Die Dimensionen der Wirklichkeit und der Tradition

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35 plus 25 sind 60. Mit dieser Gleichung beschreibe ich die Hohen Feiertage und somit vergleiche ich sie mit einem Zoom-in- und Zoom-out-Vorgehen. Jom Kippur ist eher Zoom-in, wenn wir in die Tiefen unseres Lebens hineinsteigen. Rosch haSchana ist eher Zoom-out, wenn wir das Neue Jahr mit Freude feiern…

Von Rabbiner Dr. Tom Kučera

Wenn wir dieses Zoom-in- und -out quantitativ betrachten, bekommen wir die erwähnte Gleichung mit den insgesamt 60 Größenordnungen unserer gesamten Wirklichkeit. Der kleinstmögliche Zoom-in beträgt 10 hoch minus 35 Meter (in Millimetern ist es null Komma 31 Nullen und 1). Es ist die Planck´s Länge, genannt nach Max Planck. Weiter kann die Raumzeit nicht verkleinert werden. Sie ist weiter unteilbar und blubbert mit Unsicherheit. Ähnlich wie beim Jom Kippur fragen wir uns, ob wir die Welt in ihren Grundlagen und unser Verhalten in seinen Details je verstehen können.

Von der anderen Seite genommen beträgt der größtmögliche Zoom-out 10 hoch plus 25 Meter (in Kilometern ist es 1 mit 22 Nullen), die den Radius unseres beobachtbaren Universums ausmachen. Damit ist alles dargestellt, vom Kleinsten bis zum Entferntesten. Was ist jedoch hinter dem „Alles“? D. h., wie groß ist das ganze Universum, nicht nur das beobachtbare? Wir wissen es nicht genau. Und was ist außerhalb von dem ganzen Universum? The Unknowable, schreibt Caleb Scharf in seinem Buch „The Zoomable Universe“ (2017), in dem er diese Zahlen vermittelt. The Unknowable ist zu übersetzen als das das Nicht-zu-Erfahrende, vielleicht auch als den Nicht-Erreichbaren. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Kosmologie und die Kabbala auf der gleichen Wellenlänge funktionieren.

Die jüdische Mystik spricht von Ejn Ssof. Es ist das unerreichbare Konzept Gottes, außerhalb von unseren Grenzen. Ejn- es gibt nicht, Ssof- ein Ende. Ejn Ssof, das Unendliche. Wir können uns sicher an vieles vom letzten Jahr erinnern, wozu wir sagen könnten: Es hat kein Ende, ejn ssof. Ich habe meistens dieses Gefühl, wenn ich die E-Mails öffne. So meint es dieser Begriff aber nicht. Wann erscheint im jüdischen Denken zum ersten Mal der Begriff Ejn Ssof? Bei Asriel aus Gerona, der Anfang des 13. Jahrhunderts in Spanien lebte, die jüdische Mystik popularisierte und platonisierte. Er ist ein Vertreter der sogenannten sephirotisch-philosophischen Kabbala, wie ich von meinem Kabbala-Professor Grözinger an der Universität Potsdam lernte. Ich habe das faszinierende Thema der Schöpfung in der jüdischen Mystik für meine Religionswissenschaftsprüfung genommen. Asriel aus Gerona schreibt in seinem Tor des Fragenden, Scha´ar haSchoel:

„Fragt der Frager: Wer nötigt mich, daran zu glauben, dass die Welt einen Lenker hat? So ist die Antwort: So wie ein Schiff nicht ohne Steuermann auskommt, so kann auch die Welt nicht ohne Lenker sein. Und dieser Lenker ist Ejn Ssof (das Unendliche) […] und was verborgen ist, hat kein Ende und keine Grenze, es ist unergründlich und außer ihm gibt es nichts.“

An dieser ersten Erwähnung von Ejn Ssof im jüdischen Denken ist mir der negative Begriff Gottes sympathisch. Ohne die großartigen Eigenschaften Gottes zu thematisieren, wird bloß darauf hingewiesen, was Gott nicht ist. Weiter im Zitat: „Und fragt der Frager: Wer nötigt mich, an das Ejn Ssof zu glauben? So ist die Antwort: Wisse, dass alles Sichtbare und was mit den Sinnen des Herzens erfasst werden kann, ist begrenzt. Darum, was nicht begrenzt ist, wird Unendlich, Ejn Ssof, genannt.“

