Die Luft brennt

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Israel steckt mitten in der zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie. Dabei hat das Land die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des ersten Lockdowns noch gar nicht richtig verkraftet. Jetzt droht ein weiterer und immer mehr Israelis wissen längst nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen…

Von Ralf Balke

„Trinkt Kaffee, Bier und habt einfach Spass“, verkündete Benjamin Netanyahu Ende Mai noch euphorisch. Israel schien nach Monaten des Lockdowns die Coronavirus-Krise gemeistert zu haben. Schon recht früh im März hatte das Land sich weitestgehend abgeschottet, strenge Quarantäne-Vorschriften eingeführt und den Bewegungsfreiraum seiner Bürger drastisch eingeschränkt – mit großem Erfolg. Die Zahl der Infizierten hielt sich in Grenzen und im internationalen Vergleich musste man bezogen auf die Gesamtpopulation nur wenige Tote beklagen, die in Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion verstorben waren. Israel wurde weltweit als Vorbild genannt, wie man auf die Pandemie reagieren kann. Das hatte einerseits eine Menge mit der Effizienz der Maßnahmen zu tun, aber ebenso mit der Tatsache, dass Israelis es vielleicht eher gewohnt sind als andere, mit Krisensituationen umzugehen, die Bevölkerung im Durchschnitt jünger ist als anderswo und die Ausbildung der Ärzte sich auf allerhöchstem Niveau bewegt. Doch all das Erreichte wurde in kürzester Zeit wieder verspielt.

Zu schnell und planlos erfolgte die Rückkehr in ein „normales“ Leben. Schulen, in denen nicht selten weit über 30 Kinder in einem Klassenraum sitzen müssen, wurden geöffnet, sofort füllten sich Restaurant und Bars und manche Israelis ließen es wieder ordentlich krachen, vor allem auf Hochzeiten mit mehreren hundert Gästen aus dem ganzen Land. Und so sollte es keine drei Wochen dauern, bis das Virus sein Comeback feierte. Ständig ist von neuen Rekorden die Rede, und zwar im negativen Sinne: Von rund 16 Neuinfektionen am Tag Ende Mai stieg die Zahl innerhalb eines Monats auf über 200, um aktuell schon mal 1.700 und mehr zu erreichen – so viele wie zu keinem anderen Zeitpunkt während der Pandemie im Frühjahr. Die zweite Welle, vor der Experten stets warnten, ist also Realität geworden. Und mit ihr eine weitere Verschärfung der ohnehin schon problematischen wirtschaftlichen Situation von Millionen Israelis. Es droht ein erneuter Lockdown, den viele Freiberufler, Gewerbetreibende oder Unternehmen kaum mehr verkraften dürften. Aber im Unterschied zum Frühjahr macht sich nun überall Unmut breit.

Die bis dato größte Protestkundgebung fand am Wochenende in Tel Aviv statt, als über 10.000 Menschen sich versammelt hatte, um ihrer Wut über die ausbleibende finanzielle Unterstützung, die ihnen mehrfach von den Verantwortlichen versprochen wurde, Luft zu machen. „Wir wollen endlich das Geld auf unseren Konten sehen“, so Ronen Maili, Vorsitzender des Verbandes der Bar- und Clubeigentümer, stellvertretend für viele andere Berufsgruppen. „Die Zeit der Naivität ist vorbei. Vier Monate lang haben wir ruhig gewartet und keinen einzigen Schekel gesehen.“ Im April hatte die Regierung ein erstes Paket mit Hilfsmaßnahmen beschlossen, das unter anderem Selbständigen und Freiberuflern einen Zuschuss in Höhe von bis zu 6.000 Schekel, umgerechnet rund 1.250 Euro, versprach – ein Betrag, der angesichts der astronomischen Lebenshaltungskosten allenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein sein kann. Und selbst das sollte nicht wirklich klappen, viele Anträge wurden gestellt, die Bearbeitungszeiten zogen sich in die Länge und am Ende erhielt kaum jemand Geld.

