die Minister aber bereits darüber beraten, was danach wieder möglich sein könnte, beispielsweise die Öffnung von Restaurants, die Take-Away-Mahlzeiten anbieten, Kindergärten oder kleine Geschäfte, die keinen Kundenverkehr haben – alles jedenfalls abhängig davon, wie sich jeweils die aktuellen Zahlen über die Sterblichkeit im Kontext mit dem Virus entwickeln. „Die Experten betonen, dass die Entscheidung, den Lockdown zu lockern und die schrittweise Wiedereröffnung zu ermöglichen, eine definitive und kontinuierliche Reduzierung der Morbidität als Grundvoraussetzung erfordert“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. „Um dies zu erreichen, sind zusätzliche Tage erforderlich.“

Einen Strich durch die Rechnung könnte ihnen aber das Verhalten einer Bevölkerungsgruppe machen, die bereits in der ersten Welle der Pandemie wenig Bereitschaft gezeigt hatte, Maßnahmen mitzutragen und sich selbst sowie andere zu schützen, und zwar die Haredim. Denn einige Rabbiner unter den Ultraorthodoxen hatten ihre Anhängerschaft im September dazu aufgefordert, sich nicht länger testen zu lassen. Die schlichte Logik dahinter lautet: Je weniger sich dieser Prozedur unterziehen, desto geringer die Fallzahlen und um so unwahrscheinlicher, dass die Behörden den Betrieb in Synagogen oder Yeshivot mit Auflagen einschränken, geschweige die Einrichtungen schließen. Vor allem Rabbi Haim Kanievsky fiel mit derartigen Aufrufen in der Vergangenheit auf. Mehrfach gab er die Order aus, keine Tests machen zu lassen, weil ansonsten die vielen positiven Resultate dazu führen würden, dass Torah-Studien unterbrochen werden, was er als das weitaus größere Übel als die Pandemie betrachtete. Dafür wurde er im September von Ronni Gamzu, dem Corona-Beauftragen der Regierung scharf kritisiert, woraufhin es einen heftigen Schlagabtausch zwischen den Haredim und Gamzu darüber gab, ob es bei alledem nur um ein Missverständnis handeln würde oder nicht.

Doch egal, wer Recht hat, Fakt ist, dass sich ein auffällig hoher Anteil der positiv Getesteten aus dem Kreis der Ultraorthodoxen rekrutiert, die rund zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung Israel repräsentieren. Laut Professor Eran Segal, einem Experten vom Weizmann Institut, „stammen 46 Prozent aller mit COVID-19-angesteckten Personen aus dem Umfeld der ultraorthodoxen Gemeinden“. Mittlerweile zählt auch Kanievsky dazu. Bis dato zeigte der 92-Jährige einen relativ milden Krankheitsverlauf. Der 68-jährige Rabbi Zvi Elimelech Halberstamm aus der Belzer-Sekte, den es ebenfalls erwischen sollte, hatte dagegen nicht so viel Glück. Er muss bereits künstlich beatmet werden. Und auch Rabbi Yissacher Dov Rokeach, ebenfalls ein Belzer, brauchte nach seinem Besuch auf der Hochzeit seines Enkels vor einigen Wochen, bei der selbstverständlich mehrere hundert Personen anwesend waren, einige Zeit eine medizinische Rund-um-Betreuung, übrigens in den eigenen vier Wänden. Denn einige Sekten unter den Haredim trauen den israelischen Krankenhäusern nicht oder lehnen sie ganz ab und haben deshalb ein eigenes Versorgungssystem aufgebaut, das nach eigenen Angaben über 220 Beatmungsgeräte verfügen soll.

Doch offensichtlich hinterlässt die Erkrankung auch solch prominenter Rabbiner wenig Eindruck. So hatte Rabbi Moshe Sternbuch, Oberhaupt des Rabbinergerichts der antizionistischen Edah Haredit-Gruppierung, Anfang Oktober, also genau zu dem Zeitpunkt, als die Fallzahlen ihren Höhepunkt erreichten, folgende Botschaft für seine Anhängerschaft parat: „Fürchtet Euch nicht vor den Behörden, die Synagogen müssen geöffnet bleiben. Habt keine Angst vor einer Verhaftung, im Gegenteil! Auch ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen.“ Sternbuch und die Edah Haredit-Leute waren gewiss kein Einzelfall. Zu Sukkot konnten Beobachter in Meah Shearim, Beni Brak oder anderen überwiegend von Haredim bewohnten Kommunen unzählige Laubhütten sehen, in denen gleich dutzende Menschen, gerne auch ohne Gesichtsschutz, zusammenkamen – von Abstand halten, keine Spur.

