„Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen“

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Biografische Facetten aus dem Leben eines Forschungsreisenden. Zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers und Schriftstellers Paul Parin (20.9.1916 – 18.5.2009)…

Von Roland Kaufhold

„Für einen Juden ist „nach Auschwitz“ nichts mehr so, wie es früher war. Auch an ihm (meinem Vater) sind die Ereignisse nicht vorbeigegangen.“
          Paul Parin (Parin, 1993, S. 28)

„Ich würde nicht schreiben, wenn Goldy meine Texte nicht gerne hören oder lesen würde.“
          Paul Parin (1993, S. 164)

Mit Paul Parin verbindet mich vor allem, dass ich ihn immer gerne gelesen habe. Er hat mir viel bedeutet. Und er hat mich mein Leben lang immer mal wieder begleitet.

© Johannes Reichmayr, www.paul-parin.info

Erstmals gelesen habe ich Paul Parin 1981 im Philosophieunterricht eines Gymnasiums, bei einem „progressiven“ Lehrer, Dieter Ferfers, kurz vor meinem Abitur. Er muss mich berührt haben, zumindest habe ich mir seinen Namen gemerkt. Es war die Zeit der „Züricher Jugendunruhen“. Der seinerzeit 65-jährige, gesellschaftlich „etablierte“ linke Psychoanalytiker bemühte sich, die aufbegehrende Jugend solidarisch zu unterstützen – mit seinen Mitteln: Er nahm an Demonstrationen für den Erhalt eines autonomen Züricher Jugendzentrums teil und publizierte psychoanalytische Studien, in denen er die legitimen Motive der aufbegehrenden Jugendlichen darlegte: „Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen“, „Befreit Grönland vom Packeis“, „Der Knopf an der Uniform des Genossen“: typische Essayüberschriften für sein seinerzeitiges publizistisches Engagement (in: Reichmayr, 2006).

Im Studium begegnete mir Paul Parin dann wieder. Ich erinnerte seinen Namen und las seine späteren Werke gleich nach ihrem Erscheinen. Zweimal erlebte ich ihn bei Lesungen in Köln. Meine gelegentlichen Besprechungen seiner Bücher nahm er bewusst wahr und schrieb mir jeweils ausführlich und sehr freundlich. Als er schon nahezu vollständig erblindet war besprach ich sein letztes Werk „Lesereise 1955 bis 2005“ (Parin, 2006). Paul Parin, inzwischen 91 alt, war sehr erfreut, wessen ich mir zuvor nicht sicher gewesen war. Er rief mich extra an, sprach sehr lange mit mir, und danach schickte er mir einen ausführlichen, trotz seiner Erblindung gut lesbaren Brief. Hierin schrieb er u.a.: „Ich bin mir bewusst, dass bei einem solchen Lebensalter Misserfolge und Fakten weggelassen werden. Es wäre aber falsche Bescheidenheit wenn ich Ihre tiefe und einfühlsame Darstellung nicht mit voller Zustimmung und ganz herzlichem Dank beantworten würde. Jeder Schriftsteller hofft auf Leser dieser Art. Doch nur selten darf ich auf eine so eingehende Würdigung hoffen. Ich kann wieder leserlich (?) schreiben, bin aber nicht im Stande dieses Brieflein zu lesen.“ (Brief Parins vom 24.11.2007)

Kindheit und Jugend in Slowenien: ein Glückspilz auf der Suche nach Abenteuern

Paul Parin wächst in Slowenien als Sohn eines Großgrundbesitzers auf. Sein Elternhaus ist „multikulturell“, assimiliert jüdisch, anregungsreich – aber auch einsam. Der junge Paul findet auf dem elterlichen Anwesen kaum gleichaltrige Freunde. Seine Erinnerungen an seine begüterte Jugend auf dem Landgut Novikloster, wie er sie in seinem literarischen Erstlingswerk „Jahre in Slowenien“ (1980) erinnert hat, sind von einer eindrücklichen Lebendigkeit und emotionalen Nähe. Im multikulturellen, ländlichen Novikloster wird sein Interesse für seelische und soziale Beobachtungen früh geweckt. Parin führt aus: „Ein Psychoanalytiker könnte als Kind keinen besseren Anschauungsunterricht haben als die starr durch Machtverhältnisse und Arbeitsteilung gegliederte, gegen außen, von der profanen Welt der Bauern und der Städte durch Wiesen und Forste getrennte Welt eines Großgrundbesitzes, einer vielköpfigen Großfamilie, die untergründig von Liebe und Hass durchströmt und bewegt wird. Die Rätsel des Lebens müssen erst hier gelöst werden, bevor man hinausblickt in die unheimliche und verführerisch lockende Fremde.“ (Parin, 1980, S. 26)

Frühe Belastungen

Paul Parin muss als Kleinkind sehr früh schwere Belastungen überstehen. Wegen einer angeborenen schweren Missbildung seines Hüftgelenkes ist er als Kind für knapp zwei Jahre von Kopf bis Fuß eingegipst – und hat doch zugleich eine liebevolle, einfühlsame Mutter. Für diese war ihr Sohn nicht behindert, sondern einfach ein „Glückspilz“ (Parin, 1993a, S. 16). Auch erinnert Parin sich mehrerer slowenischer Frauen, hierunter auch seiner geliebten Kinderfrau Mimi, die sich einfühlsam um ihn kümmerten. Seine Beobachtungsgabe wurde früh geweckt. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Erich Fried Literaturpreises (1992) führt Parin aus: „Ich bin mit einer Missbildung der Hüftgelenke zur Welt gekommen und habe zeitlebens gehinkt. Immerhin konnte ich mein Gebrechen kompensieren, war also körperlich besser dran als er. Sprache und Rede waren auch für mich wichtiger als für gesunde Kinder, und haben mir während eines ganz anderen Berufslebens so viel bedeutet, dass ich mich im Alter dem Schreiben zuwenden konnte und heute hier vor Ihnen stehe.“ (Parin, 1993a, S. 128).

Der polnische und der preussische Adler

In dem späten, stark autobiografisch geprägten literarischen Text „Der polnische und der preußi­sche Adler – beschädigt beide“ (Parin, 1995, S. 9-41) erinnert sich Parin in einer traumähnlichen Dichte an einige frühere Kindheits- und Urlaubsepisoden, gefüllt mit farbigen Landschaftsbeschreibungen. Mit acht Jahren verbringt Paul gemeinsam mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Otto einen Sommer in einem Schloss in Polen. Zu Otto hatte er als Kind eine gute Beziehung: „Wir waren ein Herz und eine Seele, gingen zusammen fischen und auf die Jagd. Daß wir miteinander konkurrierten oder eifersüchtig aufeinander waren, kam überhaupt nicht in Frage. Wir gingen uns sogar bewußt aus dem Wege, wenn klar war, daß einer besser war als der andere, zum Beispiel im Sport, beim Tennis und so weiter.“ (Rütten, 1996, S. 64f.)

