„That such is man…“ – Nathan der Weise in Amerika

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Die jüdische Rezeptionsgeschichte Nathan des Weisen sowie die Bedeutung, die dieses Aufklärungsdrama und sein Autor Gotthold Ephraim Lessing für die Emanzipation und Säkularisierung deutscher Juden besaß, wurde von der deutschsprachigen und hebräischen Forschung bereits hinlänglich aufgearbeitet. Dank Lessing stand im 18. Jahrhundert erstmals eine positiv konnotierte jüdische Figur auf der deutschsprachigen Bühne, die dem modernen jüdischen Theater die Tore öffnen sollte…

Von Jan Kühne

Im 19. Jahrhundert wurde dann Lessing der am meisten ins Hebräische übersetzte deutschsprachige Autor[1] und somit einer der wichtigsten Vorbilder für die jüdische Aufklärung, der Haskalah. Dem Historiker George Mosse schien Nathan gar eine Art „Magna Charta” des jüdischen Bürgertums,[2] doch den Zionisten war diese Popularität ein Hindernis auf ihrem Weg zur staatlichen Selbstverwirklichung. Um seinen nationalistischen Anspruch zu untermauern sah sich beispielsweise Theodor Herzl noch im Vorwort zu seinem Judenstaat gezwungen, Lessings Nathan als literarische Utopie zu degradieren, die sein politisches Programm nicht ersetzen könne.[3] Hier wird, ex negativo, die paradigmatische Bedeutung dieses Stückes für die jüdische Moderne deutlich, die  jüdische Künstler*innen mit Adaptionen Nathans maßgeblich beeinflussten: Beispielsweise drehte Manfred Noah die erste Spielfilmversion im Jahre 1922, während das von den deutschen Nazis im Jahre 1933 institutionalisierte Kulturghetto des Jüdischen Kulturbunds sein Repertoire mit dem der Zensur zu Opfer gefallenem Nathan eröffnete. Als dann das Deutsche Theater im Winter 1945 wieder seinen Betrieb im zerbombten Berlin aufnahm, so geschah dies mit einer Inszenierung Nathans durch Fritz Wisten (geb. Moritz Weinstein), der bereits im Kulturbund als Regisseur gearbeitet hatte, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Mitgliedern dem Tod in einem der zahlreichen Konzentrationslager entkommen war. Im Laufe der kommenden Jahrzehnte fand das deutsche Publikum zunehmend Gefallen am Bühnenjuden Nathan, der auf die Mörder seiner Familie keinen Groll hegt und deren verwaisten Kinder gleich noch adoptiert. So definiert Lessings nunmehr kanonischer Nathan auch ein kulturelles Paradigma für das deutsche Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah, als idealistischer Ausdruck eines besseren deutschen Selbst.

Auch in dieser Rezeptionsgeschichte spielen jüdische Künstler eine zentrale Rolle, wie beispielsweise Anat Feinberg[4] und Barbara Fischer[5] herausgearbeitet haben: Paul Wegener wurde über Jahrzehnte hinweg der beliebteste Nathan-Darsteller und George Tabori inszenierte 1991 Nathans Tod, womit er unter anderem andeutete, dass dieses Drama und seine mittlerweile bereits kirchlich instrumentalisierte säkulare Menschlichkeitsvision längst von der Realität überholte sei und ad acta gelegt werden könne. Dann aber kam der 11. September 2001 und nicht nur deutsche, sondern auch US-amerikanische Theatermacher entdeckten dieses in Deutschland kanonische Schulstück nun auch für die Konflikte multikultureller Gesellschaften mit der muslimischen Welt. So setzt sich die Rezeptionsgeschichte Nathan des Weisen bis auf den heutigen Tag fort. Zunehmend wird das Stück auch für mehrsprachige Inszenierungen entdeckt, zuletzt in einer dreisprachigen, arabisch-hebräisch-deutschsprachigen Aufführung in Israel, die jedoch zugleich illustriert, mit welchen Problemen solche oft didaktischen Übertragungen auf nicht-christliche Kontexte konfrontiert sind.[6]

