Das Tagebuch eines Mitglieds des Sonderkommandos von Auschwitz ist erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Der Herausgeber der jiddischen Originalausgabe lebte 1945/46 als DP in Deutschland…
Von Jim G. Tobias
Im Mai 1945 wird dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde von Auschwitz, Chaim Wollnermann, von einem jungen Polen eine Blechbüchse zum Kauf angeboten. Er hatte sie auf dem Gelände des Krematoriums von Auschwitz gefunden. Der Inhalt: eng beschriebene Papierfetzen. Nach dem Wollnermann die ersten Zeilen gelesen hatte, war ihm klar, dass er ein einzigartiges Zeugnis in Händen hält.
Es sind die Aufzeichnungen von Salmen Gradowski (1910-1944), eines ermordeten Mitglieds des Sonderkommandos von Auschwitz: Funktionshäftlinge, die von den Nationalsozialisten gezwungen wurden, die Menschen in die Gaskammern zu führen und nach deren Vergasung die Körper zu verbrennen. Vorsichtig und aufs Äußerste gespannt betrachtet Chaim Wollnermann die Schriftstücke, die durch Schimmel und Feuchtigkeit kaum lesbar sind. Mit einer kaum auszuhaltenden Intensität offenbart sich ihm ein unvorstellbares Grauen, der Alltag in einer Mordfabrik. „Unsere Augen sind angeschmiedet, hypnotisiert von dem Meer toter nackter Leiber. Sie liegen umgefallen, einer in den anderen eingeflochten, eingedreht, wie zum Knäuel gebunden, als habe der Teufel vor ihrem Tod mit ihnen gespielt“, notierte der Chronist, kurz nachdem sich die Türen der Gaskammer geöffnet hatten. „Wie lang ist es her, wir haben sie noch vor Augen, die zappelnden lebendigen jungen Frauen und die Männer, in unseren Ohren klingen noch ihre letzten Worte.“ Trotz des erlebten unfassbaren Horrors, bemüht sich Gradowski den Leser zu schonen: „Ich übermittele Dir nur einen Teil, ein Minimum dessen, was sich in der Hölle Birkenau-Auschwitz abgespielt hat. Aber glücklich werde ich sein, wenn meine Schriften zu Dir gelangen, Du freier Bürger der Welt. Vielleicht wird ein Funken meines inneren Feuers in dir auflodern und Du wirst wenigstens einen Teil von dem erfüllen, was wir im Leben gewollt haben, und wirst Rache nehmen, Rache an den Mördern.“
Diese einzigartigen Notizen wurden zeitgleich und inmitten des Grauens geschrieben, es ist wie eine Liveübertragung aus Auschwitz – verfasst unter ständiger Lebensgefahr. Es stockt einem der Atem, wenn Gradowski lyrisch den Mond besingt, der „ruhig und versteinert das Jammern und Schreien“ der Unglücklichen anhört: „Die finstere Nacht, sie ist meine Freundin, das Weinen und Schreien, das ist mir Gesang, das Feuer, das die Opfer verbrennt, das ist mein Licht, die Todesatmosphäre, sie ist mir Wohlgeruch, die Hölle, das ist mein Heim.“
Nachdem Chaim Wollnermann die Aufzeichnungen gründlich geprüft hatte, verlässt er Polen. Er und seine Frau Jetti, die verschiedene Ghettos und Lager überlebt haben, wollen nach Palästina – im Gepäck Gradowskis Manuskript. Doch zu dieser Zeit ist eine Einwanderung in das damals noch von Großbritannien verwaltete Land nicht möglich. Das Paar schlägt sich in Richtung Westen durch und strandet in Lauf. In der fränkischen Kleinstadt hatte sich Anfang 1946 eine jüdische Gemeinde gegründet – Chaim Wollnermann wird zum Vorsitzenden der aus osteuropäischen Juden bestehenden kleinen Gemeinschaft gewählt. Von der US-Militärbehörde wird ihnen eine Villa zur Verfügung gestellt, in der sich das Häuflein der Shoa-Überlebenden treffen kann. Doch Lauf ist nur ein Wartesaal, alle wollen das Land der Täter verlassen. Chaim und Jetti Wollnermann gehen im Sommer 1946 nach München. Dort nimmt Chaim eine Stelle als Sekretär beim Oberrabbiner an, bis er ein Jahr später nach Palästina übersiedelt. Am Vorabend der Abreise wird dem Paar seine gesamte Habe gestohlen, auch die Originalblätter der Gradowski-Aufzeichnungen. Nur einige wenige handschriftliche Notizen, die sich nicht im Gepäck befanden, wie auch die inzwischen angefertigte Reinschrift, kann Wollnermann mit nach Palästina nehmen. Alle seine Versuche, Gradowskis Tagebuch dort zu veröffentlichen, scheiterten, sodass Wollnermann im Jahr 1977 die Aufzeichnungen unter dem Titel „Im Herzen der Hölle“ in der jiddischen Originalsprache als Privatdruck veröffentlichte.
Neben den von Chaim Wollnermann erworbenen Dokumenten wurden 1945 weitere Schriften von Salmen Gradowski auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz aufgefunden. Diese wurden 1969 in Warschau in einer polnischen Übersetzung veröffentlicht. Nun liegen beide Texte erstmals vollständig in deutscher Übersetzung aus dem jiddischen Original vor. Ein außergewöhnliches, authentisches und literarisches Dokument der Shoa.
Salmen Gradowski: Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, Berlin 2019, ISBN: 978-3-633-54280-2, 354 S., 25 €, Bestellen?