Sein Vater verwaltet es für einen „reichen Wiener Kriegsgewinnler“ (Parin, 1995, S. 12). Es ist eine Märchenwelt, aus der Perspektive des verwunderten Kindes beschrieben. Paul interessiert sich für die Natur und für Tiere. Eine literarische Erinnerung: „Immer im Sonnenlicht liegt die sumpfige Wiese da, es sind ein, zwei oder drei Störche zu sehen, die auf Frösche lauern und – wenn man lange und aufmerksam hinschaut – ist der graue Pflock, der aus der Wiese ragt, ein Silberreiher. Abends fliegt er mit weichen wippenden Schwingen fort. Ganz weit weg ist das Dorf. Die schmutzigbraunen Dächer der Häuser verfärben sich weder golden, noch rot, noch blau. Der Abschluß der bunten Märchenwelt.“ (Parin, 1995, S. 11)

Zunehmend mutiger werdend erkundet er die Wildnis: „Hier ist die Maikuhle, die wunderbare und unheimliche Wildnis, mein Polen, das ich noch immer in mir herumtrage; es taucht von Zeit zu Zeit wieder auf, unverändert geheimnisvoll.“ (Parin, 1995, S. 14) Paul entdeckt bei seinen Erku­ndungsgängen europäischen Urpferde, in geduldiger Zuchtwahl geschaffen:

„Der Rücken nach hinten abfallend, falfarben mit einem dunklen Streifen, auch die steilstehende Mähne ist dunkel, das Köpfchen mit den kleinen spitzen Ohren immer wieder mit schnuppernden Nüstern gegen den Wind gehoben. (…) Ich bin beglückt. Ich habe die europäischen Urpferde zu Gesicht bekommen. (…) Unerschütterlich trage ich das Bild noch heute in mir.“ (Parin, 1995, S. 15)

Paul, der sich häufig einsam fühlt, findet an diesem Ort einen Freund, einen Begleiter – seinen Mitschüler Heinz: „Die Nachmittage mit Heinz in der Maikuhle sind das schönste, was ich in Polen erlebt habe.“ (Parin, 1995, S. 24)

Es folgen genaue Beschreibungen seines kindlichen Umgangs mit der Gewalt, deren ohnmächtiger Zeuge er wird – unmittelbar betroffen hiervon ist er als Sohn eines privilegierten Schlossherrn nicht. Auch verfügt er über einen weiteren Schutz – eine verständnisvolle Mutter. Als er einmal erschüttert und weinend nach Hause kommt erahnt sie die pädagogische Realität: „`Du mußt nicht mehr in diese Schule‘, sagt die Mama, `es war ein Fehler, dich gehen zu lassen‘. Ich glaube, daß sie mehr erriet, als ich sagen konnte.“ (Parin, 1995, S. 27) Parin erzählt weitere wunderlich-komische pädagogische Begebenheiten aus vergangenen und zugleich gegenwärtigen Zeiten, um am Ende anzumerken:

„Ich habe mich ganz auf meine Erinnerung verlassen, als ich dies alles aufgeschrieben habe. Ob es wirklich so gewesen ist, weiß ich nicht. Noch heute kann ich nicht glauben, daß das preußische Hinterpommern eine Meeresküste hat, obzwar ich selber dort gewesen bin. Andererseits bin ich beinahe sicher, daß es irgendwo in Polen noch immer die Prschewalski-Urpferde gibt, obwohl ich schon lange nichts von ihnen gehört oder über sie gelesen habe, außer kürzlich einige Zeilen in einer Erzählung des abchasischen Dichters Fasil Iskander. Doch bezieht sich das, was er schreibt, auf die Zeit von Stalin, und der ist schon lange tot.“ (Parin, 1995, S. 41)

Sehnsucht nach Abenteuern

Paul besucht bis zu seinem 17. Lebensjahr keine Schule, sondern erhält Hausunterricht, den er als lehrreich und anschaulich in Erinnerung hat. Diese Form des selbständigen Lernens erscheint ihm in der Rückschau als ein außerordentlicher Glücksfall. Er liest sehr viel, baut eine eigene Bücherei auf, einschließlich pornographischer Bücher, machte aber auch Ausflüge in die Natur. In seinen Gesprächen mit seiner Biografin Ursula Rütten beschreibt er seine in seiner Jugend aufbrechenden Sehnsucht nach Abenteuern, nach Ausbrüchen lebendig:

„Ohne dass ich besonders gelitten hätte unter der Enge der Familie oder der Landschaft oder der Gegend, hat sich daraus eine Tendenz ergeben, wie es sicher für sehr viele Jugendliche typisch ist, dass ich ungefähr vom Alter von zwölf, dreizehn Jahren an das unternahm, was spätere Generationen mit Autostop gemacht haben. Ich nahm mir mein Fahrrad und machte oft schon ziemlich weite Ausflüge. (…) Ich war damals wirklich schon viel unterwegs, mit dem Rucksack, schlief irgendwo beim Bauern in der Scheune. Wirtshäuser waren zwar billig, dafür aber meist derart mit Wanzen und Flöhen bevölkert, was ich nun gar nicht ausstehen konnte. Mit sechzehn kam ich dann erstmals nach Dalmatien, wo ich nach der Hauptsaison, also am Ende des Sommers, meinen Onkel besuchte. Ich erinnere mich nur zu genau, ich hatte damals das Gefühl, noch nie ein richtiges Abenteuer erlebt zu haben. Das trieb mich an wie ein Motor. Das Gefühl habe ich gelegentlich heute noch. Die Neugier zu forschen hat mich seit früher Jugend nie verlassen und mein Leben mitbestimmt.“ (Rütten, 1996, S. 84f.)