Was sonst noch alles schief lief, zeigt exemplarisch der Skandal rund um die Textileinzelhandelskette Fox. Deren Boss Harel Wiesel hatte schätzungsweise zwischen 13 und 18 Millionen Schekel, umgerechnet zwischen 3,2 und 4,5 Millionen Euro, staatliche Corona-Hilfe erhalten und daraufhin 49 Millionen Schekel, also mehr als 12 Millionen Euro, Dividende an die Aktionäre ausgezahlt. Und da er 25 Prozent der Aktien besitzt, ein Viertel davon gleich an sich selbst. Wiesel war zuvor die treibende Kraft hinter einer Initiative von größeren Unternehmen, die damit gedroht hatten, reichlich Personal zu entlassen und Filialen zu schließen, wenn sie denn keine staatliche Unterstützung erhalten. Ziemlich schnell flossen sechs Milliarden Schekel, rund 1,5 Milliarden Euro, Hilfsgelder. Erst als sich abzeichnete, dass Fox durch dieses Verhalten ein massiver Imageschaden drohte, versprach Wiesel, die Corona-Hilfe an den Staat zurückzuzahlen. Ob er es auch wirklich macht, weiß man womöglich erst in einigen Wochen.

Einen Imageschaden hat auf jeden Fall bereits der Ministerpräsident erlitten. Laut einer aktuellen Umfrage sind drei Viertel der Israelis nicht gerade glücklich darüber, wie Netanyahu in der Krise agiert. 45,5 Prozent davon sind nach eigenen Worten „enttäuscht“, 22,5 Prozent sogar „wütend“. Nur 15 Prozent haben noch Vertrauen zu ihm. Zugleich sorgen sich immer mehr Israelis um ihre Zukunft, vor allem diejenigen mit geringem Einkommen werden von Ängsten geplagt, und zwar knapp 70 Prozent von ihnen. Um dem entgegenzusteuern, griff Netanyahu am Mittwoch zu einer überraschenden Maßnahme und verkündete, dass jeder volljährige Israeli eine Einmalzahlung erhalten soll. Alleinstehende Personen würden mit 750 Schekel (ca. 188 Euro) beglückt, Familien mit einem Kind sollen 2.000 Schekel (ca. 500 Euro) erhalten, wer zwei Kinder hat 2.500 Schekel (ca. 625 Euro) und bei drei Kindern und mehr sollen 3.000 Schekel (ca. 750 Euro) fließen. „Warum geben wir dieses Geld?“, so der Ministerpräsident vor der Presse. „Damit wir die Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Dieses Geld wird den Konsum ankurbeln und damit auch die Beschäftigung.“ In Kürze würde jeder seine Überweisung erhalten. Doch ob dies auch geschieht, das hängt noch von der Zustimmung der Knesset ab. Und die scheint alles andere als sicher.

„Wieso sollen wir auch den Reichen Geld geben“, fragte unter anderem Moshe Gafni, Vorsitzender des Finanzkomitees der Knesset und Vertreter der Partei Vereintes Torah-Judentum, immerhin ein Koalitionspartner von Netanyahu. Nicht nur ihn stört das Gießkannenprinzip. Auch Wirtschaftsminister Amir Peretz würde mit den knappen zur Verfügung stehenden Mitteln lieber den sozial Schwächeren stärker unter die Arme greifen. Ähnliches war auch von Amir Yaron, Direktor der Zentralbank, zu hören. „Ich glaube, es gibt bessere und deutlich effizientere Wege, die Nachfrage anzukurbeln“, so der Experte. Er schlug unter anderem eine temporäre sowie auch rückwirkend geltende Erhöhung des Arbeitslosengeld vor. Selbständige sollten mit Zahlungen in Höhe von bis zu 90 Prozent ihrer normalen Einkünfte unterstützt werden. Andere dagegen fanden drastischere Worte für die Maßnahmen des Ministerpräsidenten: „Man kann das Geld, das wir ja eigentlich nicht wirklich haben, gleich kofferweise ins Meer werfen“, so Keren Terner Eyal, Direktorin im Finanzministerium.

