Alive from Palestine: Andere Orte

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Seit März 2017 ist das Theater Al-Midan (Arabisch für „Schauplatz“), die wichtigste arabischsprachige Bühne Israels, geschlossen. Seitdem die israelische Kulturministerin Miri Regev, die in den letzten Jahren einen ideologischen Kampf gegen das Theater führte, die staatliche Förderung des Theaters im März 2016 eingestellt hat, hat das in Haifa befindliche Theater auf geborgte Zeit gelebt…

Viele progressive palästinensische und jüdische Theatermacher*innen, die plötzlich keine Bühne mehr für ihre Produktionen haben, sind davon betroffen. Darunter auch der Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Khashabi Ensemble, dessen neuestes Stück „Other Places“ (Andere Orte) nur einige wenige Abende auf der Bühne des Al-Midan-Theaters gezeigt werden konnte. Nach einer langen Pause wird das Stück im Oktober wieder in Israel zu sehen sein, und zwar auch in Gastspielhäusern in Jerusalem und in Jaffa. Im Winter 2018 wird das Stück in Europa touren. Gary English, Theaterregisseur und Bühnenbildner, analysiert detailliert in seinem poetischen Essay das Theaterstück „Other Places“, eine vielfältige Auseinandersetzung mit der palästinensischen Identität und mit der Bedeutung von Palästina für diejenigen Palästinenser*innen, die dort nicht mehr leben.

Other Places | أماكِن أُخرى
Auditorium Anis, Jaffa | 14/10/2017 | 20:30
(Arabic with English surtitles)
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Alive from Palestine: Andere Orte

Von Gary English
Erschienen auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel Office

Erinnerung als Identität

Drei Schauspieler*innen halten Äste mit Blättern hoch, die einen Wald symbolisieren, während ein anderer vorsichtig mit einem Stück Blech Donner erzeugt und ein fünfter ein Stück Plastik zerknüllt und dabei pfeift. Inmitten einer Kakophonie sich überlappender und scheinbar unzusammenhängender Monologe, rufen dann fünf Schauspieler*innen, die im hinteren Bühnenbereich in fünf Lichtgassen mit je einem Stuhl stehen, Bruchstücke persönlicher Geschichten aus: „Da war eine weiße Taube, sie lebte! Ich habe fünf Tattoos! Komm ins Boot! Ihr Familienstand wird untersucht!“ Sie durchqueren lautlos die Bühne, um sich einen Pulli zu schnappen, durchqueren den hinteren Bühnenbereich, ziehen sich die Pullis über und beginnen wild um sich zu schlagen. Ihre Arme sind noch unter den Pullis um die eigene Hüfte verschränkt, als sie versuchen sich die leeren Ärmel gegenseitig um den Hals zu wickeln oder den anderen im gespielten Kampf zu ohrfeigen.

Die Gruppe löst sich auf und eine Frau (Shaden Kanboura) fängt an, eine Geschichte darüber zu erzählen, wie sie nach einem langen und kräftezehrenden Wettbewerb in der Oper in Damaskus aufgefordert wurde, eine Tanzperformance darzubieten. Eine andere Schauspielerin (Khulood Basel Tannous) fängt an, ihre Performance – während sie sie gleichzeitig beim Tanz dirigiert – zu kritisieren, und es entspinnt sich ein frustrierender und gleichzeitig witziger Schlagabtausch zwischen den beiden, während die Eine versucht, ihre Geschichte zu erzählen, und die Andere sich zu beherrschen, aber immer wieder Kommentare ablässt, Shadens Kanbouras Kopf hebt oder ihre Schultern in einer Art simulierter Meta-Text-Probe zurückzieht.

Wir erfahren, dass Shaden wenige Minuten vor ihrem Auftritt in Syrien einen Anruf ihrer Mutter erhielt, dass ihr Vater verhaftet worden ist:

SHADEN: Was meinst du damit, wo ich bin? Im Theater. Die Show beginnt gleich … Stimmt etwas nicht?

KHULOOD: Es tut mir leid, aber ich muss dich unterbrechen. Lass uns diesen Teil so machen, als ob er gerade passiert, also als ob du den Anruf gerade bekommen würdest.

SHADEN: Aber er erzählt die Geschichte doch erst im Nachhinein.