Als Paul Parin 13 Jahre alt ist verstärkt sich seine Sehnsucht nach Abenteuern, nach einem Vater. Er sucht in der slowenischen Wildnis Teiche, wird ein begeisterter Reiter. Dann  möchte er seinen Handlungsraum ausweiten und wünscht sich von seinem Vater ein Paddelboot. Hierfür findet dieser kein Verständnis – wie Parin in dem Kapitel „Fluss an der Grenze“ in „Untrügliche Zeichen von Veränderung“ (Parin, 1980, S. 51-58) erzählt: Dieser verspricht ihm ein Boot, sofern er eine Mutprobe bestehe – und hält sich nicht an sein Versprechen:

„Im nächsten Frühjahr war der Vater bereit mitzukommen. Zu meiner Enttäuschung sah er kaum hin, sonderte redete mit dem Forstaufseher, während ich mutig über die Wasserpflanzen hinplätscherte, die sich um meine Beine schlingen wollten. Als ich frierend herausstieg, waren die beiden Männer in ihr Gespräch vertieft im Wald verschwunden. Ich wagte es lange nicht, meinen Vater an sein Versprechen zu erinnern, weil ich allzu erbittert war, und als ich darauf zurückkam, wollte er nichts mehr von der Sache wisse.“ (1980, S. 54) Paul lässt sich nicht entmutigen, die Lebenswelt bietet ausreichend Raum für die Phantasie und die Kreativität:
„Noch bevor ich vierzehn war, beschloß ich, die schäumende Savinja, die durch ihr Schotterbett im breiten Tal unten dahinströmte, mit meinem Boot, das ich `Vrag´, den Teufel, genannt hatte, zu befahren, um einen Freund zu finden. (…) Kaum hatte die Strömung das Boot erfaßt, kam ein Glücksgefühl über mich.“ (Parin, 1980, S. 55)

Abitur in Graz

Mit 17 Jahren besucht Paul Parin in Graz erstmals ein Gymnasium, um einen offiziellen Schulabschluss zu erlangen. Für den Juden Paul Parin war dies ein herausforderndes, seinen Widerstandsgeist weckendes Erlebnis. Es war, wie er es selbst formulierte, eine „Nazischule“, der größte Teil seiner Mitschüler wie auch seiner Lehrer sympathisierten mit den Nationalsozialisten. Paul Parin wusste, was dies für ihn als Juden bedeutete. Er vermag sich zu wehren, seine Gegner sprachlich bloßzustellen. Und er interessiert sich bereits als Jugendlicher für die Psychoanalyse, liest die Schriften Freuds: „Freud war einer der bahnbrechenden Kritiker unserer Zivilisation. In unserer Jugend, der Zeit der faschistischen Bewegung und neu entfesselter schrecklicher und grausamer Kriege, schien es uns nötig und dringlich, die Zivilisationskritik Freuds weiterzutreiben“, erinnerte er sich 1998 in einem Essay (Parin, 2006, S. 177).

Der Vater

1993, Parin war 77 Jahre alt, erinnert er sich in einem längeren Text an seinen Vater; dieser starb 1971. Vieles verbindet sie, vieles trennt sie. Ein aufrichtiger, dichter Text, voller von Sympathie getragener Ambivalenz, und voller Erinnerungen an seine ihn lebenslang prägende Kindheit. Und was er hieraus gemacht hat.

Parins erinnerte familiäre Familiengeschichte reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück: 1876 wurde sein Vater als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Triest geboren, ging in Genf zur Schule und studierte in Graz – alles Orte, die auch für Paul Parins späteren Lebensweg bedeutsam waren. Später lebte er als Weltmann, Ballonflieger und Sportmann in Wien, Paris und Madrid.  Die Weltzugewandtheit und kulturelle Offenheit seines Vaters imponierte ihm – trotz aller inneren Ambivalenz und späteren anarchistisch-sozialistischen Aufbegehrens, welches ihn „den doppelten Weg als Angepaßter und als Revolutionär“ gehen ließ (Parin, 1993, S. 20):

„Er war einer der ersten, die Tennis, Reiten, Autofahren (…) in seiner Heimatstadt einführte.“ (Parin, 1993, S. 7f.)  1912 heiratete dieser die aus Budapest gebürtige Renée Baumgarten, sie ließen sich im Gutshof Novikloster in der damaligen Südsteiermark (später gehörte es zu Jugoslawien, heute zu Slowenien) nieder, wo auch Paul und seine beiden Geschwister aufgewachsen sind. Dies war der Ort von Paul Parins Jugend, häufig hat er über Novikloster erzählt, so auch in dem berührenden Filmportrait von Marianne Pletscher (1996).

Im Frühjahr 1941, die Nationalsozialisten überfielen Jugoslawien und bombardierten Belgrad, muss sein Vater als Jude zusammen mit seiner Familie aus Novikloster fliehen, er geht nach Lugano. Über die Art seines Vaters, diesen Verlust – er hatte nun den Status eines Flüchtlings – in einer verleugnenden Form zu bearbeiten, führt Parin aus: „Den Verlust seines Besitzes betrauerte er nicht einen Tag. In den folgenden Jahren unternahm er noch weite Reisen nach Nordeuropa, nach Libyen, Westafrika, Mittelamerika und besonders nach den USA und Kanada“ (Parin, 1993, S. 9). Um wenig später deutend hinzuzufügen: „Nach der Flucht in die Schweiz und nach dem Verlust seines Vermögens hatte sich für ihn nicht viel geändert. (…) die Maxime: es hat keinen Sinn, sich mit etwas zu beschäftigen, das man nicht ändern kann – ersparte ihm Trauer und jedwede Einsicht.“ (Parin, 1993, S. 13)

Für mich klingt eine, wie es der zeitliche Abstand wohl ermöglicht hat, distanziert-liebevoll getönte Identifikation mit der Charakterstärke seines Vaters durch, wenn Paul Parin erinnernd ausführt:

„Wer meinen Vater kennengelernt hat, fand ihn charmant und war beeindruckt von seiner Energie und Intelligenz. (…) Auch Goldy, die Schwiegertochter, fand ihn charmant und liebenswürdig.“ (Parin, 1993, S. 11) Um wenig später zu ergänzen: „Meine Freunde, denen ich von meinem Vater erzählt habe, und andere, die noch in Novikloster zu Gast waren, haben mich gefragt: Es muss doch schrecklich gewesen sein, einen solchen Tyrannen zum Vater zu haben? Nein, sage ich, er war kein Tyrann; er war ein absoluter Herrscher.“ (Parin, 1993, S. 13)

Nach dem Verlust seines Vermögens sucht sich Parins Vater eine landwirtschaftliche Tätigkeit, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Diese Entschlossenheit und lebenspraktische Fähigkeit beeindruckt seinen Sohn sehr. In seiner Erzählung „Ergänzung einer Grabrede“ (in: Parin, 1993) spricht Paul Parin nun erstmals in persönlicher, anrührender Weise über das jüdische Schicksal seines Vaters.

Paul Parin hat nur selten darüber geschrieben, welche Bedeutung seine jüdische Herkunft – als Kind „einer typisch assimilierte(n) jüdische(n) Familie der Gründerjahre“ (Parin, 1980, S. 25) – für ihn (als Agnostiker im Geiste Freuds) hatte. Mit 16 Jahren hört er erstmals von Hitlers „Mein Kampf“, und erkennt die Gefahr sogleich.

