„Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“

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Das erschütterte Leben der Sintiza Martha Guttenberger aus Ummenwinkel…

Martha Guttenberger seligen Angedenkens wurde 1921 in Önsbach/Achern in einem Wohnwagen geboren. Mit ihrer elterlichen Familie war sie in der warmen Jahreszeit immer auf der Reis‘. So konnte die musikalische Familie ihren ambulanten Gewerben nachgehen. Sie war 21 Jahre alt, als Stuttgarter und Karlsruher Kripo und Mosbacher Polizisten sie mit ihrem dreijährigen Josefle von Dallau über Mosbach in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau einlieferten. Dort wurde sie von der SS unter anderem im Waisenblock eingesetzt, in dem Sintikinder und Romakinder unter schlimmsten Bedingungen litten, massenhaft umkamen und letzlich ermordet wurden.  Es folgten die KZs Ravensbrück, Schlieben und Altenburg.

Nach der Befreiung lebte sie jahrzehntelang mit ihrer Familie in zwei engen Zimmern einer maroden Baracke des vormaligen Ravensburger NS-Zwangslagers Ummenwinkel. Die Befreiung durch die Alliierten bedeutete aber kein Ende der Diskriminierung für Sinti und Roma durch die Mehrheitsgesellschaft. Zudem war Martha von Auschwitz gezeichnet, ihr Leben war in seinen Grundfesten erschüttert. Nachts kamen immer die Kinder von Auschwitz zu ihr. Oft lebte sie „in einer Welt, die wir nicht kennen“.

Die Überlebende hatte nur ein Ziel: immer für ihre Familie da zu sein, für ihren Mann, der ebenfalls Auschwitz überlebte, ihre Kinder und später ihre Enkel. Immer trug sie Sorge, dass genügend Essen da war.

Martha Guttenberger in den 80er Jahren im Schwarzwaldurlaub mit ihren Enkeln, auf dem linken Unterarm sieht man die eintätowierte Lagernummer von Auschwitz-Birkenau Z-5656, Foto: privat, aus dem besprochenen Band

Ihre Schwiegertochter Magdalena Guttenberger hat seit den 70er Jahren die Erzählungen ihrer Schwiegermutter Martha Guttenberger über ihre Verfolgungserfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus mitgeschrieben, Manuel Werner zeichnete ab 2014 Gespräche auf und recherchierte zu verschiedenen Aspekten des Lebens von Martha Guttenberger. Sie wollte, dass das ihr Widerfahrene nach ihrem Tod bekannt wird. So entschied sich Magdalena Guttenberger zusammen mit Manuel Werner und mit der Zustimmung ihres Mannes, die Erzählungen und Berichte schriftlich als Mahnung und Erinnerung für ihre Familie und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Sinti und Roma festzuhalten. Auch der Ravensburger Ummenwinkel kommt in diesem Buch zur Sprache, als der soziale Raum, in dem Martha, Magdalena, ihr Sohn Julius und die Enkelkinder mit anderen Familien zusammengelebt haben und sich mit den Schatten der Vergangenheit und unheilvollen Kontinuitäten auseinandersetzen mussten. Doch auch alle vorherigen Stationen des Lebens von Martha Guttenberger sind thematisiert.

Vieles ist neu erschlossen. Stets wird erkennbar, woher die jeweiligen Informationen und Erinnerungen kommen. Der authentischen wörtlichen Rede räumen die Autoren bewusst viel Platz ein. Bei den Tätern nennen sie Ross und Reiter. Sprachformen der verfolgten Sinti werden der Ausdrucksweise der Verfolger gegenübergestellt. Die Bildauswahl erfolgte reflektiert. Doch auch Armutsrezepte von Martha Guttenberger und der bis in den Schwarzwald reichende Raum, in dem sie bei Bauern ihre Kurzware verkaufte, kommen zur Sprache. Durch den Detailreichtum und die Konzeption des Buches werden von außen gegenüber Martha Guttenberger erstellte Einengungen wie „Bettlerin“, „Hausiererin“, „Landfahrerin“  ausgeweitet und aufgebrochen. Es wird durchweg ersichtlich, dass vielfach verwendete Begriffe wie „sozial schwach“ oder gar „asozial“ für finanziell schlechter Gestellte in keiner Weise angemessen sind, ja, dass auch diese Etikettierung in der NS-Zeit lebensbedrohlich war, umso mehr auch die als „Zigeunerin“ oder „Zigeunermischling“.