KHULOOD: Lass es uns wenigstens einmal probieren. Mach’s für mich. Ich ruf dich an, als ob deine Mutter grad anrufen würde. (Sie macht Geräusche wie bei einem Anruf auf einem Nokia-Handy.)

Die Verwendung des Pronomens „er“ statt „sie“ oder „ich“ legt nahe, dass dies keine Erzählung aus dem eigenen Leben der Schauspielerin ist, sondern von jemand anderem. In der Erzählung steckt die Figur in einem Dilemma: Findet ihre Hingabe zum eigenen Vater ihren Ausdruck am besten in der Fortsetzung des Auftritts oder darin, dass sie zur Mutter zurückkehrt, um sie zu trösten. Die Figur entscheidet sich dazu, den Auftritt fortzusetzen und schließt mit dem Bild einer Performance vor einem Publikum. Das Einzige jedoch, was die Figur sieht, ist der Vater. Die Sequenz endet nicht mit einem sentimentalen Abschluss der Erzählung, sondern damit, dass die Beziehung zwischen Shaden und Khulood die From eines Streitgesprächs erhält:

SHADEN: (In der Erzählung) … und dann wurde mir klar, dass das Beste, das ich für meinen Vater im Gefängnis tun kann … (Khulood drückt Shadens Arme an die Seite und zieht ihren Kopf hoch. Shaden ist genervt, fährt aber fort.) Als ich auf die Bühne ging, sah ich weder das Publikum noch die Schauspieler. Ich sah nur meinen (Khulood zieht ihren Kopf wieder hoch.) Vater.

Ja, Khulood! Bitte? Was? Ein Absatz. Nur ein paar Zeilen! (Ohne Kommentar.)

HENRY: (der einzugreifen versucht): Kannst du dich nicht zusammenreißen?

KHULOOD: Ich weiß gar nicht, warum du mich so anbrüllst.

SHADEN: Khulood, weil ich nicht verstehe, was du willst. Was sollen diese ganzen Kommentare? Ich kann das einfach nicht genau so machen, wie du willst. Sorry. Selbst, wenn ich mich total bemühe, es klappt nicht. Ich werde nicht plötzlich wie mein Vater aussehen können.

Die Darstellung lässt sich als untergründiges Wechselspiel zwischen einer Textprobe und einer fertigen Aufführung lesen, das als Metapher des Wesens der erinnerten Erfahrung und deren Auswirkung fungiert, und er bereitet einen Abend vor, an dem verschiedene Versionen einer Erzählung einander widersprechen oder miteinander verquickt sind. Statt auf Gefühlsduselei oder Sentimentalitäten zu setzen, erleben wir die Ereignisse jeweils aus einem bestimmten Blickwinkel. Und damit wären wir auch schon bei einem der ersten Themen des Abends: Erinnerung als Voraussetzung für Identität.

Husam, der zuvor die Bühne mit einem Koffer verlassen hatte, erscheint kurz darauf in einer „Kaktus“-Jacke und bittet um eine Umarmung. Er wird von der Bühne beordert; eine Szene, die sich in unregelmäßigen Abständen während des Stücks wiederholt. Interessanterweise ist Husam Al-Azza der einzige Schauspieler, der in einem Flüchtlingslager aufgewachsen ist, und man stellt sich daher die Frage, ob die wiederkehrende Ablehnung damit zu tun hat.

Shaden Kanboura und Henry Andrawes, Other Places. Foto: Habib Simaan & Khashabi Theatre

