Soziale Schieflage

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Israel ist eines der Länder mit den höchsten Lebenshaltungskosten der Welt. Vor allem Wohnraum wird für die meisten Israelis immer unerschwinglicher, so eine aktuelle Studie…

Von Ralf Balke

Wer in Israel dieser Tage Bargeld am Bankautomaten abhob, erlebte eine kleine Überraschung. Gleich zwei neue Banknoten kamen im Ausgabefach zum Vorschein: Der 20- sowie der 100-Schekel-Schein im knalligen Rot und Orange mit den Konterfeis von Rachel Bluwstein und Leah Goldberg – beides  prominente Lyrikerinnen. Und wie die bereits zuvor in Umlauf gebrachten neuen 50- und 200-Schekel-Scheine kommen auch sie optisch dem Schweizer Franken recht nahe. Doch die Banknoten sind nicht das Einzige, was an die Alpenrepublik erinnert. Auch die Preise in Tel Aviv gleichen langsam aber sicher denen in Zürich oder Basel, so das Ergebnis einer aktuellen Studie des Taub Center for Social Policy Studies in Israel mit Sitz in Jerusalem. Demnach liegt der Index für die Lebenshaltungskosten zwischen Jordan und Mittelmeer um satte 23,7 Prozent höher als der Durchschnitt der 35 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD genannt. Oder anders ausgedrückt: Nur Neuseeland, Australien, Dänemark, Norwegen, Island und natürlich die Schweiz, die den Spitzenplatz belegt, sind in Sachen Lebenshaltungskosten noch teurer als Israel.

Die Wissenschaftler in Jerusalem nennen auch einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung: Israels Immobilienpreise haben in den vergangenen Jahren so an Fahrt gewonnen und Dimensionen angenommen, die den Traum von den eigenen vier Wänden für Normalverdiener in weite Ferne rücken lässt. Das gilt vor allem für den Speckgürtel rund um Tel Aviv oder die Hauptstadt Jerusalem. Zudem tut sich dadurch langfristig ein weiteres Problem auf. „Denn wenn die Preise für Immobilien weiterhin stärker ansteigen als die Mieten, dann sinken auch die Rendite, die sich durch eine Vermietung erzielen lassen“, erklären Gilad Brand, Professor Avi Weiss sowie Dr. Assaf Zimring, die Autoren der Studie. Das wiederum macht Immobilien als Kapitalanlage uninteressanter, so dass immer weniger Mietwohnungen auf dem ohnehin knappen Markt zu finden sein werden. Kurzum – eine Trendwende bei den Preisen sehen die Wissenschaftler nicht, eher das Gegenteil dürfte der Fall sein. Wohnraum in Israel wird noch teurer.

Dabei sind Immobilienpreise bereits in den vergangenen Jahren förmlich explodiert. Denn laut den Researchern des Wirtschaftsmagazins Economist wurden Wohnungen und Häuser in Israel im Zeitraum zwischen 2006 und 2016 inflationsbereinigt im Durchschnitt um satte 82,1 Prozent teuerer. Nominal legten sie sogar um 118 Prozent zu. Dabei flossen die Preise in den weniger begehrten Orten der Peripherie wie Kiryat Schmona oder Yoqneam genauso in die Statistik mit ein wie die in den boomenden urbanen Zentren – entsprechend sehen die Werte in Tel Aviv oder Jerusalem wohl viel extremer aus. Im internationalen Vergleich fiel nur in Hongkong der Preisanstieg noch drastischer aus als in Israel. Und während Experten in Australien, Kanada oder Neuseeland angesichts von Teuerungsraten zwischen 37,1 und 48,8 Prozent längst von einer Immobilienblase sprechen, scheint im jüdischen Staat ein Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht zu sein. Nimmt man einen längeren Zeitraum zum Massstab, so sehen die Zahlen auch nicht viel besser aus. Rein nominell stiegen die Wohnungspreise in Israel zwischen 1994 und 2016 um 235,7 Prozent. Damit liegt das Land laut dem Economist im weltweiten auf Platz Sechs bei der Preisentwicklung.