Im Interview mit Ursula Rütten erinnert er sich: „Um mich, beispielsweise politisch, zu engagieren, brauchte es auch nicht erst den Auszug aus dem Elternhaus. Meine erste politische Demo machte ich im Alter von sechzehn Jahren. Sozialistisches Denken war mir bereits als Anfang Zwanzigjähriger vertraut. Eine Eigenschaft, die ich mir jedoch als sehr charakteristisch zuschreibe, ist Aktivismus.  Doch auch dafür brauchte es keines Schlüsselerlebnisses als Erwachsener. Dieses Übergehen vom Denken, Lesen, sich Ausbilden … in die Aktivität, das war mir eigentlich schon immer ein großes Bedürfnis.“ (Rütten, 1996, S. 107f.)

Kurz vor seinem Abitur in Graz erlebt er, wie drei jüdische Mitschüler ermordet werden. Er selbst vermochte sich insbesondere durch seine Sprachkunst zu wehren: Er verspottete seine nationalsozialistischen Mitschüler.

Ein starker Affekt – eine Konfrontation mit dem Antisemitismus

Der undogmatisch-marxistisch geschulte Widerstandskämpfer Paul Parin hat nur einige wenige explizite Beiträge über ein psychoanalytisches Verständnis des Antisemitismus veröffentlicht. 2012, anlässlich des dritten Todestages Paul Parins, habe ich diese Studien auf haGalil veröffentlicht.

Zwei Beiträge Parins seien hervorgehoben: Antisemitismus – Zur Psychologie eines Vorurteils: Hartnäckige innere Bilder sowie „Sozialpsychologie des Antisemitismus: Ein Interview mit Paul Parin. Inhaltlich-argumentativ sind sie mir als eher dogmatisch erschienen, wie einige seiner theoretischen Studien insbesondere aus den 70er Jahren, in denen er ein marxistisch inspiriertes Zusammenspiel von kritischer Psychoanalyse und Deutung gesellschaftlicher Machtverhältnisse vorlegte. Die 70er Jahre waren zugleich die Phase seiner, quantitativ betrachtet, größten theoretischen Produktivität (vgl. Reichmayr, 1996).

In einem Interview anlässlich seines 90. Geburtstages (Singer 2006) hat Paul Parin einige mehrfach wiederkehrende Szenen aus seinem Leben beschrieben, in denen er, ganz gegen seine Natur, von heftigsten Affekten überwältigt wurde, die er selbst nicht mehr bewusst mitbekam. Goldy, die dabei war, beschrieb sie ihm später. Bei einer Szene erlebten die Parins einen antisemitischen Übergriff:

„Ich bin im Allgemeinen ein ausgeglichener Mensch. Aber es gab eine wiederkehrende Störung, die war sehr seltsam. Ich habe manchmal, bei bestimmten Anlässen, wahnsinnige Wutanfälle bekommen und bin auf die Leute – was mir sonst gar nicht liegt – physisch losgegangen. Nachher hatte ich jeweils eine Erinnerungslücke. In Abständen von Monaten oder Jahren ist mir das passiert. Einmal waren Goldy und ich für einen Vortrag in Wien. Es war Winter, und wir gingen in eine bekannte Bar etwas trinken. Da kam ein Betrunkener rein, ein kräftiger, grossgewachsener Mann, aber der Barmann, offensichtlich ein Jude, ein freundlicher, untersetzter Mann, sagte ihm höflich, sie würden jetzt gleich schliessen. Da begann der Gast, ihn grob antisemitisch zu beschimpfen. Das war uns unangenehm. Wir bezahlten, zogen die Mäntel an und gingen hinaus. Draussen blieben wir noch einen Moment in dieser Gasse in der Altstadt stehen, als plötzlich dieser Betrunkene wieder auftauchte und den Barmann, der im Eingang stand, erneut massiv beschimpfte. Von da an erinnere ich mich an nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, stand ich etwa hundert Meter weiter weg, und ich fragte Goldy, wie ich dahin gekommen sei. Sie sagte mir, ich sei wie ein wildes Tier auf diesen Riesenkerl losgegangen, der habe sich schlagartig umgedreht und die Flucht ergriffen, und ich rannte ihm nach. Ich sei erst wieder zu mir gekommen, als er ausser Sichtweite war. Der Goldy hat das sehr gut gefallen. Solche Anfälle hatte ich immer mal.“ (Singer, 2006).

Bei einer anderen, vergleichbaren Szene erlebte er in der Züricher Bibliothek einen Übergriff einer Gruppe von Jugendlichen gegen einen einzelnen Jugendlichen, der mit starken Affekten der Entwertung verknüpft war. In diesen Szenen trat Parin mit einer solchen einschüchternden Heftigkeit auf, dass er ihm selbst körperlich nie etwas geschah. Die Beteiligten reagierten wohl mit einer seelischen Schockstarre. Parin erinnert sich: „Die Leute reagierten offenbar so, dass sie keinen Widerstand leisteten; als ob sie es mit einem Geisteskranken zu tun hätten, was ja in diesem Moment auch der Fall war.“ (ebda.) Paul Parin deutet diese Szenen nach einem Traum im Kontext seiner frühkindlichen Erfahrungen, im Alter von zwei bis vier Jahren, als er „eingegipst“ und auf fremde Hilfe angewiesen war. Gelegentlich hatte er hierbei Schmerzen. Seine eher „damenhafte“ Mutter war beim Umbetten von Pauls geschädigtem Körper auf die Unterstützung durch eine Tagesmutter angewiesen. Das Leid ihres behinderten, wehrlos ausgelieferten Sohnes trieben ihr Tränen in die Augen. An diese mütterlichen Tränen erinnerte Parin sich im Traum. An diesen geteilten Schmerz.

Studium der Medizin, als Partisan in Titos Untergrundarmee – und wieder zurück

Paul Parin studiert von 1934 bis 1938 in Graz, Zagreb und Zürich Medizin, wo er auch promoviert. Er liest viel, hierunter auch die Schriften Karl Marx´ sowie weiterer marxistischer Klassiker, deren undogmatischen Richtungen ihn prägen. Zugleich betätigt er sich antifaschistisch, macht Ausflüge an die slowenisch-österreichische Grenze, um Flüchtlingen, die sich hinüberretten wollten, beim Grenzübertritt zu helfen.