Erinnerung: zwischen fiktionalisierten und erinnerten Erfahrungen

Dies ist die erste von mehreren Sequenzen im aufregend neuen Stück des äußerst talentierten Kashabi-Ensembles. Wir erleben eine Reihe von tiefgründigen – oftmals in absurdem Maße tiefgründigen – Sequenzen, die sich teilweise wiederholen, aber mit unterschiedlichen Enden, teilweise mit einer bewusst hörbaren Kommentierung der jeweiligen Szene, was an Samuel Beckett und Bertolt Brecht erinnert, sowie eine Sketch-Comedy, die auf der reichhaltigen und stets originellen Weiterentwicklung des palästinensischen Theaters beruht. Das Fehlen von Zurschaustellung oder Erklärung führt zu einem unmittelbaren Eintauchen des Publikums in die Erfahrungen der Schauspielenden und Figuren (wie etwa bei Beckett oder Pinter), während sich diese zwischen Momenten des Geschichtenerzählens voller Bewusstsein und der verwirrenden Unverständlichkeit des eigenen Status bzw. des gerade Geschehenden bewegen. Hierbei mangelt es nicht an bewusstem und unbewusstem Meta-Text. Eine Geschichte des Steinewerfens auf Soldat*innen während eines Militäreinsatzes (Husam Al-Azza) im Aida-Flüchtlingscamp [nahe Bethlehem in der Westbank] wird von einer Art „Promoterin des Befreiungskampfs“ (Raeda Ghazaleh) derart umgeschrieben, dass die urkomische Erzählung eines Jungen, der mit dem Stein, der für einen israelischen Soldaten bestimmt war, aus Versehen den Nachbarssohn am Kopf erwischt, zu einer Heldensaga mutiert, in der der Soldat tatsächlich getroffen wird. Die „korrigierte“ Geschichte wird einige Male wiederholt. Der Schauspieler tritt an ein beleuchtetes Live-Mikrofon (eine andere Form von Meta-Text), und wir erfahren, dass er zu Hause wegen des Steinewerfens Prügel von seiner Mutter einstecken musste, weil diese bereits einen Sohn verloren hat, der bei einem Tränengaseinsatz erstickt ist. Während sich also das Überkreuz-Spiel mit fiktionalisierten und erinnerten Erfahrungen entfaltet, entspinnt sich eine Art Kondensationsprozess, bei dem sich eine theatralische Realität manifestiert, die echte Ereignisse verdrängt und dennoch integriert.

Während des Abends erleben wir Geschichten von verschiedenen Schauspieler*innen (und weiteren Workshop-Teilnehmer*innen aus anderen Ländern, die aus dem Projekt ausgestiegen sind), die die im Jahr 2000 begonnene Zweite Intifada sowie Jahre der Besatzung durchlebt haben. Es kommt zu einer Art kumulativer Verschiebung zwischen Raum und Zeit, bei der eine psychologische Realität und Dekonstruktion von Identität einen absurden und doch realen „Anderen Ort“ erschafft. An diesem Ort wird die Diaspora als Geisteszustand internalisiert und bleibt trotzdem in der Heimat verwurzelt. Regisseur Bashar Murkus beschreibt die Präsenz all jener, die an den monatelangen Workshops teilgenommen haben, deren Identität jedoch im „Herzen“ des Stücks verblieben sind, als eine der Dynamiken des Stücks. Ein beständiges Kernelement war eben dieser Wunsch, einen Weg zu finden, wie sie – trotz ihrer Abwesenheit – präsent sein können: „Wie kann Abwesenheit dargestellt werden?“

Obgleich das Stück niemals in politische Polemik abgleitet, bleiben wir, angesichts der Realität der Besatzung [der Palästinensergebiete] und der Zersplitterung der Persönlichkeiten in vielschichtige und gegensätzliche Identitäten, durch die Kollisionen der unterschiedlichen Realitäten wie in Trance zurück. Ein Arzt, der mit weißem Kittel im Auto sitzt, wird von einem Panzer beschossen. Eine Frau wird von einem Heckenschützen erschossen, während sie Milch einkaufen geht. Wir erfahren von diesen Ereignissen durch die Erzählung einer Schauspielerin (Raeda Ghazaleh), die ihre Kolleg*innen während der Ausgangssperre jeweils einzeln und klammheimlich auf dem Weg zur und von der Probe begleitet. Einmal trifft sie auf einen Panzer, dessen Geschützrohr der Bewegung ihres Fahrzeugs folgt, nachdem sie versucht hatte, diesen zu umfahren, möglichst ohne dabei einen Verdacht zu erregen, der sich schnell als tödlich herausstellen könnte. Dann begegnen wir einem Mann (Henry Andrawes), der sich nicht an die Herkunft eines seiner Tattoos erinnern kann und der in einer der bewegendsten und witzigsten Szenen erfährt, dass er Ziyad und nicht Henry heißt. Mehrere Male improvisieren Henry und Khulood zufällige Begegnungen, um die gegenseitige Begrüßung zu üben, durch die sich Ziyad an seinen Namen erinnern könnte. Murkus verweist auf diese Verbindung zwischen Erinnerung und Identität , die durch ein Trauma gebrochen werden kann – physisch, mental oder aufgrund geographischer Verdrängung. „Was passiert, wenn wir vergessen? Wir fangen von Null an.“