Nur verdienen israelische Arbeitnehmer im Durchschnitt weitaus weniger als die in Skandinavien oder in Down Under. Zwar haben die Löhne und Gehälter in den vergangenen Jahren auch im jüdischen Staat statistisch eine positive Entwicklung genommen, so dass am Ende des Monats die meisten Israelןs deutlich mehr Geld auf dem Konto haben als noch vor zehn Jahren. Auch das Mindestgehalt wurde erst im Dezember auf 5.300 Schekel angehoben, umgerechnet aktuell rund 1.230 Euro, und damit mehr als doppelt so viel wie noch vor einer Dekade. Doch dieses Plus verpufft angesichts dessen, was israelische Konsumenten im Supermarkt für die einfachsten Dinge des täglichen Bedarfs hinlegen müssen. Und so kommen die Wissenschaftler des Taub Centers zu dem Schluss, dass das Durchschnittseinkommen in Israel in vielerlei Hinsicht nicht mehr zum Leben reicht, wenn man die Kaufkraft berücksichtigt. Denn diese fällt deutlich geringer aus als in den meisten anderen Ländern – selbst wenn es sich dabei um weitaus weniger erfolgreiche Volkswirtschaften handelt. „Im Normalfall gilt die Regel, dass das Preisniveau in ärmeren Staaten vergleichsweise niedrig ist, wodurch bezogen auf das Einkommen die Kaufkraft höher ist“, heisst es in dem Report. Ein derartiges Verhältnis existiert auch in reichen Ländern, nur umgekehrt: Die Kaufkraft der höheren Einkommen ist zumeist geringer, weil die Konsumgüter dann oft teurer sind. Nur auf Israel treffen all diese Gesetzmäßigkeiten nicht zu. Trotz niedriger Einkommen sind die Preise überdurchschnittlich hoch. Eine Ranking der Länder nach der Größe des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf des Internationalen Währungsfonds IWF verdeutlicht das Problem: Dort rangiert Israel auf Platz 26. Kaufpreisbereinigt dagegen liegt der jüdische Staat aber nur Platz 38.

Dabei sehen die makroökonomischen Daten für Israel insgesamt recht gut aus. Die Konjunktur zieht weiter an und läuft rund. So belief sich 2017 der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes auf 3,1 Prozent. Und 2018 sollen es sogar 3,5 Prozent werden. Auch die Arbeitslosenrate mit zuletzt 4,2 Prozent und wohl 4,1 Prozent für das kommende Jahr ist so niedrig wie noch nie in der Geschichte des Landes. Doch trotzdem kommt das Wachstum nicht bei allen Israelis gleichermaßen an. „Eine immer größeres Segment der erwerbstätigen Bevölkerung erhält vergleichsweise niedrige Löhne“, so die Forscher des Taub Centers. Sie verweisen darauf, dass dieser Trend in erster Linie die abhängig Beschäftigten in der Altersgruppe zwischen 30 und 35 betrifft. Vor allem an denen, die relativ wenige berufliche Qualifikationen mitbringen, geht der Aufschwung völlig vorbei. Ihr Gehalt liegt mehrheitlich bei deutlich unter 8.000 Schekel im Monat, umgerechnet knapp 1.900 Euro und unterscheidet sich kaum von den Vergleichswerten der Jahre davor. Auch wer eine höhere Ausbildung vorweisen kann, wird in dieser Altersgruppe nicht unbedingt reich mit seinem Job. Sie oder er bringen zumeist nur 10.000 bis 11.000 Schekel nach Hause, also zwischen 2.380 und 2.620 Euro im Monat. „Die Ergebnisse belegen zudem, dass es nicht reicht, den Zugang zu einer höheren Ausbildung zu erleichtern. Auch die Qualität des gesamten Bildungswesen muss deutlich verbessert werden“, lautet eine weitere Forderung der Macher der Studie.

Zudem sehen die Forscher ein Problem für die Zukunft: „Langfristig wird das Land mit demographischen Herausforderungen konfrontiert, die eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums mit sich bringen.“ Das bezieht sich auf die im Vergleich zu anderen Industrienationen einzigartig niedrige Quote von Erwerbstätigen in Prozent der Gesamtbevölkerung, da nur 40 Prozent der Männer und nur 60 Prozent der Frauen aus dem Kreis der Haredim einer Beschäftigung nachgehen. Ähnlich problematisch sieht es bei dem Anteil erwerbstätiger Frauen unter Israels Arabern aus. Dieser liegt deutlich unter dem jüdischer Frauen. Wenn ihre Integration in den Arbeitsmarkt nicht verbessert und zugleich das Ausbildungsniveau auf breiter Front verbessert wird, hat das gravierende Folgen, so ein Fazit der Untersuchung. Denn nur mit einer kleinen Schicht hervorragend ausgebildeter und bestens bezahlter Hightech-Ingenieure kann keine Volkswirtschaft auf Dauer erfolgreich funktionieren.

Bild oben: Der Zameret Park in Tel Aviv, ein neues Viertel mit Luxus-Hochhäusern, (c) Ori, wikipedia