Taxi am Shabbat: Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas

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Prag, Budapest, Lemberg und viele Orte mehr waren einst nicht nur bedeutende Zentren des jüdischen Lebens in Osteuropa bzw. des gesamten europäischen Judentums, sondern haben sich auch in die Topographie des allgemeinen jüdischen Gedächtnisses eingeschrieben. Doch wie sieht es heute in diesen Städten aus? Die Journalisten Eva Gruberová und Helmut Zeller haben auf ihren Reisen in sieben postkommunistischen Staaten sehr persönliche jüdische Geschichten gesammelt, die auch einen differenzierten Blick auf die schwierigen politischen Umstände in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen, Weißrussland, Litauen und der Ukraine gewähren…

Von Monika Halbinger

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dominierte eine gewisse Euphorie, es war die Rede von einer Renaissance, von einem Wiedererblühen jüdischen Lebens. Der Untergang der  kommunistisch-repressiven Systeme würde das Judentum wieder erstarken und an ursprüngliche Größe anknüpfen lassen – so eine vielerorts geäußerte Hoffnung. Tatsächlich gab und gibt es eine Rückbesinnung auf das jüdische Erbe, das die Autoren auch bei ihren Besuchen erfahren. In Polen beispielsweise versuchen Personen jüdischer Herkunft an die verschütteten Traditionen ihrer Familie anzuknüpfen. Auch viele junge Katholiken interessieren sich für ihre jüdischen Vorfahren und verstehen das Judentum als integralen Bestandteil der polnischen Geschichte, die jüdische Abwesenheit wird sogar als „Phantomschmerz“ beschrieben. Seit ungefähr 15 Jahren ist es Mode, Jude zu sein. Małgorzata Zajda, Leiterin des Seniorenclubs des Jüdischen Gemeindezentrums in Krakau (JCC), versteht nicht, „warum so viele junge Polen plötzlich jüdische Wurzeln haben wollen“ (S. 143). Dieses Phänomen findet auch Ausdruck in einem weit verbreiteten Witz, der sich allerdings auf die polnische Hauptstadt bezieht: „Was tun die Warschauer heute, wenn sie auf der Straße einen Juden erblicken? Sie packen ihn und – tragen ihn auf Händen.“ (S. 132)

Diese Stimmung spiegelt sich auch im öffentlichen Raum wider, wobei hier mit der Verknüpfung von Kitsch und Kommerz  vor allem wirtschaftliche Interessen bedient werden. Die touristische Erschließung der ehemaligen jüdischen Viertel hat vor allem in Polen und Tschechien wenig mit dem realen Leben von Juden zu tun, sondern kreiert einen virtuellen jüdischen Raum, wie dies schon Ruth Ellen Gruber im Jahr 2002 in ihrer klugen Studie „Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe“ konstatiert hat. Dieses Judentum bedient vor allem projektive Sehnsüchte, wie es auch in der Klage des tschechischen Landesrabbiners Karol Sidon deutlich wird, nach dem sich der Westen osteuropäische Juden vor allem „als tanzende Chassiden“ vorstelle (S.6).

Dennoch gibt es auch einige konkrete Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinden: mit Altenheimen, Kindergärten, Jugend-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen soll Juden eine gewisse Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden, die aber eher kulturell-traditioneller Art ist. Und hier offenbaren sich dann auch Spannungen mit den religiösen Anforderungen, denn an einer ausreichend religiösen Versorgung – zumindest nach orthodoxen Gesichtspunkten –mangelt es in der Regel. In Lemberg beispielsweise sind weder koschere Läden noch Restaurants vorhanden. Generell führen viele Juden in Osteuropa ein unorthodoxes Leben, dessen Jüdischkeit auf sehr viel Eigeninterpretation beruht. So verzichtet die 20-jährige Sara Charedis aus Krakau an Schabbat auf warmes Essen, was eigentlich dem Geist dieses Feiertags widerspricht und eher an die Karäer, eine Sekte, die das rabbinische Judentum ablehnt, erinnert. Dass ältere Personen mit dem Taxi an Schabbat von der Synagoge an die Wohnorte am weit entfernten Stadtrand zurückfahren, ist zwar für Orthodoxe unvorstellbar, aber aus praktischen Gründen verständlich. Ebenso, dass in der jüdischen Gemeinde im weißrussischen Minsk, Kabbalat Schabbat schon am Freitagnachmittag begangen wird, damit alle noch vor Einbruch der Dunkelheit daheim sein können (S.172/173). Die Gemeinden und ihre Mitglieder kommen da bisweilen in Konflikt mit den Rabbinern wie z.B. in Prag, wo der tschechische Landesrabbiner Karol Sidon die Zukunft des Judentums in der Orthodoxie sieht, was ihm den Unmut der weniger frommen Prager Juden bescherte.