Alles Sichtbare ist begrenzt – das sind für mich die 60 Größenordnungen. Eine zusätzliche Begrenzung ist, dass unser Alltag, oft ein mühsamer und frustrierender Alltag, nur im unmittelbar erfahrbaren Raum von Millimetern bis zu Kilometern geschieht und nicht mehr – das sind nur 6 Größenordnungen aus 60 unserer gesamten Wirklichkeit. Das letzte Zitat von Asriel aus Gerona: „Und wenn du sagst, dass er seine Schöpfung nicht beabsichtigt hat, kann man antworten: Dann wäre die Schöpfung ein Zufallsprodukt, und alles Zufällige hat keine Ordnung. Aber wir sehen ja, dass das Geschaffene eine Ordnung hat, und dass die Dinge in einer Ordnung bestehen und nach einer Ordnung vergehen und sich nach einer Ordnung erneuern. Und diese Ordnung, nach der sie bestehen und vergehen, das ist jenes, was Sefirot genannt wird, welche die Kraft alles Existierenden ist, das der Kategorie der Zahl (mispar) unterliegt. … und alles ist aus Ejn Ssof, außer dem es nichts gibt.“

Ich habe einen Respekt denen gegenüber, die sich willentlich und überlegt doch für einen Zufall als die Erklärung der Welt entscheiden. Ich tue es nicht, sowohl wegen der beeindruckenden Ordnung des Universums als auch wegen der noch beeindruckenderen Ordnung der Biochemie unseres Körpers. Ob wir die erste oder die zweite Position einnehmen – wir gelangen sowieso irgendwann im Zoom-in-Vorgehen zum blubbernden Ausmaß der Unsicherheit. Rosch haSchana ist jedoch der Zoom-out-Vorgehen in der Feier des überwältigenden, geheimnisvollen und ehrfürchtigen Universums. Dieses Jahr finde ich besonderen Bedarf, dies zu betonen.

Wir können überrascht, wenn nicht gar frustriert sein, über die Entwicklung der Gesellschaft, Politik, Religion, auch darüber, was mit uns oder im Leben anderer geschieht.

Einige Rabbiner im Talmud waren gelegentlich genauso frustriert, wenn sie ihre Gesellschaft und Welt beobachteten. Es war ein zweieinhalbjähriger Streit zwischen den beiden bekannten und prominenten Rabbinern Schamai und Hillel. Die Schule Schamais sagte, es wäre für den Menschen besser, nicht erschaffen worden zu sein, als dass er erschaffen worden ist. Die Schule Hillels sagte, es sei für den Menschen besser, dass er doch erschaffen worden ist, als dass er nicht erschaffen worden wäre. Nach zweieinhalb Jahren der Argumentation stimmten beide ab und kamen überein, dass es für den Menschen zwar besser wäre, nicht erschaffen worden zu sein, nachdem er aber erschaffen worden ist, untersuche er seine Handlungen, (die er bereits begangen hat), manche lesen: erwäge er seine Handlungen (die er erst begehen wird) (Eruwin 13b).

Der Spezialist Ephraim Urbach bemerkt, dass wir im ganzen Talmud keine vergleichbare Diskussion finden, die noch dazu per Abstimmung gelöst wurde. Im Talmud wird nie abgestimmt, es wird diskutiert und die einflussreichste Meinung wird durchgesetzt. Urbach versucht zu beweisen, dass der ganze Streit nicht die allgemeine Bewertung der menschlichen Existenz ist, sondern sich lediglich auf einen bösen Menschen bezieht, der nur studiert und keine Mizwot einhält.

