„Lassen Sie doch eine andere Ansicht gelten!“

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Thomas Anz erzählt das Leben von Marcel Reich-Ranicki…

Von Karl-Josef Müller

Sein Leben nennt Thomas Anz seine Biografie über Marcel Reich-Ranicki und verweist damit auf die 1999 erschienene Autobiografie des Literaturkritikers mit dem Titel Mein Leben. Überparteiliche Ausgewogenheit ist nicht die Sache von Anz, wie er in der Nachbemerkung seines Buches bekennt, denn geschrieben wurde es „mit viel Sympathie für die Person Reich-Ranicki und mit hohem Respekt vor seinen Leistungen“.

Bereits auf den ersten Seiten betont Anz die unauflösliche Verbindung zwischen der „Arbeit als Literaturkritiker“ und der „Geschichte seines sonstigen Lebens“: „Es ist eine in vielerlei Hinsicht exemplarische Geschichte des 20. und auch noch des 21. Jahrhunderts in Deutschland.“

Worin das Beispielhafte dieser Geschichte besteht, schildert Anz im Kapitel Judentum und Religion. Zur Religion, zumal zur jüdischen, hatte Reich-Ranicki ein mehr als kritisches Verhältnis; als Jude verstand er sich dennoch, dies aber, wie Anz vermerkt, aus Gründen, die nicht er, Marcel Reich-Ranicki, zu verantworten hatte: „Doch dass er sich fraglos als Jude begriff und dass er sich zeitlebens mit Problemen des Judentums auseinandersetzte, dafür sorgten andere.“ Wie eindimensional dagegen die Bemerkungen von Iris Radisch in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vom 2. Juni 2020 aus Anlass des einhundertsten Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki. Dort ist von dem „1958 in die Bundesrepublik übersiedelten jüdischen Kritiker“ die Rede; später dann bemerkt Radisch, dieser habe in seiner Jugendzeit die „jüdischen Kritiker Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Alfred Polgar und Karl Kraus“ gelesen.

Thomas Anz erwähnt zu Recht die „Befangenheit zwischen Juden und Nichtjuden“, der „zumal in Deutschland, niemand entgehen (…) konnte und kann“.

Und, ja, die anderen, von denen Anz spricht, es gibt sie immer noch, worauf die FAZ, ebenfalls anlässlich des einhundertsten Geburtstag ihres langjährigen Mitarbeiters Reich-Ranicki, hinweisen muss:

„Heute findet man – jenseits des schmalen Erinnerungsprogramms, das ARD und ZDF zu Marcel Reich-Ranicki senden – im Netz Aufzeichnungen des ‚Literarischen Quartetts‘ und anderer Sendungen mit ihm (etwa die Gespräche mit dem früheren SWR-Intendanten Peter Voß) bei Youtube und stößt dabei auf ein virulentes Problem der Internetöffentlichkeit. Wo immer Marcel Reich-Ranicki zu sehen ist, finden sich antisemitische Hetzredner ein und hinterlassen ihre Schmähungen.

Die Sympathie, die Anz Reich-Ranicki entgegenbringt, verdankt sich dem Umstand, dass Anz einige Jahre in der FAZ mit dem Literaturkritiker zusammengearbeitet hat. Im Jahr 2009 schilderte er sein Verhältnis zu Reich-Ranicki mit folgenden Worten: „Und Reich-Ranicki selbst erwies sich als viel freundlicher und umgänglicher, als es sein öffentlicher Ruf damals erwarten ließ. Er wurde zu einem väterlichen Freund und ist es bis heute geblieben.“ (https://literaturkritik.de/der-vor-100-jahren-geborene-literaturkritiker-marcel-reich-ranicki-zeitschrift-literaturkritik-de-mai-ausgabe-2020,26835.html)