Die bewundernswert ausgeprägte Erzählkultur dieser Sintifamilie und anderer Sinti kommt ebenfalls zur Geltung. Mit großer Sorgfalt wurde eine ansprechende Buch- und Bildgestaltung gefertigt, die dem Leben von Martha Guttenberger würdig ist.

Marthas Schwiegertochter Magdalena Guttenberger und Manuel Werner setzen in dem umfangreichen Buch auf 412 Seiten und mit 160 Abbildungen zahlreiche Erinnerungsbilder gegen das allmähliche Versanden. Sie lassen ein vielschichtiges, exemplarisches und quellenbasiertes Lebenspanorama aus mündlicher Überlieferung und Hintergrundinformationen aufleben. So entstand die bislang umfangreichste Biographie einer Auschwitz überlebenden Angehörigen der Sinti und Roma.

Guttenberger, Magdalena / Werner, Manuel: „Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“ Das erschütterte Leben der Sintiza Martha Guttenberger aus Ummenwinkel, Norderstedt 2020, 412 Seiten, 160 Abbildungen, davon 19 farbig.
Broschierte Ausgabe (Softcover, Smartdruck): ISBN 978-3-7504-7043-9, 28 Euro
Gebundene Ausgabe (Hardcover mit Fadenbindung, Brillantdruck, Fotomatt-Papier): ISBN 978-3-7504-8217-3, 48 Euro
Auch als E-Book erhältlich: 9.99 Euro, ISBN-13: 9783750491649
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Magdalena Guttenberger (Jahrgang 1956) erstellte ab 1972 über Jahrzehnte handschriftlich die Notizen des von ihrer Schwiegermutter Martha Guttenberger Gesagten. Zudem stellte sie für dieses Buch Unterlagen der Familie zur Verfügung. Sie verschaffte Kontakte zu Zeitzeugen vor Ort und gab mit ihrem Mann Julius Guttenberger Junior den Anstoß und zahlreiche Auskünfte zu diesem Buch. Hierbei übermittelte sie den Hauptanteil der mündlichen Überlieferung. Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Schwiegermutter erfuhr sie allmählich, dass auch ihre Herkunftsfamilie vom NS-Völkermord an Sinti und Roma und der Verfolgung betroffen war. Magdalena Guttenberger ist Mitglied im „Rat für die Angelegenheiten der deutschen Sinti und Roma in Baden-Württemberg“ und im Vorstand des „Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg“. Zudem ist sie im „Arbeitskreis Sinti/Roma und Kirchen Baden-Württemberg“ sowie in der Gedenkarbeit vor Ort aktiv. Auch ihre Kompetenzen hieraus brachte sie in das Buch ein. Sie lebt bis heute in Ummenwinkel.

An Manuel Werner (Jahrgang 1958) richtete Familie Guttenberger im Jahr 2014 den Wunsch, den Willen von Martha Guttenberger in Form eines Buches umzusetzen. Er hörte zu und notierte ab da wortgetreu mit – wie Magdalena Guttenberger dies bei ihrer Schwiegermutter Martha gemacht hatte. Parallel erstellte er das Manuskript, recherchierte hierzu und machte die redaktionelle Bearbeitung, dies alles in sechsjähriger ehrenamtlicher Arbeit. Maßstab waren ihm die erfragten Vorgaben und Anliegen von Julius Guttenberger Junior und Magdalena Guttenberger. Wie Mitautorin Magdalena Guttenberger ist er im „Arbeitskreis Sinti/Roma und Kirchen Baden-Württemberg“ sowie in der Gedenkarbeit aktiv. Er schrieb Bücher und Artikel über lokale Schicksale verfolgter Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma in der NS-Zeit und thematisiert daneben auch Täter, Helfer und Trittbrettfahrer. Für einen Beitrag in der Stuttgarter Straßenzeitung Trott-war über einen slowakischen Rom wurde er 2015 von der Diakonie Baden-Württemberg mit dem Journalisten-Sonderpreis „Flucht und Migration“ ausgezeichnet.

Bild oben: Das letzte Foto von Martha Guttenberger, 2009, Quelle: aus dem besprochenen Band