Wenig erforscht ist unter den fremdsprachigen Rezeptionsgeschichten zunächst noch die englischsprachige, zu der Kristina-Monika Kocyba mit ihrer zum Buch überarbeiteten Dissertation einen wichtigen Beitrag leistet. Diese englische Rezeptionsgeschichte ist übrigens nicht minder interessant als die deutschsprachige: Die erste Übersetzung der zwölf bisher hinlänglich bekannten Übersetzungen und Adaptionen erschien bereits 1805,[7] kurz nachdem Friedrich Schiller Lessings Lesedrama – Nathan der Weise – für die Bühne überarbeitet hatte. Zu den wichtigen Stationen zählt auch Israel Zangwill, der sich von der zionistischen Fixierung auf Palästina distanziert und mit seinem gleichnamigen Drama den Begriff des „Melting Pot“ popularisiert hatte, und der 1925 seinen jüdischen Theaterverein in London mit Lessings Nathan eröffnete.[8] Auch eine der prominentesten Verehrerinnen Lessings – Hanna Arendt – verlieh posthum der 1991 erschienenen Übersetzung von Nathan ein Vorwort.[9] Dank der Recherchen von Kocyba können dieser Liste nun gleich drei weitere Adaptionen hinzugefügt werden, darunter – wen wundert’s – zwei Werke jüdischer Künstler*innen. Alle drei wurden unter der deutschen Nazi-Diktatur zu Flüchtlingen und hatten das große Glück, in die USA fliehen zu können. Im amerikanischen „Melting Pot“ war für sie aber Nathan keineswegs als vermeintliches Assimilationstück oder als überholte Gesellschaftsutopie passé, sondern reflektierte ihr Migrantenschicksal und die multikulturellen Bedürfnisse der US-amerikanischen Einwanderergesellschaft, an deren Erfolg die drei Protagonisten von Kocybas Buch mitarbeiten wollten.

Der prominenteste unter ihnen ist Menyhért (auch: Melchior) Lengyel (ursp. Lebovics), der u.a. für das Drehbuch von Ernst Lubitschs Kinoerfolg Sein oder Nichtsein (1942) verantwortlich ist und der 1935 mit seiner Familie in die USA einwanderte. 1953, in Hollywood, entdeckt er für sich Nathan den Weisen als einen Hoffnungsträger in den Nachkriegswehen, in denen sich die Konturen der Schoah begannen abzuzeichnen, und adaptiert ihn erfolgreich für die Bühne – „es ist seine einzige Bearbeitung eines fremden Textes und offensichtlich war es ihm ein Anliegen, dessen Bedeutungsgeschichte zu erhalten“, schreibt Kocyba (200).

Nicht weniger erstaunlich ist Kocybas zweiter Fund von Ferdinand Bruckners Adaption, die 1942 und 1944 von Erwin Piscator in New York inszeniert wurde – dem Vater des politischen und multimedialen Theaters, dem Bertolt Brechts dialektisches Theater u.a. wesentliche Impulse verdankt. Bruckners Adaption und Piscators Inszenierungen waren nicht unproblematisch im amerikanischen Kontext jener Zeit, in dem alles Deutschsprachige mit den Nazis assoziiert und somit stigmatisiert wurde. Entsprechend dialektisch legt Kocyba das Stück im „breiteren Kontext des antifaschistischen Widerstands aus: Nathan the Wise war ein Fingerzeig auf Nazi-Deutschland bei gleichzeitigem Verweis auf ein ‚anderes, besseres Deutschland‘. Doch ist die Adaption auch und vor allem literarisches Zeugnis jüdischen Exils.“ (145)

Diese Exilerfahrung wird besonders deutlich in Kapitel zur Nathan-Adaption von Rosa Vermonté. Die aus Rumänien stammende jüdische Schauspielerin, Sozialarbeiterin und Intellektuelle Vermonté, zu der bisher noch nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag existiert, adaptierte Nathan im Jahre 1936 für die jüdische Erziehungsarbeit in Amerika. Ein Jahr später wurde ihre Adaption auch in der künstlerischen Fringe New Yorks aufgeführt. Obwohl wir wenig über ihre Inszenierungen in den jüdischen Ferienlagern und in New York wissen, an denen sie selbst als Schauspielerin teilnahm, so ist dieses Kapitel, in dem Kocyba zum ersten Mal einen Ansatz zur Aufarbeitung ihrer künstlerischen Biographie liefert, ein wegweisender Forschungsbeitrag: „Nicht im Theater, sondern auf der ‚Bühne ihres Lebens‘ kam Vermontés Lessings Idealen am nächsten“, resümmiert Kocyba. (98)

Kocyba nähert sich ihren beeindruckenden Funden als Germanistin, das heißt zunächst, dass sie die drei Adaptionen mit Lessings Text vergleicht und im biographischen Kontext der Bearbeiter*innen erörtert. Dabei spielen erstaunlicherweise, zumindest in ihren Analysen, die Ringparabel und das kontroverse, über die Jahrhunderte immer wieder neu interpretierte Schlusstableau untergeordnete Rollen. Kocyba konzentriert sich vielmehr auf die Figur Rechas, die in Lessings Stück die Adoptivtochter Nathans ist – ein Kind christlicher Eltern, das aber als Jüdin aufwächst. In ihr spiegelt sich nicht nur in der Umkehrung die Figur des jüdischen „Assimilanten“, sondern brechen sich auch die Erfahrungen jüdischer Exilanten. Kocyba liest die Adaptionen von Vermonté, Bruckner und Lengyel mit Fokus auf Recha als „Literarisierungen des Exils“ und dieser Ansatz ist sehr aufschlussreich. Nicht nur, weil Kocyba hiermit zugleich implizit eine der noch immer seltenen feministischen Kritiken zu Nathan und seiner überwiegend um dessen männlichen Protagonisten kreisende Rezeptionsgeschichte formuliert.[10] Mit ihrem Fokus auf die christlich-jüdische Frauenfigur Rechas identifiziert Kocyba zugleich eine der größten Irritationen, die Lessings Stück noch immer und nicht nur in der jüdischen Rezeptionsgeschichte auslöst.