Er schließt sich, zusätzlich ermutigt durch seine erste Jugendliebe zu Ljuba, einer politischen Gruppe gleichaltriger Jugendlicher an, dem „Ausschuss zum Schutz der Nordgrenze“ (Parin, 1980, S. 59). Einmal überfallen sie eine Gruppe junger, nationalistisch auftretender Deutscher: „Unsere erste Aktion (…) wurde, zuerst, ein voller Erfolg. Wir alle waren in Siegesstimmung und tranken Sliwowitz, der uns nicht schmeckte. Wir hatten einige junge Deutsche überfallen, ihnen die weißen Strümpfe ausgezogen, so dass sie barfuß, die Schuhe in der Hand, heimlaufen mussten, während wir die Strümpfe der Landesverräter als Trophäen an Stangen durch das Städtchen trugen.“ (Parin, 1980, S. 59)

Seine eigene existentielle Gefährdung als Jude wird ihm zunehmend bewusst. In „Jahre in Slowenien“ (Parin, 1980) merkt er an:

„Meine Art vom Wissen um den Faschismus ging erst `durch den Kopf´, setzte sich fest als Ergebnis einer Analyse von Zeiterscheinungen, zusammengetragen aus Zeitungslektüre, den Geschichtskenntnissen eines Gymnasiasten, den Reden Mussolinis und Hitlers am Radio. Die zweite Art Wissen um den Faschismus stellte sich erst durch die sinnliche Erfahrung her, als ich in Graz Zeuge war, wie die Hakenkreuzler (das war die österreichisch-gemütliche Bezeichnung für die damals illegalen Nationalsozialisten) an unserer Schule in meinem Matura-Jahr 1934 nacheinander drei jüdische Mitschüler totschlugen (während ich, der letzte Nichtarier an dieser Schule, überlebte) und die österreichische Polizei keinen Anlass fand, diese Unfälle aufzuklären, die auch nicht ins Gewicht fielen, da das Dollfuß-Regime eben erst Hunderte von aufständischen sozialistischen Arbeitern mit Maschinengewehren, Mörsern und standrechtlichen Erschießungen liquidiert hatte.“ (Parin, 1980, S. 48)

Im Herbst 1937 wechselt Parin seinen Studienort: Er geht von Graz nach Zagreb, „um hier abzuwarten, ob die `braune Flut´ nicht noch einmal zurückebben würde, bevor sie Österreich überschwemmte.“ (Parin 1980, S. 88) Ein Jahr später, im November 1938, setzt Paul Parin sein Studium im „sicheren“ Zürich fort. Dort, in Zürich, findet er rasch einen sozialen, einen kulturellen Ort, wo sich die Unangepassten, die Emigranten, die Illusionslosen, die Pazifisten trafen: Das Café Select.

Viele seiner jüdischen Verwandten – sein Vater hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor in weiser Voraussicht einen Schweizer Pass erworben – emigrieren, Paul Parin jedoch nicht. Er muss von einer außerordentlichen Angstfreiheit gewesen sein: „Ich war neugierig, wie sich das entwickeln würde, und ich dachte: Ich komme immer durch“, erinnerte er sich (Singer, 2008).

Frei von trügerischen Illusionen beteiligen sich die Parins als anarchistisch-sozialistische „Brüdergemeinde“ mit ihrer chirurgischen Mission im antifaschi­stischen Kampf: „Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung auf eine Linie eine Fes­sel“ erinnerte sich Paul Parin (1991, S. 32) an seine damaligen Motive. Sein literarisches Erinnerungsbuch an seine Zeit bei den jugosla­wischen Partisanen erfuhr Anfang der 1990er Jahre, zu Zeiten, als der fürchterliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien begann, eine breite Resonanz. Paul Parin setzt seinem Erinnerungsband an diese revolutionäre Episode die Bemerkung voran: „Wir beide, Goldy und ich, mussten dieses Buch schreiben; da sie nicht gerne schreibt, habe ich es für sie geschrieben.“

Kurzer Aufenthalt in Triest

Juni 1946: Der Krieg ist vorbei, die deutschen Nationalsozialisten sind besiegt. Paul Parin wird bald 30. Wohin soll das Leben des jungen Arztes und Widerstandskämpfers führen?

40 Jahre später, 1985, befindet sich Paul Parin in der Abschiedsphase von seiner beruflichen Tätigkeit als Psychoanalytiker. Ein Jahr später schließt er seine Praxis im Utoquai 41. Zugleich ist dies ein Neuanfang: Es ist die Geburtsstunde eines jungen Schriftstellers. Paul Parin verfasst seinen – neben seiner Erinnerung an seinen tragisch verstorbenen Jugendfreund Gvic (vgl. Kaufhold, 2016a) – wohl dichtesten, persönlichsten literarischen Text: „Kurzer Aufenthalt in Triest oder Koordinaten der Psychoanalyse“ (in: Parin 1986/2000, S. 7-39). Hierin beschreibt er den räumlichen und seelischen Wechsel von Jugoslawien zurück nach Zürich. Nach Zürich geht er, um seine psychoanalytische Ausbildung zu beginnen. Es gelingt ihm, die von Trauer begleitete Trennung vom Ideal, die „Wut aus Enttäuschung über die jugoslawischen Genossen“ (Parin, ebd., S. 1986) in einer Gegenbewegung kreativ umzuformen. In einer abenteuerlichen Reise quer durch Südeuropa kehrt der junge Arzt wieder nach Zürich zurück. Dies war zugleich eine bewegende seelische Reise, vorwärts, zurück und wieder vorwärts – und hin zu seiner psychoanalytischen Ausbildung. 40 Jahre später erinnert sich Paul Parin an diese existentielle Erfahrung:

„Die Reise, von der ich berichte, liegt beinahe vierzig Jahre zurück. Ich fuhr von Prijedor in Nordbosnien nach Belgrad. (…) In Triest, das damals von alliierten Truppen besetzt war, gab es einen kurzen Aufenthalt. Dann ging es weiter über Mailand nach Zürich; dort wollte ich meine psychoanalytische Ausbildung beginnen. Der Weg war von Erlebnissen und heftigen Gefühlen begleitet, von denen ich heute die Motive ableite, die mich zur Psychoanalyse gedrängt haben. Stationen der Reise lassen sich als Orte einer Entwicklung beschreiben, die zur Psychoanalyse führt.“ (Parin, 1986, S. 7)

Gleich nach der Niederschlagung des Faschismus erkennen die anarchistisch inspirierten Parins, dass sie ihre Aufgabe erfüllt hatten. In der zunehmend bürokratischer und autoritärer werdenden einstmaligen Partisanenarmee ist kein Platz mehr für sie: „Nach dem Sieg waren wir überflüssig. (…) Die Kämpfer gegen die Unmenschlichkeit, die braven und glühenden Antifaschisten mußten in den Schatten treten. Militärische Kohorten und bürokratische Verwalter übernahmen die Reste Europas und gingen daran, auf ihre Weise Ordnung in die zerstörten Länder zu bringen, die wir Befreier ihnen räumen mußten.“

Die Parins nehmen den Zerfall der Kultur des Widerstands wahr, die Veränderungen in der Partei: „Mit den Funktionären der Partei gab es immer neue Konflikte.“ (ebd., S. 11) Der Wunsch, dass alles so bliebe wie in den Jahren des Kampfes, war so stark, dass sie keine Worte über ihre Zukunft fanden: „Wir hätten sagen müssen, daß es für uns in Jugoslawien keine gab.“ (a.a.O.)

