Lockdown – zweite Runde

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Täglich neue Rekordzahlen in Israel. Die grassierende Coronavirus-Pandemie zwingt die israelische Regierung dazu, pünktlich zu den Hohen Feiertagen weitreichende Maßnahmen zu beschließen, die das öffentliche Leben zum Stillstand bringen. Ob sich jeder daran hält, darf bezweifelt werden…

Von Ralf Balke

Reisen kann so schön sein. Genau deshalb wollte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seine Gattin Sara in wenigen Tagen in einem Privatflugzeug nach Washington aufbrechen, um dort den Friedensvertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu unterzeichnen. Alle übrigen Mitglieder der israelischen Delegation dürfen in einem gecharterten Flieger Platz nehmen. „Der Premierminister reduziert aufgrund der Coronavirus-Pandemie so weit wie möglich alle Kontakte“, hieß es dazu aus seinem Büro. „Der Flug nach Washington ist eine äußerst komplexe Angelegenheit, bei der es ebenfalls um den Schutz vor einer Infektion auf dem Flug oder in den Vereinigten Staaten selbst geht.“ Nach einem Sturm der Entrüstung ist Netanyahu umgeschwenkt und plant jetzt doch, mit der restlichen Delegation in einer El Al Maschine zu fliegen.

So oder so, andere Israelis werden es in nächster Zeit nicht ganz so komfortabel haben. Ihnen steht eine 14-tägige Ausgangssperre ins Haus, die wohl mit Rosh Hashana beginnen wird. Auch danach gelten weitere Restriktionen. So sollen alle Schulen und Kindergärten anschließend für noch einmal zwei Wochen geschlossen bleiben – das jedenfalls beschloss das sogenannte Corona-Kabinett am Donnerstagabend.

Die Gründe für diese drastischen Maßnahmen finden sich in den explosionsartig steigenden Infektionszahlen. Bereits zwei Tage hintereinander wurden mehr als 4.000 neue Fälle am Tag gemeldet, und damit so viele wie noch nie seit Ausbruch der Pandemie. In Relation zur Gesamtbevölkerung belegt Israel aktuell einen traurigen Spitzenplatz: In keinem anderen Land auf der Welt gibt es derzeit mehr Neuinfektionen. Insgesamt zählten die Behörden bis zum Freitagmorgen 146.542 Infizierte, von denen 111.539 als genesen gelten, 33.920 aktive Fälle, darunter 180 mit milden Symptomen und 489 mit einem schweren Krankheitsverlauf. Es wird damit langsam eng in Israels Krankenhäusern. 1.077 Israelis sind im Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion bereits verstorben. Mit anderen Worten: Die Situation in Israel ist längst außer Kontrolle geraten.

Die Regierung muss die angekündigten Maßnahmen noch offiziell am Sonntag bestätigen und erklären, wann nun genau welche Regeln gelten sollen. Die Rede ist von drei Phasen, die mit Beginn der Feiertage am 18. September alle Israelis betreffen dürften. In einer ersten wird es ihnen untersagt, sich weiter als 500 Meter von der eigenen Wohnung zu entfernen. Alle Behörden, Restaurants sowie Geschäfte und Firmen bleiben geschlossen, einzige Ausnahmen sind Supermärkte und Apotheken. Schüler ab der 5. Klasse sollen nur noch online unterrichtet werden. Wie es mit den Gottesdiensten zu den Feiertagen konkret aussehen wird, darüber liegen bis dato keine genauen Informationen vor. In einer zweiten Phase, die ab dem 1. Oktober gilt, wird nur die Bewegungsfreiheit zwischen den einzelnen Ortschaften und Städten untersagt, Veranstaltungen im Freien sind dann auf maximal 20 Anwesende beschränkt und in geschlossenen Räumen dürfen sich nicht mehr als zehn Personen aufhalten. In einer dritten und letzten Phase will man basierend auf einer „Ampel“ nach dem 15. Oktober von Fall zu Fall darüber entscheiden, in welcher Kommune Lockerungen möglich sind – oder eben das Gegenteil.

