Namen, die nicht getilgt sollen werden

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Jiří Weil beschreibt in seinem gleichnamigen Roman das Leben mit dem Stern in Prag um 1942…

Von Karl-Josef Müller

Der Kater Tomáš kommt und geht, wann er will. Dem gewaltsamen Tod wird er nicht entgehen, sein Leben aber hat er sich von nichts und niemandem vorschreiben lassen.

Anders Josef Roubíček. Sein Tagesablauf wird von denen, die das Land gewaltsam beherrschen und ihm nach dem Leben trachten, so streng wie schikanös reglementiert. Wehmütig erinnert er sich an die kleinen und größeren Freuden seines früheren Alltags. Ein Besuch im Café, im Kino, und natürlich die Treffen mit seiner Geliebten Růžena. Ein bürgerliches Leben war das, nicht sonderlich aufregend, aber angenehm in seiner Privatheit.

Jiří Weil nennt die Besatzer nicht beim Namen, er spricht von „ihnen“; „sie“ sind es, die seinem Romanhelden das Leben zur Hölle machen. Leben mit dem Stern lautet der Titel des Werkes, in dem Weil eine ans Unmögliche grenzende Aufgabe zu bewältigen sucht, nämlich zu beschreiben, wie man sich fühlt in einer Welt, die von einem Tag auf den anderen keinerlei Sicherheit mehr gewährt. Verantwortlich sind ‚sie‘, die deutschen Besatzer, die mit bürokratischem Eifer dabei sind, all denen, die sie als Juden definieren, nicht nur ihre bürgerlichen Freiheiten, sondern, nach einer quälenden Wartezeit, auch das Leben zu nehmen. Der Autor weiß, wovon er in seinem Roman Zeugnis ablegt:

„1938 arbeitete Weil in den Sammlungen des Jüdischen Museums in Prag. Nach dem Münchner Abkommen 1938 organisierten Freunde für ihn seine Abreise nach England, wo seine ehemalige Kommilitonin Mica Weatherallová mit ihrem Mann lebte. Doch Weil konnte sich nicht rechtzeitig dazu entschließen, und nach der Okkupation der sog. ‚Resttschechei‘ durch die Deutschen 1939 war dies auch nicht mehr möglich. Fortan war Weil gezwungen, sich Georg Israel zu nennen, für Lebensmittelmarken und Zuteilungen anzustehen und in der jüdischen Gemeinde beim Sammeln von beschlagnahmten Gegenständen zu helfen.“ ((https://epub.ub.uni-muenchen.de/625/1/schutte-jiri-weil.pdf))

Ein – leider sehr kleines – Foto auf der Rückseite des Romans zeigt Jiří Weil mit seinem Kater Skunk. Schelmisch und liebevoll betrachtet der Autor seinen Gefährten, der sich auf seiner Schulter sichtlich wohl fühlt. Katzen führt man gewöhnlich nicht an der Leine, sie gelten als eigensinnig und so auch Tomáš in Weils Roman. Doch selbst ihm trachten ‚sie‘ nach dem Leben. Von einer Nachbarin erfährt Josef Roubíček, wie das Tier zu Tode kam: „‘Und wer hat ihn denn nun erschossen?‘ ‚Na, der Herr, der hier an der Straßenbahn wohnt, in der schönen Villa, und der immer in Uniform herumläuft. Darf denn heute ein anderer schießen als sie?‘“ Sie „hatten Thomas umgebracht, hatten ihn ermordet, so wie sie auch mich ermorden wollten.“ Dabei geht es ‚ihnen‘ nicht um Schuld, denn „sie hatten ihn getötet, weil sie das Recht hatten zu schießen, weil sie Gewehre hatten und sich langweilten, wenn sie niemanden töten konnten.“

Weil verzichtet in seinem Roman weitgehend auf die Schilderung physischer Gewalt, wie er überhaupt die Täter eher im Hintergrund belässt. Der Roman spielt etwa zur gleichen historischen Zeit und am gleichen Ort wie das später entstandene Werk Mendelssohn auf dem Dach, also um 1942 in Prag; allerdings taucht Weil seine Schilderungen diesmal in ein gleichnishaftes und parabolisches Licht, darin Franz Kafka verwandt, den der Autor in den zwanziger Jahren wohl persönlich kennengelernt hat. Es gilt, den Hilflosen, Ausgelieferten und Schwachen eine Stimme zu geben, und dies nicht, um zu klagen, sondern auch, um deren unverschuldetes Schuldigwerden zu beschreiben. Wobei sich selbstredend die Frage stellt, ob der Begriff der Schuld den Sachverhalt treffend benennt, von dem hier die Rede ist.

