Neustart ins Leben – Nach der Shoa nahm Kanada über 1.000 jüdische Waisen auf

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„Als wir am 31. Januar 1948 endlich die General Sturgis bestiegen, verschlug es uns die Sprache; das Schiff war ein Wrack, ein Seelenverkäufer“, erinnert sich Szija Smilovic. „Doch zum Teufel, was soll’s? Yippie Hurra! Es geht los, auf Wiedersehen Europa – lebe wohl! Kanada wir kommen!“…

Von Jim G. Tobias

Der am 8. Februar 1930 in der tschechoslowakischen Stadt Mukačevo, Geborene hatte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt. Er war im April 1945 von US-Soldaten befreit und nach einem kurzen Aufenthalt in einer Klinik in seine Heimat zurückgekehrt. Doch weder einer seiner sechs Geschwister noch die Eltern hatten die Shoa überlebt. Über verschlungene Wege strandete Szija 1946 im Displaced Persons (DP) Lager Föhrenwald. Über einen Zwischenaufenthalt in Stuttgart gelangte er schließlich ins International Children’s Center Aglasterhausen (Odenwald). In diesem von der UN-Hilfsorganisation UNRRA geführten Kinderheim warteten nach dem Krieg Hunderte von Jungen und Mädchen auf ihre Ausreise nach Nordamerika.

Ein sicheres Zuhause: das UNRRA Kinderlager Aglasterhausen. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)

Auch Eva und Josef Gross aus der Stadt Nyirbator (Ungarn) hatten Auschwitz überlebt. Nach der Befreiung verschlug es die Geschwister in die US-amerikanische Besatzungszone. Für über ein Jahr lebten sie in einer DP-Gemeinde in Passau, anschließend im DP-Camp Schwäbisch Hall. Dort erfuhren sie vom „War Orphan Project“ der kanadischen Regierung. Sie erklärten sich kurzerhand zu Zwillingen, reduzierten ihr Alter um einige Jahre und änderten ihr Geburtsdatum auf den 7. März 1931. Mit dieser Finesse erfüllten sie – und manch andere Jugendliche – die Voraussetzungen für eine Emigration nach Kanada.

Schon 1945 hatte der Canadian Jewish Congress (CJC) die Regierung aufgefordert, elternlose jüdische Kinder und Jugendliche aufzunehmen und ihnen ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu ermöglichen. Nach intensiven Verhandlungen gestattete Kanada im Rahmen des „War Orphan Project“ die Einreise von Jungen und Mädchen unter 18 Jahren, die nach der Befreiung aus den Konzentrations- und Arbeitslagern in den Children’s Centers ausharrten.

Unmittelbar nach Kriegsende hatte die US-Armee überall in Deutschland Kasernen, Sanatorien oder Hotels beschlagnahmt, um die vielen „unbegleiteten“ Kinder, deren Eltern verschollen oder ermordet worden waren, dort unterzubringen, sie mit dem Nötigsten zu versorgen und ihnen dabei zu helfen, ein neues Leben aufzubauen. 1946 waren allein 25.000 jüdische Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren registriert, davon 6.000 Waisen. Während die Mehrheit dieser Jungen und Mädchen von zionistischen Organisationen in Kibbuzim zusammengefasst und auf eine Zukunft in Erez Israel vorbereitet wurden, versuchten andere, zumeist Jugendliche, in den klassischen Emigrationsländern, wie die USA, Australien oder Kanada, Fuß zu fassen. Unterstützung erhielten sie dabei von jüdischen Vereinigungen in diesen Ländern.

Die ersten 20 jüdischen Waisen aus den Children’s Centers erreichten am 18. September 1947 an Bord der Aquitania den Hafen von Halifax in der Provinz Nova Scotia. Weitere Schiffe folgten. „Nun sind schon 137 Kinder in Kanada angekommen“, notierte der Beauftragte des Canadian Jewish Congress, Manfred Saalheimer, Anfang Dezember 1947. „Rund 50 weitere werden noch vor Chanukka erwartet.“ Der CJC hatte Saalheimer mit der Leitung des „War Orphan Project“ beauftragt und ihn nach Europa geschickt, um dort Jungen und Mädchen auszuwählen, die für eine Aufnahme in Kanada infrage kämen. Die Kandidaten durften das 18. Lebensjahr noch nicht überschritten haben, sie mussten zudem Vollwaisen und in guter gesundheitlicher Verfassung sein. Eine Kostenübernahme für die Überfahrt und eine Bürgschaft für die erste Zeit in Kanada war unabdingbar. Eindringlich appellierte der CJC daher an die Bevölkerung: „Da wartet ein jüdisches Kind in den DP-Camps Europas darauf, dass du ihm einen Start ins Leben ermöglichst; es braucht ein Zuhause, eine Familie sowie die Liebe und Betreuung von Vater und Mutter. Wenn Platz in deinem Herzen ist, dann ist auch Platz in deinem Haus“, war in einem Aufruf zu lesen.

Ende Januar 1948 bestiegen auch Eva und Josef in Bremerhaven die General Sturgis. Der ehemalige US-Truppentransporter verkehrte regelmäßig zwischen Deutschland und Nordamerika und brachte Hunderte von DPs in die Neue Welt. Am 6. Februar 1948 erreichte das Schiff den kanadischen Hafen von Halifax. Für 30 Jungen und Mädchen aus Aglasterhausen begann nun der Start in ein neues Leben: in Freiheit und Sicherheit.

Eva (1. v. L.) und Josef Gross (3. v. L.) im Kreis der Familie (1938). Die Eltern, ein Bruder und eine Schwester wurden ermordet. Die restlichen Geschwister fanden eine neue Heimat in Kanada oder Australien. Foto: Privatarchiv Familie Gross

Zwischen September 1947 und März 1952 immigrierten rund 1.100 jüdische Waisen aus den DP-Kinderheimen in Deutschland, Frankreich, Österreich oder Italien nach Kanada. Die Shoa-Überlebenden waren durch die „Hölle gegangen, sie hatten alles verloren“, schrieb ein CJC-Mitarbeiter kurz nach Kriegsende, „sogar ihren Glauben an die Menschlichkeit“. Doch Kanada gab ihnen die Chance, ihren Weg zurück ins Leben zu finden. Auch die kanadische Öffentlichkeit war Stolz auf das „War Orphan Project“. Schon Anfang der 1960er Jahre bezeichnete das Nachrichtenmagazin „Maclean’s“ die Aufnahme der „Child Survivors“ als „eine der größten humanitären Leistungen“ der kanadischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert.

Bild oben: Die General Sturgis erreichte den Hafen von Halifax am 6. Februar 1948. Repro: Ontario Jewish Archives (Public Domain)