Insbesondere ist es der Monolog des Tempelherren (Akt III, Szene 8) – in dem eine Liebesbeziehung des Christen zur vermeintlichen Jüdin Recha erwogen wird –, der sich aufgrund seiner auffälligen Modifikationen und teils „zensierten“ Versionen ungewollt in den Vordergrund von Kocybas Studie drängt. Die Idee einer inter-konfessionellen Partnerschaft, die nicht nur im religiösen Mittelalter des Christen- und Judentums (sowie Islams) einen Tabubruch darstellt, sondern auch den Nazis als „Rassenschande“ galt, in Lessings Stück zudem als potentieller Inzest aufgelöst wird, stellt auch ein Problem für alle drei Adaptionen dar: Vermonté wollte mit dem Stück, trotz seiner pluralistischen Botschaft, keine Mischehen fördern und streicht die Szene kurzerhand. Bei Lengyel hingegen hat es den Anschein, dass dieser Monolog in der Abfolge der Szenen den Platz der Ringparabel einnimmt, während Bruckner „das Familientableau Lessings entwirrt“: Von vornherein ist in seiner Adaption klar, dass Recha, die bei Bruckner Rahel heißt, weder eine Jüdin noch eine nahe Verwandte ist und somit für die erotischen Regungen des Tempelherren weder ein religiöses noch inzestuöses Tabu darstellt (128f).

Die Aktualität dieser Beziehungen wird in Lengyels Adaptation deutlicher dadurch, dass er den Ordensritter als Soldatenfigur transponiert, die zwischen ethischen Gewissensfragen und Gehorsamsdenken schwankt, zwischen Empathie und Diskriminierung. Im Kontext seiner post-Schoah Adaption wird deutlich – frei nach Primo Levi verleiht er seinem „cruel disappointment“ über jede Form der Diskriminierung den Ausdruck, „that such is man…“ (189) –, welcherart Lessings empathischer Nathan heute noch als kritisches Vorbild für eine über seine Vergangenheit aufgeklärte Menschheit dienen kann. Hierzu leistet Kocybas Buch einen wegweisenden Beitrag mit ihrer Studie zur bisher kaum beachteten US-amerikanischen Rezeption von Lessings Nathan der Weise.

Kristina-Monika Kocyba: Nathan auf Reisen. Stationen einer transatlantischen Rezeptionsgeschichte. Dresden: Thelem 2017.

Jan Kühne forscht an der Martin Buber Society of Fellows und am Rosenzweig Minerva Zentrum der Hebräischen Universität Jerusalem.

 

[1] Na’ama Sheffi: Vom Deutschen ins Hebräische — Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882-1948. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011.

[2] George L. Mosse: German Jews Beyond Judaism. Cincinnati: Hebrew Union College Press 1985, 16.

[3] Jan Kühne: ‚Deutschlands besseres Selbst‘? Nathan der Weise in Israel. In: Kamenzer Lessing-Studien (1), Lessing und das Judentum. Hg. Dirk Niefanger, Gunnar Och u. Birka Siwczyk. Hildesheim: Olms 2015, 433-58, hier 457f.

[4] Anat Feinberg: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama. Köln: Prometh Verlag 1988.

[5] Barbara Fischer: Nathan’s Ende? Von Lessing bis Tabori: Zur deutsch-jüdischen Rezeption von “Nathan der Weise”. Göttingen: Wallstein Verlag 2000.

[6] https://vimeo.com/154691679 Hierzu: Jan Kühne: A Parable of three Languages.”Nathan der Weise” in Arabic, Hebrew, and German. In: Lessing Yearbook XLV (2018), 93-111.

[7] G. E. Lessing: Nathan the Wise. A Dramatic Poem. Übers. William Taylor. London: R. Philips 1805.

[8] Israel Zangwill: The Future of Jewish Drama. In: The Jewish Chronicle (10.4.1925), 16.

[9] G. E. Lessing: Nathan the Wise, Minna von Barnhelm, and Other Plays and Writings, edited by Peter Demetz with a Foreword by Hannah Arendt. New York: Continuum, 1991. S.a. Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten: Rede über Lessing. Bd. 148. München: R. Piper 1960.

[10] Vgl. Elisabeth Schrattenholzer: Sorry, Nathan! Wortblind und sinntaub: Die Beschädigung des Denkens durch die Sprache des Patriarchats. Wien: Czernin 2005.