Doch Anz belässt es nicht dabei, dem nunmehr verstorbenen Freund ein Denkmal zu setzen. Es gelingt ihm vielmehr, eine kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu präsentieren. Eine Kulturgeschichte zumal, die immer auch eine politisch-gesellschaftliche ist. Reich-Ranicki galt als nahezu unbarmherziger Kritiker und scheute sich nicht, Bücher namhafter Autoren wie Günter Grass oder Martin Walser negativ zu beurteilen – wenn es aus seiner Sicht dafür Gründe gab. Er beharrte auf seiner Sicht der Dinge und war immer bereit, seinen Standpunkt in der Diskussion zu verteidigen. Er wollte zur Widerrede reizen, damit die Leser und im Literarischen Quartett die Zuschauer sich ihre eigene Meinung bilden konnten. Doch diese Haltung wurde immer wieder missverstanden. Was er einmal im Literarischen Quartett von Helmut Karasek forderte, entsprach auch seinem eigenen Anspruch: „Lassen Sie doch eine andere Ansicht gelten!“

All das beschreibt Anz so anschaulich wie spannend; spannend vor allen Dingen deshalb, weil es ihm zu zeigen gelingt, wie arm die Literaturkritik der Bundesrepublik ohne Reich-Ranickis Stimme gewesen wäre.

Zudem regt die Biografie zur weiteren Lektüre an. Nur am Rande etwa erwähnt Anz die Autobiografie von Ruth Klüger mit dem Titel weiter leben, und zwar anlässlich einer „große(n) Besprechung“, die Klüger im Oktober 1999 von Mein Leben für die FAZ verfasst hatte: „Ihre eigene Autobiografie, weiter leben, hatte erst 1992 nach der Besprechung im ‚Literarischen Quartett‘ die verdiente Publizität erlangt.“

Dank Youtube kann man sich die damalige Diskussion nochmals in Erinnerung rufen (https://www.youtube.com/watch?v=Ip-0efN1dBo). Und dabei erahnen, welchen Schritt die Entscheidung für Marcel Reich-Ranicki bedeutet haben muss, wenig später seine eigene Biografie zu Papier zu bringen: „Bücher über Konzentrationslager und die Erlebnisse von Häftlingen lese ich sehr ungern. Ich will die Bücher nicht lesen. Ich habe zu viel in diesen Bereichen erlebt. (…) Ein literarisch außerordentliches Buch. Die Autorin wendet sich gegen das Wort erschütternd, man soll es nicht als erschütternd begreifen. Es hat mich nicht erschüttert, es hat mich ergriffen.“ „‘ganz ohne Pathos‘“ sei das Buch von Klüger geschrieben, bemerkte in der Sendung die Literaturkritikerin Sigrid Löffler – ein Urteil, das sich problemlos auf Reich-Ranickis eigene Autobiografie übertragen lässt.

Gegen Ende seines Buches rückt Thomas Anz dem hinfälligen Marcel Reich-Ranicki – fast möchte man sagen: bedenklich – nah: „Gespräche fielen ihm schwer. Mit ihm am Telefon oder in seiner Frankfurter Wohnung zu sprechen, zu verstehen, war er sagte und sagen wollte, wurde immer schwieriger. (…) Seine Sohn Andrew (…) nannte er in den Tagen vor dem Tod Olek. So hieß Reich-Ranickis Bruder, der von den Nazis umgebracht worden war. Die Schrecken der Vergangenheit bemächtigten sich wiederholt seiner Wahrnehmung der Gegenwart.“ An anderer Stelle heißt es, Reich-Ranicki habe Angst vor dem Sterben gehabt, garniert mit der Bemerkung, dann könne er ja die nächst Ausgabe des Spiegel nicht mehr lesen. Indem Anz den Lesern Marcel Reich-Ranicki in seiner Sterbensnot vor Augen führt, verweist er indirekt darauf, was die anderen in ihrer Unmenschlichkeit ihm vorenthalten wollten, wie sie es bei seinem Bruder und den vielen anderen Ermordeten getan haben: „Da war es gut zu sehen und zu wissen, dass er bis zuletzt Menschen um sich hatte, denen er vertraute, die er liebte, die sich rührend um ihn sorgten und die ihm das langsame Sterben leichter machten.“

Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki – Sein Leben. Mit zahlreichen Fotografien, insel taschenbuch 2020, 259 S., ISBN: 978-3-458-68108-3, Euro 12,00, Bestellen?