Lehranalyse und Aufbruch nach Afrika

Gleich nach seiner Rückkehr nach Zürich beginnt Paul Parin seine psychoanalytische Ausbildung. Für ihn ist es die Fortsetzung seiner Guerillatätigkeit mit anderen Mitteln. Von 1946 bis 1952 absolviert er in Zürich eine Ausbildung in Neurologie und Psychoanalyse; 1958 ist er Mitbegründer des Psychoanalytischen Seminars Zürich (PSZ), welches er gemeinsam mit seinem Freund und Praxiskollegen Fritz Morgenthaler in den nächsten Jahrzehnten nachdrücklich prägt. In Zürich „allein“ halten sie es jedoch nicht lange aus.

Die Parins suchen immer wieder Freiräume, neue Erfahrungen, sind von einem unstillbaren Wissensdurst inspiriert. Erneut treibt sie ihr anarchistisch-utopisches Freiheitsbedürfnis vorwärts, zurück und noch weiter vorwärts: Hinaus aus dem, was ihnen keine Heimat zu bieten vermag – Zürich. Von 1954 bis 1971 unternehmen sie, meist gemeinsam mit Fritz Morgenthaler, sechs selbst finanzierte Forschungs­reisen nach Westafrika, um mit Hilfe der psychoanalytischen Gesprächs­technik das Seelenleben westafrikanischer Völker zu unter­suchen.

In seinem Essay „Requiem für ein Café“ erinnert er sich seiner seinerzeitigen Motive: „Als wir zur ersten Reise nach Afrika aufbrachen, hatten wir keine andere Absicht, als endlich dem grau werdenden Alltag in Zürich zu entkommen. Der Wiederaufbau Europas unter dem Schutz der atomaren Bedrohung bot uns keine lohnende Aufgabe. Endlich konnten wir unserer Neugier folgen, euphorisch reisen, in unser Zwischenstromland. Die Reise war ein voller Erfolg.“ (Parin, 2001, S. 118)

Durch ihre aus ihren ethnopsychoanalytischen Forschungen erwachsenen Studien über die Dogon – „Die Weißen den­ken zuviel“ (Parin/Morgenthaler/Parin-Matthèy, 1963) und “Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (Parin/Morgenthaler/Parin-Matthèy, 1971) – wird er zum Mitbegründer der Ethnopsychoanalyse. Diese wissenschaftlichen Forschungsstudien fanden eine überraschende Verbreitung: Die aufbegehrende 68er-Protestbewegung greift die markanten Buchtitel als Motto auf.

Bereits in diesen frühen Werken ist der für Parins Gesamtwerk kennzeichnende Übergang zwischen wissenschaftlicher Analyse und literarischer Erzählung deutlich erkennbar. Natürlich war Paul Parin sehr bewusst, dass seine wissenschaftliche Grenzübertretung auch heftigen Widerspruch unter Kollegen auslösen würde. In seinem 1993 verfassten Vorwort zur vierten Auflage von „Die Weißen denken zuviel“ erinnert er sich:

„Die Voraussetzung für die Verbreitung des Buches war, dass wir unseren wissenschaftlichen Bericht so schreiben wollten, dass ihn Leser ohne psychoanalytische Kenntnisse verstehen könnten. Denn wir sahen voraus, dass unsere Fachkollegen nicht eben gerne lesen würden, wie wir ihren – und unseren – bequemen Lehnstuhl hinter der Couch verlassen und gegen einen flachen Stein im Schatten eines Brotfruchtbaumes oder in einer Felshöhle eingetaucht haben.“ (Parin/ Morgenthaler/Parin-Matthèy, 1963/2006, S. I)

Die Parins haben nicht nur wissenschaftlich, sondern auch persönlich viel aus ihren Afrikaforschungen gewonnen:

„Als Psychoanalytiker sind wir wegen der lebendigen Erfahrung mit Afrikanern freier und mutiger  geworden, besser im Stande, auf die sozialen Beziehungen unserer Analysanden in Europa einzugehen, und weniger geneigt, ein Verhalten, das von unserem eigenen abweicht, als krankhaft anzusehen. Das hat auch auf unsere theoretischen Anschauungen zurückgewirkt.“ (Parin/Morgenthaler/Parin-Matthèy, 1963, S. 18)

In Afrika, © Johannes Reichmayr, www.paul-parin.info

1985 folgt mit seiner Er­zählsammlung „Zu viele Teufel im Land“ Paul Parins langer, schmerzhafter Abschied von Afrika. Diese faszinierende, erregende Essaysammlung ist von einem Gestus der Unerschrockenheit, der Neugierde, der emotionalen Offenheit geprägt. Im autobiografischen Rückblick wird ihm bewusst: Ihre sieben großen Forschungsreisen nach Afrika haben nur geklappt, weil alle Beteiligten von den identischen Motiven geleitet wurden: „So verschieden wir vier Reisende auch sind, die Neugier und Lust auf Abenteuer hat uns immer zusammengehalten.“ (Parin 1985, S. 89)

Die Grundhaltung der von ihnen entwickelten ethnopsychoanalytischen Forschungsmethode beschreibt Parin so:

„Um das Fremde zu verstehen, ist es gut, Abstand zu nehmen: ich bin so – sie sind anders. Dann kann es geschehen, daß ich das fremde Leben in mir selber entdecke. Ein Gefühl steigt auf, das ich von früher her kenne. Der Blick nach innen, hinter meine Leidenschaften, Konflikte und Vorurteile, hebt die Verzerrung auf. Wie die dort sind, das kenne ich an mir selber, so war es doch auch bei mir, und doch nicht gleich wie bei ihnen. Aus der Konfrontation mit dem Fremden entsteht ein eigenartiges Hin und Her, eine Spannung, die lustvoll ist oder quälend, oder beides zugleich. Ich weiche der eigenen Vergangenheit nicht aus und erzähle von meiner Kindheit. Ein europäischer Junge hat Afrikanisches erlebt.“ (Parin 1985, S. 109).