Es ist das Recht der talmudischen Wissenschaft, originelle und intellektuelle Deduktionen abzuleiten. Dennoch denke ich, dass diese Stelle als eine besondere Dokumentation der gelegentlichen pessimistischen Einstellung sein kann, die auch mich im letzten jüdischen Jahr mehrmals übermannte, als ich nach einigen Zeitungsberichten bereut hatte, sie überhaupt gelesen zu haben, weil ich gar nicht wissen wollte, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann. Dennoch enthält das Gros des Talmuds genauso wie die ganze jüdische Tradition die lebensumarmende Einstellung, die wir trotz allem, dawka, übernehmen sollten. In der Hoffnung, ja sogar Überzeugung, dass das Gute überwiegt, überwiegen soll und überwiegen muss. Das ist ein wichtiger Grund, warum wir Rosch haSchana feiern: wegen der lebensbejahenden und positiven, wenn auch nicht unkritischen Einstellung zur Welt und zum Menschen. Mit dem Wissen, dass das ganze Weltgeschehen im Raum von Millimetern bis zu Kilometern stattfindet, d. h. nur in sechs von den gesamten 60 Größenordnungen unserer gesamten Wirklichkeit. Mich beruhigt es irgendwie, auch wenn ich weiß, dass es keine Lösung bringt. Aber auch jede Lösung hat den Hintergrund der einfachen Gleichung: 35 plus 25 sind 60.

Das ist auch die Feier von Rosch haSchana. Das Wort Schana, Jahr, hat im rabbinischen Hebräisch die Wurzel des Verbs „wiederholen“. Davon kommt auch der Name Mischna für das erste rabbinische Werk des 2. Jahrhunderts, die Grundlage der mündlichen Tradition. Sie wurde zunächst mündlich weitergegeben, und darum musste sie immer weiter wiederholt werden. Warum wurde die mündliche Tradition später doch niedergeschrieben? Möglicherweise, weil sie niemand mehr auswendig lernen wollte oder konnte. Damit die mündliche Tradition nicht verschwindet, wurde sie niedergeschrieben. Um der Tradition willen wurde mit der Tradition gebrochen.

Mit diesem Satz können wir das progressive Judentum beschreiben, dessen 200. Jubiläum wir unlängst feierten. Im Jahre 1818 wurde der Hamburger Tempel eröffnet. Es war schon 2010, als wir die Gründung der ersten Reformsynagoge in Seesen feierten, sodass einige seufzen, wie viele Male wir die 200 Jahre des progressiven Judentums eigentlich noch feiern werden. Etwas ist schon daran, weil zwischen Seesen 1810 und Hamburg 1818 auch in Berlin 1815 ein Tempel eröffnet wurde, zu dem im Herbst 1818 über 400 Familien und Einzelpersonen gehörten, also die Größe von Beth Shalom im Herbst 2018. Michael Meyer schreibt über den Berliner Tempel: „Die Gottesdienste dauerten an jedem Sonnabendmorgen nur jeweils zwei Stunden und wurden begangen mit Orgelmusik, einer deutschen Predigt und deutschen Gebeten. … Obwohl Männer und Frauen weiterhin getrennt saßen, reichten die Änderungen aus, um den Zorn der orthodoxen Gemeindemitglieder zu erregen: Ihre wiederholten Klagen bei der … Regierung führten dann 1823 zur endgültigen Schließung des Tempels.“ Möglicherweise ist es der Grund, warum wir uns weniger an den Berliner Tempel und mehr an den Hamburger Tempel erinnern, der nach seiner Gründung erst während der Reichspogromnacht 120 Jahre später zerstört wurde. Für das Hamburger Rabbinat des 19. Jahrhunderts waren es drei Hauptsünden der Reformer: die Änderung des Gebetsbuches, der Gebrauch einer anderen Sprache als des Hebräischen und die Begleitung des Schabbats durch Orgelmusik. Kurzum alles, was wir in Beth Shalom selbstbewusst praktizieren.