Abhängig sollen diese von den aktuellen Zahlen der Neuinfizierten, der Kranken sowie der im Zusammenhang mit Corona Verstorbenen pro 10.000 Einwohner nach diesem Datum sein. Der jeweilige Stand wird sich in einer Art Punktesystem widerspiegeln. Zeigt diese „Ampel“ ein „grün“, dann dürfen bis zu 250 Personen draußen und bis zu 100 in geschlossenen Räumen zusammenkommen, ist sie „gelb“ maximal 100 Personen im Freien und 50 indoor und bei „rot“ davon die Hälfte. Generell wird in Geschäften fortan nur noch eine Person auf jeweils vier Quadratmetern erlaubt sein, in Shopping-Malls, Nationalparks sowie den Heiligen Stätten eine auf sieben Quadratmetern. Für Restaurants gelten abhängig von Faktoren wie Fläche, Stand der „Ampel“ oder anderen Faktoren womöglich etwas flexiblere Regeln.

So weit, so restriktiv. Doch ob sich alle an diese Maßnahmen halten werden, das darf durchaus bezweifelt werden. Denn in den Kommunen mit einem hohen orthodoxen Bevölkerungsanteil regt sich dagegen Widerstand. Bereits in den vergangenen Monaten fiel diese Gruppe besonders auf, weil sie sich nicht an die Regeln halten wollte – oder auch konnte. Schließlich wohnen im Unterschied zu Tel Aviv oder Haifa die Menschen in Mea Shearim oder Bnei Brak zumeist dicht gedrängt bei- und miteinander. Oftmals müssen sich zehn-köpfige Familien zwei oder drei Zimmer teilen, was einen Lockdown in den eigenen vier Wänden schnell zum Alptraum macht. Auch in den Religionsschulen geht es eng zu, Abstandsregeln werden nicht eingehalten und der Mundschutz bleibt eher die Ausnahme. Auch stellen sich ihre Rabbiner immer wieder gegen die verordneten Maßnahmen, rufen sogar dazu auf, diese bewusst zu ignorieren. Erst vor wenigen Tagen forderte beispielsweise Rabbi Chaim Kanievsky, einer der wichtigsten Autoritäten der nicht-haredischen ultraorthodoxen Gruppen, Yeshiva-Schüler, die in Kontakt mit Infizierten geraten waren, nicht wie vorgeschrieben, unter Quarantäne zu stellen. Dadurch würde ihr Torah-Studium unterbrochen werden, was seiner Meinung nach die größere Katastrophe sei als die Pandemie und ihre Folgen. Zudem sprach er die Empfehlung aus, sich nicht testen zu lassen, weil auf diese Weise die offiziellen Zahlen niedriger ausfallen und Einschränkungen eher ausbleiben. Kein Wunder, dass nach Angaben von Ronni Gamzu, dem Coronavirus-Beauftragten der Regierung, bis zu 80 Prozent aller Neuinfektionen aus überwiegend von Orthodoxen bewohnten Ortschaften stammen. Ein Beispiel: Nach Tests in einer Religionsschule in Karmiel kam heraus, dass die Hälfte der 400 Schüler bereits COVID-19-positiv war.

Und so ist der Umgang mit der Pandemie zu so etwas wie einem Showdown zwischen Vertretern der Orthodoxie und dem Corona-Beauftragten mutiert. „Ich habe eine natürliche Autorität“, betonte Gamzu noch Ende August. „Ich war Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, ich kenne alle Politiker, ich kenne alle Minister. Ich kenne das gesamte Kabinett. Ich kenne alle politischen Fragen. Aber ich bin kein Politiker. Ich bin ein Profi. Auch würde ich sagen, dass ich 100 Prozent Autorität habe.“ Damit war aber schnell Schluss, als er über rund 40 Kommunen mit auffällig hohen Infektionszahlen einen Lockdown verhängen wollte. Am Ende kam nur eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 19 Uhr abends und 5 Uhr morgens heraus, deren Wirksamkeit von vielen Experten angezweifelt wurde. Auch gab es einen konkreten Grund. Yaakov Litzman, früher zuständig für das Gesundheitsressort und jetzig Wohnungsminister, drohte Netanyahu, dass seine Partei Vereintes Torah-Judentum die Koalition verlassen würde, wenn dieser Lockdown, der in erster Linie von Orthodoxen, aber auch von arabischen Israelis bewohnte Gemeinden betraf, durchgesetzt werde. Sein Pendant von der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei, Innenminister Aryeh Deri, tat es ihm gleich. Also pfiff der Ministerpräsident aus Angst vor dem Koalitionsbruch Gamzu zurück – nur gab es vor knapp zwei Wochen rund 2000 Neuinfektionen am Tag, jetzt sind es mehr als 4000.