Generell spielt die Halacha, also das jüdische Religionsgesetz, oft eine untergeordnete Rolle. Viele sehen sie als „entbehrlichen Luxus“ in der Diaspora, was sich vor allem in der Frage nach jüdischer Identität und Zugehörigkeit manifestiert. Diese wird recht unterschiedlich beantwortet, häufig aber ist in den besuchten Gemeinden ein gewisser Pragmatismus vorherrschend, der natürlich auch mit der nahezu restlosen Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoah zusammenhängt. Während die Warschauer Gemeinde als Aufnahmebedingung mindestens ein jüdisches Großelternteil fordert, reicht für die Mitgliedschaft im Lemberger Standort der weltweit größten jüdischen Studentenorganisation Hillel ein jüdischer Urgroßvater. Hier wird somit sogar über das Rückkehrgesetz des Staates Israel hinausgegangen (S.239).

Diese Offenheit generiert erstaunliche Lebensstile, bei denen man angesichts der gesellschaftlichen Umstände nicht so sehr von gewöhnlichen modernen Hybrididentitäten ausgehen kann, sondern eher  kulturelle Aneignungen unter der Dominanz der Mehrheitsgesellschaft vermuten muss, bei denen das Judentum nur noch in folkloristisch-sentimentalen Spuren eine Rolle spielt. So etwa bei der jungen Katholikin Orinta, die mehrmals die Woche in die Kirche geht, seit geraumer Zeit aber auch Mitglied der jüdischen Gemeinde in Kaunas ist, da sie sich aufgrund einer in der Familie kolportierten jüdischen Herkunft als Jüdin fühle (S.200).

Letztlich am problematischsten und was auf längere Sicht aktives, selbstbewusstes jüdisches Leben eher unmöglich machen könnte, sind die gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Die meist antizionistische Vergangenheit dieser Staaten sowie die Geschichte antijüdischer Säuberungen während der kommunistischen Ära als auch die Unterdrückung religiöser Praxis im Kommunismus haben Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Trotz des wiederholt postulierten, bisweilen zeitgeistigen Philosemitismus zeigen Umfragen erschreckende Tendenzen. In Polen würde es jeder zweite 16jährige missbilligen, wenn Freunde oder Familienangehörige jüdisch wären (S.144) und 31% der Litauer lehnten 2006 jüdische Nachbarn ab (S.208).

Vor dem Hintergrund einer Opferkonkurrenz gibt es viele Bestrebungen innerhalb der osteuropäischen Gesellschaften, die Geschichte umzuschreiben. So wollen sich viele (nichtjüdische) Ungarn vor allem selbst als Opfer sehen, eine Historikerin wirft den Überlebenden und ihren Angehörigen sogar vor, selbst Mitleid erhalten zu wollen, aber für das Leid der anderen taub zu sein (S. 93). Rechtsextreme, faschistische Strömungen sind sehr mächtig, der Kult um den Antisemiten und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy ist in ganz Ungarn sehr lebendig. In Polen gehen bestimmte Kreise innerhalb der katholischen Kirche immer stärker auf Distanz zum Judentum, in ganz bewusster Abgrenzung zu Papst Johannes Paul II., der schon aufgrund seiner engen biographischen Bindungen zum Judentum, Aussöhnung und Dialog mit diesem suchte. Kollaboration und Judenhass sollen verschwiegen werden, die Polen (hier werden die jüdischen explizit exkludiert),  die mindestens genauso wie die Juden gelitten hätten, seien eine unschuldige Nation (S.120). Diese Tendenzen sind nun ja auch offizielle Geschichtspolitik geworden, wenn wie in diesen Tagen die Tatsachenfeststellung der Beteiligung von Polen am Holocaust unter Strafe gestellt wird.[1] Die strafrechtliche Verfolgung jüdischer Partisanen in Vilnius im Jahr 2009, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden, geschah darüber hinaus ganz im Sinne einer radikalen antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr (S. 220).