Denn jeder Widerstand gegen die Besatzer konnte unschuldige Opfer zur Folge haben, wie das Attentat auf Heydrich belegt. Thomas Mann kommentierte das Ereignis in einer seiner von der BBC regelmäßig ausgestrahlten Ansprache an die Deutschen Hörer: „Seit dem gewaltsamen Tode des Heydrich, dem natürlichsten Tode also, den ein Bluthund wie er sterben kann, wütet überall der Terror krankhaft-hemmungsloser als je. Es ist absurd und lässt wieder einmal den Ekel hochsteigen vor der Mischung aus Brutalität und kreischender Wehleidigkeit, die von jeher für das Nazitum kennzeichnend war […] Wohin dieser Mordknecht kam, floss das Blut in Strömen. Überall, auch in Deutschland, hieß er recht und schlecht ‚der Henker’ […] Nun also, er ist ermordet worden. Und wie nehmen die Nazis das auf? Sie stellen sich an, als sei die unfasslichste Missetat geschehen, der Menschheit Höchstes angetastet, die Krone, das Palladium entwendet […] Zu Hause wird ihm ein pomphaftes Staatsbegräbnis verordnet, und ein anderer Metzgermeister sagt ihm am Grabe nach, er sei eine reine Seele und ein Mensch von hohem Humanitätsgefühl gewesen.“ ((https://www.deutschlandfunk.de/mann-mit-eisernem-herzen.1184.de.html?dram:article_id=268424))

Spätestens bei der Ankunft in die Vernichtungslager sollten die Verfolgten nicht nur der Vernichtung, sondern auch dem Vergessen anheimfallen. Die eintätowierte Nummer sollte den Namen, Sinnbild für Einmaligkeit der einzelnen Person, ersetzen und vergessen machen. Deshalb kommt Jiří Weils Kunstgriff, die Täter nicht beim Namen zu nennen, eine besondere Bedeutung zu. Natürlich kennen wir alle diese Namen, und natürlich ist es unabdingbar, die Täter beim Namen zu nennen, um sie kenntlich zu machen. Die Kunst allerdings darf ihnen den Namen stehlen, so wie Yad Vaschem nach der Shoa den Opern die ihren zurückgegeben hat:
„‘Und ihnen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen („Yad Vashem“) geben … der nicht getilgt werden soll‘
(Jesaja 56, 5)

Als lebendiges Denkmal des jüdischen Volkes für den Holocaust bewahrt Yad Vashem die Erinnerung an die Vergangenheit und vermittelt ihre Bedeutung an kommende Generationen. Gegründet wurde Yad Vashem im Jahre 1953 als Weltzentrum der Dokumentation des Holocaust, seiner Erforschung und Lehre, sowie seines Gedenkens. Heute ist es eine dynamische und lebendige Begegnungsstätte für Menschen aller Generationen und Nationen.“ ((https://www.yadvashem.org/de/about/yad-vashem.html))

Wie die Bücher von Franz Kafka, wurde auch das Werk von Jiří Weil in der kommunistischen ČSSR der Öffentlichkeit zeitweise vorenthalten:

„1949 erschien der Roman „Život s hvězdou“ (Leben mit dem Stern), sein bemerkenswertestes Werk. Der Konflikt um den Roman führte 1951 zu Weils Ausschluss aus dem gerade gegründeten Schriftstellerverband sowie zu einem Publikationsverbot bis 1956. (…) Anfang der Sechzigerjahre schließlich erlebte das Werk von Jiří Weil eine Wiederauferstehung und bekam endlich die ihm gebührende Anerkennung. Um die Neuentdeckung Weils haben sich besonders Růžena Grebeníčková und Jiří Opelík verdient gemacht. 1964 kam es zu einer Neuauflage von „Život s hvězdou“, zu der wiederum Grossmann das Nachwort schrieb. (…) Nach 1969 durfte Weil weder verlegt noch über ihn geschrieben werden.“ ((https://epub.ub.uni-muenchen.de/625/1/schutte-jiri-weil.pdf))

Jiří Weil: Leben mit dem Stern. Aus dem Tschechischen von Gustav Just, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 256 S., 14,– € / E-Book 9,99 €, Bestellen?

Wir zitieren hier die ausführliche Arbeit von Andrea Daniela Schutte: DIE JÜDISCHE THEMATIK IM WERK JIŘÍ WEILS