Darüber hinaus erklärten die Bürgermeister einiger betroffener und überwiegend von Orthodoxen bewohnten Kommunen, dass sie alle Maßnahmen ignorieren würden. So fand beispielsweise in Beitar Illit der Beginn des Schuljahres am Anfang September statt, und das, obwohl es eine klare Anweisung gab, den Unterricht aufgrund der explodieren Infektionszahlen in genau diesen Orten ausfallen zu lassen. Andere erklärten, ähnlich handeln zu wollen. Die Verantwortlichen in den gleichfalls stark von der Pandemie in Mitleidenschaft gezogenen arabischen Kommunen dagegen zeigten volle Bereitschaft, mit den Behörden zu kooperieren.

Ein weiteres Thema war die geplante Einreise von 12.000 Yeshiva-Studenten aus den Ausland, die ursprünglich alle hätten einreisen dürfen. Genau das hatte zu Verstimmungen geführt, weil viele Israelis ihre Verwandtschaft aus Europa oder den Vereinigten Staaten seit März nicht mehr zu Gesicht bekamen, weil diese als Nicht-Israelis aufgrund der seit Ausbruch der Pandemie gelten Restriktionen nicht ins Land kommen durften. Dass nun für eine derart große Gruppe eine Ausnahme gemacht werden sollte, nur um die Orthodoxen nicht weiter zu verärgern, war schwer vermittelbar. Daran änderte auch die Tatsache wenig, dass diese Zahl auf 4.000 reduziert wurde. Streit gab es ebenfalls, weil Gamzu an Volodymyr Zelensky, Präsident der Ukraine, die Bitte gerichtet hatte, die jährliche Pilgerfahrt zehntausender Chassidim an das Grab von Rabbi Nachman in das ukrainische Uman zu unterbinden. Zahlreiche Rabbis beschimpften den „Corona-Zar“ daraufhin als einen Antisemiten.

Ähnliches Ungemach dürfte Gamzu auch jetzt drohen. „Sie wollen doch nur einen Lockdown zu den Hohen Feiertagen, damit die Menschen nicht beten können“, beschuldigte ihn vor wenigen Tagen bereits Litzman, der sich während der ersten Welle im Frühjahr als Gesundheitsminister an die Verordnungen seines eigenen Ministeriums nicht halten wollte, trotz des Verbots eine überfüllte Synagoge besuchte und daraufhin COVID-19-positiv war. „Wir werden das nicht zulassen.“

Aber auch Nicht-Orthodoxe könnten sich als Regelverweigerer erweisen. „Sollten Sie Pläne für die Hohen Feiertage haben, ist es eine Schande, dass sie diese nicht erst zuvor mit Deri und Litzman abgesprochen hatten“, lästerte Avigdor Lieberman von der säkular ausgerichteten Israel-Beitenu-Partei. „Weil die orthodoxen Parteien wütend werden könnten, lautet Netenyahus Alternative dazu ein genereller Lockdown von Rosh Hashana bis zum Ende von Sukkot.“ Deswegen bezeichnet er die beschlossenen Maßnahmen allesamt als illegal. „Folgt ihnen einfach nicht – das wäre Common Sense“, so Liebermans Appel. Wie sich die Infektionszahlen in nächster Zeit entwickeln werden, ist schwer vorhersehbar. Doch eines ist jetzt schon gewiss: Die kommenden Wochen dürften turbulent werden. Von Feiertagsstimmung ist wenig zu spüren.

Bild oben: Ein Mitarbeiter von Magen David Adom im Corona-Schutzausrüstung, (c) Talmoryair, wikicommons