Palästinensische Zeit: Warten als Lebensstil

Raeda Ghazaleh erzählt anschließend eine Geschichte über die Stunden des Wartens, die sie beim Versuch, die alltäglichsten Dinge zu erledigen, ertragen muss, wie etwa die Kinder zur Schule zu bringen oder zur Arbeit nach Jerusalem und zurück nach Ramallah zu fahren. Aufgaben, die sich während eines ganzen Lebens zu Jahren des Wartens addieren. Das Stück erzählt auf diese Art und Weise, wie sich die Besatzung in den 50 Jahren seit 1967 manifestiert. Dadurch begreifen wir, dass das ganze Leben, für Kinder wie für Erwachsene, gänzlich von einem Lebensstil des Wartens geprägt ist: des Wartens an Checkpoints, des Wartens auf eine politische Lösung, des Wartens darauf, dass eine Reihe wohlwollender internationaler Kräfte sich ihrer Lage annimmt und begreift, dass die Besatzung jede ihrer Bewegungen kontrolliert.

Durch die Geografie getrennt

Geografische Trennung ist ein weiterer Faktor, der sich auf die dem Stück zugrundeliegende palästinensische Identität auswirkt. In einer Szene reist eine palästinensische Bewohnerin (Shaden Kanboura) von Haifa zum ersten Mal nach Ramallah. Wir erfahren hier die Logistik einer solchen Reise: Zuerst mit dem Bus von Haifa zum zentralen Bahnhof in West-Jerusalem, dann mit einem weiteren Bus zur palästinensischen Busstation am Hotel Jerusalem in Ost-Jerusalem und schließlich mit einem dritten Bus nach Ramallah in der Westbank. Sie absolviert ein erfolgreiches Vorsprechen am Theater und freut sich darauf, drei Monate in Ramallah bleiben zu können. Als sie die Eröffnungsfeier eines Tanzfestivals besucht, wird das Publikum begrüßt und zum Aufstehen aufgefordert. Dann sollen alle die palästinensische Nationalhymne singen. Da sie ihren Abschluss jedoch an der Haifa-Universität ablegte, kennt sie nur die israelische Nationalhymne. Sie ahmt die anderen nach, weiß aber nicht wirklich, was zu tun ist, und sie fängt an, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. Und selbst, als sie die Melodie raus hat, versteht sie den gesungenen Text noch immer nicht.

Während Zeit, Erinnerung und Geografie die Faktoren zu sein scheinen, die in Other Places auf die persönliche Identität einwirken, begegnen die Schauspieler*innen der Absurdität ihrer Erfahrungen mit bemerkenswerter Menschlichkeit und einer Mischung aus Klarheit und Verwirrung, die abwechselnd enorm lustig und dann wieder zutiefst schmerzhaft ist.

Shaden Kanboura, Husam Al-Azza, Raeda Ghazaleh, Khulood Basel Tannous, Other Places. Photo by Habib Simaan and Khashabi Theatre.

Die Rekonstruktion von Identität und Erinnerung

Während des gesamten Abends kehren wir immer wieder zurück zu Henry Andrawes, der manchmal verwirrt erscheint und der angesichts all der Dinge, die ihm und um ihn herum geschehen, zuweilen von Panik ergriffen wird. Gleich zu Anfang erzählt er eine Geschichte darüber, wie er mit seinem Vater, der als Krankenpfleger arbeitet, einen Kibbuz besucht. Die Geschichte beginnt relativ einfach, mit einer Beschreibung des Gebäudes: der „kalten“ Fliesen, einer Lampe und einer Blumenvase, von weißen Lichtern. Plötzlich hält Henry in einem Moment der Verwirrung inne, der sich zu einem Zusammenbruch auswächst, bei dem wir ein lautes Brummen hören und Lichter sehen, die um ein Viereck platziert sind, das die Bühne definiert. Er kann nicht weiter erzählen. Später kann er sich nicht erinnern, warum und wie er dazu kam, sich seinen Arm tätowieren zu lassen. Er lernt zur Beruhigung in eine Plastiktüte zu atmen und bis zehn zu zählen und wird angeleitet, unter Wasser schwimmen zu üben und auf der Stelle zu treten, wenn er müde wird.