Zurück nach Zürich: Kultur- und Gesellschaftskritik und Erzählungen

In den 1970er und 80er Jahren publizierte Paul Parin, zum Teil gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy, zahl­reichen psy­choana­lytisch-kulturkritischen Studien, versammelt in den Sammelbänden „Der Widerspruch im Subjekt“ (Parin, 1978) und „Subjekt im Widerspruch“ (Parin/ Parin-Matthèy, 1986). Wo immer möglich und nötig mischte er sich fortan in den öffentlichen Diskurs ein, belebte diesen durch sei­nen unbestechlichen, analytisch geschärften Blick auf gesellschaft­liche Gewaltverhältnisse, sowie mittels seiner beeindrucken­den Sprachkraft. „Das Politische ist immer auch per­sönlich“, was gleichermaßen auch umge­kehrt gilt, verdeutlichte Parin immer wieder (Parin, 1993a, S. 130) – sehr zum Unwillen vieler seiner konservativen Berufskol­legen, die nach der schwie­rigen gesellschaftlichen Etablie­rung der Psychoanalyse gar zu gerne das kulturkritische Erbe Freuds loszuwerden versuchten. Seine Position als kritischer Sozialist und „moralischer Anarchist“ (Christa Wolf, 1993) brachte er mit den Worten André Bretons zum Aus­druck: „Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir gehören ihr nur in dem Maße an, als wir uns gegen sie auflehnen.“ (Parin, 1993a, S. 131)

1980 schließt Paul Parin aus Altersgründen seine psychoanalytische Praxis. Im gleichen Jahr erscheint mit „Untrügliche Zeichen von Verände­rung: Jahre in Slowenien“ sein literarisches Erstlingswerk, angefüllt mit  prallen Erinnerungen an seine Kindheit in Slowenien und seinem Gut Novikloster. Es waren lebenslang prägende Erfahrungen in einem multikulturellen Milieu. Die Grundlagen für seine spätere Entwicklung der Ethnopsychoanalyse waren gelegt.

1991 erscheint sein Jugoslawienbuch „Es ist Krieg und wir gehen hin“, durch welches er seinerzeit sowohl in literarischen als auch in politischen Kreisen eine beachtliche Bekanntheit erlangte. Die Entscheidung für eine aktive Beteiligung am antifaschistischen Kampf bei Titos Partisanen fiel ihm leicht: „Wir waren in einer Zeit erwachsen geworden, in der es für junge Menschen ungleich leichter war als später nach dem Krieg, eine entscheidende Wahl zu treffen. Wer einigermaßen wach und lebendig war, musste gegen den aufkommenden Faschismus sein – oder eben nicht. Es war immer eine Wahl `fürs Leben´“ (Parin, 1991, S. 30).

1993 und 1995 erscheinen seine Erzählsamm­lungen „Karakul“ und „Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären“. An seinem 80. Geburtstag am 20.9.1996 erscheinen mehrere Gratulationen, darunter eine Hommage von mir in der Frankfurter Rundschau, betitelt mit „Ein moralischer Anarchist“; der Titel war eine Anspielung auf eine Formulierung von Christa Wolf (1993). Überschattet wurde sein Geburtstag durch einen Überfall auf die inzwischen 86-jährige Goldy Parin-Matthèy, bei dem sie schwer verletzt wurde. Paul Parin zieht daraufhin kurzentschlossen in das Krankenzimmer mit ein, wie es in einer abschließenden Filmsequenz  in Marianne Pletschers Filmdokumentation (1996) über Paul Parins Vita dokumentiert ist. Parin schrieb mir daraufhin am 3.10.1996: „… Auf die Besprechung von „Karakul“ freue ich mich richtig. Das gibt mir einen Impuls weiterzuschreiben. Er war unterbrochen durch den Überfall auf Goldy P.-M. Doch habe ich kürzlich immerhin zwei ganz kurze Erzählungen schreiben können, um zu erproben, „ob es noch geht“. Ihr Aufsatz in der FR hat übrigens den Glückwunschwirbel zu meinem Geburtstag noch verstärkt. Das ist schön aber auch eine Abhaltung. (…) Ein richtiger Anarchist bin ich wohl nicht. Sonst wären die Leute nicht so freundlich zu mir.“

Tod von Goldy Parin-Matthèy – das Leben als Epilog

Nach dem Tode von Goldy im Jahr 1997 schien Paul Parin kurzzeitig zu resignieren. Die Trauer war übermächtig. Die Versuchung zum Freitod war groß, und doch gab er ihr aus Liebe zu Freunden nicht nach. Vielleicht war dies seine größte Lebensleistung überhaupt. In einer Schublade bewahrte er 50 Jahre lang die Pistole auf, die er während seiner Zeit bei Titos Partisanen getragen hatte. Seine Motive für das Aufbewahren dieser Waffe deutet Paul Parin so: „Als Erinnerungsstück brauche ich sie nicht. Von Zeit zu Zeit prüfe ich die Patronen. Es war richtig, sie nicht unter den Zug zu werfen. Als Analytiker soll man neurotische Ängste überwinden und die Wirklichkeit nicht aus dem Blick lassen.“ (Parin 2001, S. 7)

Paul Parin veröffentlichte weitere literarische Erzählungen, die er als einen Epilog zu ihrem langen gemeinsamen Leben verstand. Er vermag wieder zu erzählen, sich zu erinnern. 2001 erscheint mit „Der Traum von Segou“ eine Sammlung von Erzählungen, die von afrikanischen Episoden handeln, aber auch faszinierende Erinnerungen an seinen jüdischen Großvater Heinrich Baumgarten („Ein Europäer aus Miskolc“) und an seine Jugendfreunde Manoli und Thaddeus enthalten. In seinem den Erzählband einleitenden „Prolog zum Epilog“ beschreibt er seine durch seine übermenschliche Trauer ausgelöste existentielle Grenzsituation in lakonisch-rührender Weise:

„Als Goldy am 25. April 1997 gestorben war, entschloss ich mich weiterzuleben. Schon seit einigen Jahren hatten wir uns aus dem tätigen Leben zurückgezogen und lebten – glücklich wie früher – mit Lesen und Schreiben beschäftigt in der Welt der Literatur. Was folgt, ist ein Epilog.
Als die Gäste, die zum Abschied gekommen waren, fortgingen, las ich die übrigen drei Erzählungen im Buch `Traum am frühen Morgen´ von Hans Christoph Buch; die drei ersten Erzählungen hatte ich noch Goldy vorgelesen. Dann war sie zu schwach, um zuzuhören. Ich fand, dass ich die drei besten Erzählungen vorgelesen hatte, die drei weiteren gefielen mir nicht so gut. Das hat für kurze Zeit meinen Schmerz gelindert.“ (Parin, 2001, S. 7)

Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy, © Johannes Reichmayr, www.paul-parin.info
Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy, © Johannes Reichmayr, www.paul-parin.info

Es gelingt Paul Parin, seine literarische Produktivität wiederzufinden. Auch in der Phase seiner tiefsten Trauer verfasst er Rezensionen und politische Aufrufe für  Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten.