Als am 5. Oktober in Ashdod Rabbi Mordechai Leifer, ebenfalls an Corona erkrankt und verstorben, zu Grabe getragen wurde, kamen aus dem ganzen Land rund tausend Haredim zu seiner Beerdigung angereist. Die wenigen Polizisten, die einzugreifen versuchten, wurden von den Trauergästen angegriffen und als Nazis beschimpft. Gleiches geschieht Sicherheitskräften auch sofort, wenn sie beispielsweise in Bnei Brak oder Mea Shearim unterwegs sind, um die Lockdown-Regeln wenigstens im Ansatz durchzusetzen. Dann laufen Kinder durch die Straßen, rufen „Nazi, Nazi“, um die Erwachsenen in Synagogen oder Yeshivot so zu warnen. Sofort fliegen Gegenstände und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Und den Interventionen der aschkenasich-orthodoxen Partei Vereinigtes Torah-Judentum ist es zu verdanken, dass die Entscheidung für den Lockdown so lange verschoben wurde, bis es nicht mehr ging. Deshalb sind zahlreiche Israelis außerhalb der ultraorthodoxen Communities reichlich verärgert. Sie fragen nicht zu Unrecht, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung früher ergriffen worden wären.

Die Haredim dagegen lassen sich von solcher Kritik kaum beeindrucken. Yitzhak Pindros, Knesset-Abgeordneter der Partei Vereinigtes Torah-Judentum, beispielsweise behauptete, dass die Bilder in den Medien über randalierende Haredim ohne Gesichtsmaske der Regierung einen Sündenbock für ihr eigenes Versagen in der Coronavirus-Krise quasi auf dem Tablett geliefert hätten. „Es ist ein beliebter Sport in Israel – wann immer etwas schief geht, schiebt man es den Haredim in die Schuhe.“ Vielmehr sei die traditionelle Lebensweise der Ultraorthodoxen und nicht die massenhafte Ignoranz gegenüber den Vorschriften der Grund, warum das Virus diese Bevölkerungsgruppe in Israel so besonders hart treffen konnte. Viele hätten sich an die Regeln gehalten, im Freien gebetet und die Synagogen selbst an den heiligsten Tagen gemieden. Zudem würden auch ihre beengten Lebensverhältnisse eine Verbreitung des Virus beschleunigen.

Doch auch einige Ultraorthodoxe sehen das Verhalten in ihrem Umfeld nicht unkritisch, vor allem deshalb, weil es nur einzelne Sekten waren, die offen zum Ungehorsam aufgerufen hatten. „Für Rabbiner, die mit den Behörden kooperierten und versprochen hatten, dass sie die Situation im Griff hätten, wird das selbst in Jahrzehnten noch eine schwere Hypothek sein“, meint Meshi Zaav, einer der Gründer von Zaka, einer staatlich anerkannten Organisation, die nach Unfällen oder Terroranschlägen Hilfe leistet, in dem sie die Leichenteile einsammelt. „Die Säkularen können nun sagen: >Ihr habt die Krankheit verbreitet<.“ Einige Gruppierungen unter den Ultraorthodoxen hätten versucht, eine Herdenimmunität zu erreichen, in dem sie die Jüngeren eng gedrängt in den Yeshivot weiter studieren ließen, bis man dann merkte, dass das Virus ja auch die Älteren anstecken würde. Andere dagegen, vor allem die radikal antizionistisch eingestellten, suchten gezielt die Konfrontation mit dem Staat, den sie ablehnen.

Und weil sich ebenfalls die Verantwortlichen in der Regierung davor drückten, die Vorschriften in Meah Shearim oder Bnei Brak auch wirklich durchzusetzen, fühlten sich die Sicherheitsbeamten ebenfalls im Stich gelassen. „Die Regierung spricht immer nur mit den Rabbinern – und sie hören ausschließlich auf das, was sie ihr sagen“, so ein namentlich ungenannter Polizist in der Financial Times. „Sie spuken auf uns, werden gewalttätig und schmeißen mit Eiern nach uns oder beschimpfen uns als Nazis – aber wenn sie dann unsere Hilfe brauchen, werden sie plötzlich ganz freundlich. So sollte es aber nicht sein.“

Auch darf es nicht geschehen, dass die Ignoranz der Ultraorthodoxen das ohnehin chronisch personell und finanziell mau ausgestattete Gesundheitswesen weiter an die Belastungsgrenzen bringt. Für 1000 Israelis gibt es gerade einmal 2,2 Krankenhausbetten, rund ein Drittel weniger als der OECD-Durchschnitt. Und abseits der großen urbanen Zentren sieht es noch finsterer aus, bereits jetzt werden Abteilungen für Innere Medizin dicht gemacht, weil entweder das Pflegepersonal fehlt oder selbst mit COVID-19 infiziert wurde, oder aber in Corona-Patienten-Aufnahmestationen umgewandelt wurden. Die Aufklärungsresistenz der Haredim ist also nicht nur für Personen aus ihren eigenen Gemeinschaften eine Gefahr, sondern für alle Israelis.

Bild oben: Screenshot Ynet, Auseinandersetzungen zwischen Haredim und Polizeikräften am 7.10.2020