Denn angesichts einer aktuellen Arbeitslosenquote von derzeit 21 Prozent wird der Personenkreis, der in Not gerät, fast jeden Tag größer. Wer aber monatelang seine Rechnungen nicht begleichen konnte, weil sie oder er von heute auf morgen seinen Job los wurde oder ein anderes Schicksal zu beklagen hat, das mit der Coronavirus-Krise im Zusammenhang steht, wird diesen Betrag – wenn er denn wirklich ausgezahlt werden sollte – wohl kaum für eine Shopping-Tour nutzen. Die sechs Milliarden Schekel (ca. 1,5 Milliarden Euro), die diese Maßnahmen den Staatshaushalt kosten würde, dienten allein den Popularitätswerten Netanyahus, heißt es in den Kommentaren immer wieder. Und sollte es zu einem erneuten Lockdown kommen, dann werden die makroökonomischen Daten für dieses Jahr sowieso weitaus finsterer aussehen als ohnehin schon und die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen. Das Minus des Bruttoinlandsproduktes könnte deutlich größer ausfallen als die kürzlich noch prognostizierten sechs Prozent, weshalb die wirtschaftliche Erholung dann auch länger als gedacht dauern würde. „40 Milliarden Schekel (ca. zehn Milliarden Euro) wird uns ein weiterer Lockdown wohl mindestens kosten“, so Zentralbank-Direktor Yaron.

Die Stimmung in Israel ist deshalb angespannter als noch vor zwei oder drei Monaten. Denn im Unterschied zur ersten Welle der Pandemie wirkt die Regierung aktuell deutlich kopfloser und erratischer in ihren Entscheidungen darüber, was im öffentlichen Leben gerade wieder runtergefahren werden soll und was nicht. Und Behauptungen von Politikern wie kürzlich der Netanyahu-Vertraute Tzachi Hanegbi, Minister ohne Portfolio, der im Fernsehen erklärt hatte, dass „es Bullshit ist, wenn behauptet wird, dass manche Leute nichts mehr zu essen haben“, werden als Schlag ins Gesicht empfunden. Viel nachhaltiger aber ist der Eindruck, der vermittelt wird, dass sich die monströse Koalitionsregierung nur mit sich selbst beschäftigt. „Am Mittwoch – einem weiteren Tag mit über 1.000 gemeldeten Neuinfektionen – hielten es unsere Koalitionspolitiker für angebrachter, sich gegenseitig stundenlang wegen eines Vorschlags der rechten Yamina-Partei zur Einsetzung eines Ausschusses, der die Richter des Obersten Gerichtshofs auf angebliche Interessenkonflikte hin untersuchen sollte, anzuschreien, anstatt sich mit dem jetzt offenkundigen Versagen der Regierung im Kampf gegen COVID-19 auseinanderzusetzen“, brachte es dieser Tage David Horovitz, Chefredakteur der Times of Israel, auf den Punkt. „Hinter den Kulissen im Plenum intrigierten und zankten sich Netanyahu, der Parteichef von Blau-Weiß Benny Gantz, ihre Verbündeten und ihre Rivalen. Sie alle drohten, warfen sich in Pose und warnten sogar davor, Neuwahlen abzuhalten, und zwar wegen eines Themas von genau null Relevanz für eine Bevölkerung, die derzeit akute Not leidet und vergeblich von ihren gewählten Vertretern auf Hilfe wartet.“

Als es anfing, dass sukzessiv ganze Stadtbezirke und Ortschaften wieder abgeriegelt werden mussten, weil die Infizierten-Zahlen in die Höhe schossen, investierte Netanyahu seine Energie und Zeit dafür, um sich rückwirkend für die Jahre 2009 bis 2017 vom Finanzkomitee der Knesset eine Steuerbefreiung zusichern zu lassen, wobei es um Ausgaben für die Renovierung seiner Villa in Caesarea sowie für die Reparaturen des Swimming Pool ging. Nicht nur deshalb finden dieser Tage auch vor seiner Residenz in Jerusalem Demonstrationen statt.


Demonstration in Jerusalem vor Netanyahus Residenz, 15.07.2020

Viele sind schlichtweg verzweifelt, weil sie nicht wissen, ob sie morgen noch ihre Miete oder Hypotheken bezahlen können und die Krise sie alle wirtschaftlich aus der Bahn wirft. „Das Coronavirus legt die Dysfunktionalität eines jeden Landes bloß“, so die Einschätzung dazu von Neri Zilber vom Thinktank Institute for Near East Policy in Washington. „Für die Person, die ein Land seit nunmehr elf Jahren regiert, hat vor allem die Politik Priorität. Die politischen Eliten wollen dann oft nicht die Notwendigkeit erkennen, den Interessen der Öffentlichkeit den Vorrang zu geben.“

Bild oben: Demonstration am Rabinplatz in Tel Aviv am 12.07.2020, Screenshot Ynet