2003 erscheint der erregende, verstörende Band „Die Leidenschaft des Jägers“, 2005 „Das Katzenkonzil“ und 2006 – Paul Parin war zu diesem Zeitpunkt nahezu erblindet – seine von Traute Hensch herausgegebene Aufsatzsammlung „Lesereise 1955 – 2005″.

Paul Parin war mir stets ein ferner und doch naher Freund. Ich habe für ihn ein Gefühl einer sehr tiefen Zuneigung empfunden. Ich werde diesen skeptischen Menschenfreund und großartigen Erzähler sehr vermissen. Eine anlässlich seiner Kölner Lesung selbst gemachte Fotocollage hängt in meiner Küche. „Ist dies Dein Vater“, werde ich verschiedentlich gefragt. Dies vermag ich mit Nachdruck zu verneinen. Paul wird mich bis zu meinem Dahingehen begleiten.

In Paul Parins bebildertem „Katzenkonzil“ findet sich die Bemerkung, „daß sich Fuchs und Katz nie treffen würden.“ (Parin, 2002, S. 27) Nun haben sich Fuchs und Katz wieder.

Literatur

Kaufhold, R. (1996): Ein moralischer Anarchist. Der streitbare Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin wird heute 80 Jahre alt, Frankfurter Rundschau, 20.9.1996, S. 7 (einige meiner Parin-Beiträge finden sich hier: http://roland-kaufhold.blogorio.com/content/portraits)

Kaufhold, R. (2009): „Ein moralischer Anarchist“. Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.09.1916–18.05.2009), psychosozial Nr. 117 (3/2009), S. 117-126.

Kaufhold, R. (2016a): „Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen.“ Paul Parin – Biografische Facetten aus dem Leben eines Abenteurers“. In: Reichmayr, J. (Hg.) (2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gegenübertragung in transkulturellen und postkolonialen Kontexten. Paul Parin zum 100. Geburtstag. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2016.

Kaufhold, R. (2016b): „Für einen Juden ist „nach Auschwitz“ nichts mehr so, wie es früher war.“ Zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers und Schriftstellers Paul Parin. In: Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 55, 2016).

Kaufhold, R. (2016c): „So einen Menschen kann man nur kennenlernen, wenn man zumindest eines seiner Abenteuer  miterlebt.“ Zum 100. Geburtstag von Paul Parin (20.09.2016 – 18.05.2009), Kinderanalyse 24. Jg., H. 1/2016, S. 76-86.

Modena, E. (Hg.) (2007): Leidenschaften. Paul Parin zum 90. Geburtstag. Berlin (Edition Freitag).

Parin, P.; Morgenthaler, F. & Parin-Matthèy, G. (1963/2006): Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P., Morgenthaler, F. & Parin-Matthèy, G. (1971/2007): Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Parin, P. (1980): Untrügliche Zeichen von Veränderung. Jahre in Slowenien. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (1985): Zu viele Teufel im Land. Aufzeichnungen eines Afrikareisenden. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. & Parin-Matthèy, G. (1986/2007): Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978–1985. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Parin, P. (1990): Noch ein Leben. Eine Erzählung. Zwei Versuche. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Parin, P. (1991): Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (1993): Karakul. Erzählungen und ein Faksimile. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (1993a): Zur Verleihung des Literaturpreises 1992 der Internationalen Erich Fried Gesellschaft Wien, 3. Mai 1992. In: psychosozial, 16. Jg. (1993), Heft I (Nr. 53), 126–131.

Parin, P. (1995): Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (2001): Der Traum von Segou. Neue Erzählungen. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (2003): Die Leidenschaft des Jägers. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (2005): Das Katzenkonzil. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Parin, P. (2006): Lesereise 1955–2005. Hg. Traute Hensch. Berlin (Edition Freitag).

Pletscher, M. (1996): »Mit Fuchs und Katz auf Reisen, zum achtzigsten Geburtstag von Paul Parin«, Filmportrait, 22.09.1996, 3-Sat: 17.10.1996, 45 Min.

Reichmayr, J. (Hg.) (2006): Paul Parin: Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Reichmayr, J. (Hg.) (2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gegenübertragung in transkulturellen und postkolonialen Kontexten. Paul Parin zum 100. Geburtstag. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2016.

Rütten, U. (1996): Im unwegsamen Gelände. Paul Parin – Erzähltes Leben. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

Singer, David (2006): „Ich weiss es noch nicht“. In: Die Weltwoche, Jg. 74, Nummer 35, 31. August, 2006, S. 54-57. Wiederveröffentlicht in Reichmayr (Hg.) (2016).

Wolf, C. (1993): Ein Weg nach Tabou. „Laudatio“ auf den Wissenschaftler und Erzähler Paul Parin. In: psychosozial, 16. Jg. (1993), Heft I (Nr. 53), 119–125.

9783837926071Dieser anlässlich Paul Parins 100. Geburtstages verfasste Beitrag ist die von Roland Kaufhold stark gekürzte Version seines Buchbeitrages:

Kaufhold (2016a): „Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen.“ Biografische Facetten aus dem Leben eines Forschungsreisenden. In: Reichmayr, J. (Hg.) (2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gegenübertragung in transkulturellen und postkolonialen Kontexten. Paul Parin zum 100. Geburtstag. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2016.

Wir danken dem Gießener Psychosozial-Verlag und seinem Verleger Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung und empfehlen dieses 623 Seiten umfassende Werk über Paul Parins Vita und Wirken der Lektüre.

Zum haGalil-Themenschwerpunkt zu Paul Parin:

https://www.hagalil.com/2012/05/parin-3/

Aktuelle Infos zu den Ereignissen rund um Paul Parins 100.ten Geburtstag:

http://paul-parin.info/aktuelles/

Weiterhin ist soeben von Paul Parin neu erschienen:

Michael Reichmayr (Hg.): Augen Blicke West Afrika. Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy, Fritz und Ruth Morgenthaler auf ihren Reisen 1954-1971 / Katalog zur Ausstellung »Paul Parin als Fotograf«, Psychosozial Verlag 2016.

Bild oben: © Roland Kaufhold / Psychosozial Verlag