Diese Entwicklungen müssen aber auch in einem größeren Kontext gesehen werden, nämlich in Zusammenhang mit dem allgemeinen Rechtsruck innerhalb der osteuropäischen Staaten. Gerade die sogenannten Visegrád Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) sind in letzter Zeit aufgrund ihrer mangelnden Solidarität in der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU sowie ihr Abdriften in Richtung illiberale Demokratien in die Schlagzeilen geraten, was wiederum als Ausdruck einer Krise der europäischen Gemeinschaft insgesamt gesehen wird. Als der renommierte Historiker Jan T. Gross die xenophobe Flüchtlingspolitik Polens als Folge der nicht aufgearbeiteten antisemitischen Geschichte benannte, war er zahllosen Anfeindungen ausgesetzt (S. 127). Und in Tschechien musste Landesrabbiner Sidon angesichts der flüchtlingsfeindlichen Rhetorik, die ausgerechnet bei der Gedenkfeier für die Opfer von Theresienstadt im Mai 2016 artikuliert wurde, daran erinnern, dass Juden auch deshalb umgekommen sind, weil ihnen der Großteil der Welt kein Asyl gewährt hat (S. 30/31).

Dass diese bedrückende Geschichtsvergessenheit natürlich keineswegs nur auf Osteuropa beschränkt ist, wird im Buch auch thematisiert. Letztlich ist die geschichtsklitternde Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus Bestandteil der Prager Erklärung aus dem Jahr 2008, die unter anderem auch vom ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck mitunterzeichnet wurde. Diese komme – kritisiert der Historiker und Leiter des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem, Efraim Zuroff  heftig –  der Relativierung des Holocaust gleich (S.194/95). Und eine andere Episode macht die Virulenz des Antisemitismus auch in Deutschland deutlich. Während der Schabbatfeier erzählt eine Frau in Lemberg, dass der Schwiegervater ihrer Tochter, die in Deutschland verheiratet sei, Chef der örtlichen Gestapo war. Über die eigene jüdische Identität habe ihre Tochter selbst mit ihrem Ehemann nicht gesprochen. Während sich also Täter problemlos outen, muss jüdische Identität immer noch beschwiegen  und versteckt werden (S. 235).  

Eva Gruberová und Helmut Zeller haben in ihren Länderreportagen für „Taxi am Shabbat“ sehr gekonnt persönliche Geschichten, sowohl die von Überlebenden, als auch die junger Leute, in die politisch-gesellschaftliche Entwicklung sowie den historischen Kontext gebettet. Sie nähern sich dabei den unterschiedlichen Biographien durchaus detailliert und werden der Komplexität der Themen weitestgehend gerecht. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass eine rassistisch-stereotype Beschreibung wie „ rundes slawisches Gesicht“, wenn auch als „Klischeebild“ gekennzeichnet, doch mehr als irritiert (S. 231), bei einer ansonsten recht reflektierten Sprache. Der Umstand, dass Portraitierte meist mehrmals, mit dem Abstand von einigen Jahren besucht wurden, lässt Entwicklungen gut sichtbar werden. Gábor Szilágy  aus Budapest beispielsweise bezeichnet sich bei der erstmaligen Begegnung als Ausdruck der „Renaissance des Judentums“. Er hat seine Berufung als Kantor gefunden, fühlt sich seiner Heimatstadt sehr verbunden und sieht sich als „echter Pester Junge“. Bei einem weiteren Besuch zwei Jahre später spielt Szilágy  allerdings mit dem Gedanken auszuwandern, da er sich „nicht gut in Ungarn [fühle].“ (S.114)

Diese Begebenheit deutet schon darauf hin, dass letztlich ein ernüchterndes, sogar pessimistisches Fazit zu ziehen ist – zumindest von der Rezensentin. Man darf angesichts der politischen Entwicklung und des damit einhergehenden gesellschaftlichen Klimas bezweifeln, ob jüdisches Leben sich wirklich dauerhaft in den bereisten Ländern verankern kann. Es bleibt nur zu hoffen, dass Milan Chersonskij, ein Streiter für Liberalismus und Toleranz in Litauen, unrecht hat. Dieser konstatierte resigniert: „Europa ist in Auschwitz gestorben“ (S.220).

Eva Gruberová/Helmut Zeller: Taxi am Shabbat. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas, C.H. Beck Verlag, München 2017, 271 S., Euro 18,00, Bestellen?

[1] Siehe dazu: Gabriele Lesser: Schuld und Ehre. Warschau und Jerusalem streiten über polnische Kollaborateure, Jüdische Allgemeine 1.2.2018, online: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/30733