Michael Meyer betont, dass es in Hamburg, genauso wie in der früheren Reformbewegung, der Versuch von Laien war, „das Judentum seiner Zeit anzupassen, um so der Alternative, seiner Verwerfung, entgegenzuwirken. Die damaligen Rabbiner hatten wenig getan, um die Assimilation aufzuhalten, wenn man von Ermahnungen und Verdammungen absieht. Sie glaubten, … das Judentum erhebe sich über die Tagesprobleme. … Das Ergebnis in Hamburg wie in Berlin war, dass die jüngere Generation von einem Extrem zum anderen schwankte.“ Genau dies warfen die Laien-Reformer den drei Hamburger Rabbinern vor. Beachten Sie im folgenden Zitat besonders die ersten zwei Sätze, die aus einem Psalm kommen: „Ist nicht die Zeit gekommen, für Gott zu handeln? Sie haben seinen Bund zunichtegemacht. … Hört, o Lehrer, ergeht dieses Gebot nicht an Euch? … Schaut her und seht: Unsere Söhne und unsere Töchter wachsen heran, ein Geschlecht, dessen Geist und Herz Gott untreu geworden ist. Sie kennen nicht den Gott Jakobs oder den heiligen Gott Israels … Ist das nicht euer Werk?“

Jetzt zu den ersten zwei Sätzen. In einem Psalm gibt es den Vers (119:126): et laassot lAdoschem, heferu toratecha, es ist an der Zeit (et), dass der Ewige handelt, denn sie haben deine Tora gebrochen. Der Talmud (Ber 63a) liest diesen Vers auch umgekehrt, vom Ende zum Anfang: „Sie haben gebrochen deine Tora, denn es ist an der Zeit, dass für den Ewigen gehandelt wird.“ Die Aussage ist erstaunlich, weil sie die Subjekte tauscht und damit andeutet, dass um der Tradition willen die Tradition in einigen ihrer Elemente geändert werden soll. Dennoch ist es keine häretische Einladung zur Willkür des Einzelnen, sondern die Institutionalisierung der kollektiven rabbinischen Entscheidungen. Vielleicht nach dem Motto von Werner Mitsch: „Demokratie ist die Diktatur der Mehrheit.”

Das spricht nicht gegen die Demokratie, sondern zeigt auf die Spannung zwischen der rabbinischen und der gemeindebezogenen Demokratie (und auf ihre manchmal beliebig wirkenden Entscheidungen). Tatsächlich haben wir einige Probleme, die wegen der Pluralität des progressiven Judentums in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Lösungen anbieten, die sich gegenseitig ausschließen. Ich nenne zwei brennende Probleme: Patrilinearität und interreligiöse Hochzeiten. In Bezug auf das zweite spüre ich den Bedarf, in unserer Rabbinerkonferenz bald eine Diskussion anzufangen, ob wir unter bestimmten Vorbedingungen doch eine alternative, nicht-halachische Zeremonie für die interreligiösen Ehepaare offiziell anbieten sollten. Mehr und mehr frage ich mich: Wenn eine alternative, nicht-halachische Zeremonie bei dem Begräbnis eines nicht-jüdischen Partners, der ein Fördermitglied von Beth Shalom war, möglich ist, warum auch nicht etwas Ähnliches bei der Hochzeit, wenn beide Partner ein aktiver Teil des Gemeindelebens sein wollen? Die mögliche talmudische Grundlage habe ich vor einem Moment erwähnt: „Sie haben gebrochen deine Tora, denn es ist an der Zeit, dass für den Ewigen gehandelt wird.“

Viele Entscheidungen wurden in den letzten 200 Jahren des progressiven Judentums getroffen, die von außen als Chuzpe oder Lästerung bezeichnet, von innen eher wegen der Rettung der Tradition unter neuen Umständen getroffen wurden. Um der Tradition willen wurde die Tradition gebrochen. Genauso wie bei der Mischna, die nur mündlich weitergegeben werden durfte, später doch niedergeschrieben werden musste. Es ist wie eine neue Interpretation einer alten Vorlage. Z. B. der Satz: „Am Schabbat nicht sauber machen, schwimmen und laufen“ kann auch gelesen werden: „Am Schabbat nicht sauber machen. Schwimmen und laufen.“ Damit wird der Schabbat nicht abgeschafft, nur anders wahrgenommen. Ich wünsche uns, dass wir es im neuen jüdischen Jahr 5779 einsehen und praktizieren: Etwas zu ändern
bedeutet nicht, darauf zu verzichten. Schana towa.

Dr. Tom Kučera ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München. Diese Drascha hielt Rabbiner Kučera zu Erew Rosch haSchana 5779 / 2018

Bild oben: Jacobsonschule (links) und Jacobstempel (rechts). Historische Postkarte, um 1900.