Henry schweift weiter durch den Raum, als ob er dessen Bestandteile zum allerersten Mal entdecken würde. Er versucht seine Identität oder Erinnerung aus den Fragmenten dessen zu rekonstruieren, was ihm von den anderen Schauspieler*innen gesagt wurde. Wir stellen uns die Frage, ob er vergessen hat, wer er ist und ob er Ziyads Geschichte „beigebracht“ bekommt, einer ihm unbewussten Person, die jedoch im Laufe des Stücks schrittweise an Präsenz gewinnt. Es ist, als wäre er ein Kind, das seine Identität darauf aufbaut, was ihm die Mitmenschen sagen – oder wie Bashar Murkus es ausdrückt: das von Null anfängt. In gewisser Weise erscheint Ziyad als die einzig echte „Figur“ im Stück, sozusagen dessen zentrale Achse, während die anderen Schauspieler*innen Inhalte aufführen, die ihren eigenen Erfahrungen entlehnt sind.

Eine ältere Frau (Shaden Kanboura) mit einem Clownsgesicht und einer Krücke fällt beinahe hin, als sie versucht einen Schlüssel aufzuheben, den sie zuvor absichtlich hatte fallen lassen. Als Henry/Ziyad versucht, ihr zu helfen, wirft sie unzählige Schlüssel auf den Boden. Jedes Mal, wenn er versucht, diese aufzuheben, wirft sie weitere Schlüssel in eine andere Richtung. Immer wieder fügt er Details aus vorhergehenden Szenen in die nachfolgenden Szenen. Seine eigene Existenz und seine Beklemmung sind immer präsent, möglicherweise die Folgen eines Nervenzusammenbruchs oder einer unerkannten Krankheit, die Teile der Erinnerung voneinander trennt und sie in Form seiner aktuellen Verwirrung neu zusammensetzt. Während die anderen Figuren/Schauspieler*innen sich über ihre Vergangenheit und Gegenwart bewusst sind, stellt Henry einen Kontrapunkt – oder ein Gegengewicht – dar, der die anderen besorgt sein lässt, den sie aber nicht wirklich erreichen können. Wenn es an ihm ist, ans Mikrofon zu treten – was alle Schauspieler*innen mindestens einmal während des Abends tun – ist er offensichtlich unsicher, was er sagen soll. Er wiederholt leise die Geräusche, an die er sich aus einer vorherigen Sequenz zum Thema Krieg erinnert – das Geräusch einer Rakete, das Geräusch eines Kampfhubschraubers –, während wir der wunderbaren Ballade des libanesischen Sängers Wadih Al Safi lauschen: Oh Vogel, ich werde dich auf den Ast schwören lassen, auf den du sitzt.

Ein stille Szene physischen Theaters folgt, die zeigt, wie die Besatzung Muster erzeugt, die erlernt und ins Verhalten eingeschrieben werden. Husam Al-Azza wird an einem Tisch ein Glas Wasser angeboten. Als er sich nähert, geht Raeda Ghazaleh dazwischen und verweist ihn auf den hinteren Bereich der Bühne. Diese Sequenz wiederholt sich mehrmals, immer wieder wird Al-Azza angehalten und zum Bühnenhintergrund geschickt. Mit jedem Mal wird er unbeweglicher: Zunächst hat er Klebestreifen um seine Knöchel gespannt, so dass er nur noch sehr kleine Schritte tun kann. Dann einen Klebestreifen über Hüfte und Arme, so dass er über die Bühne hüpfen muss und das Glas nur mit seinem Mund aufnehmen kann. Am Ende wird auch sein Mund mit Klebeband verklebt, so dass er nicht mehr trinken kann. Als das Klebeband wieder abgenommen wird, hüpft er weiter, als ob er noch immer eingeschränkt wäre und beugt sich aus Gewohnheit herunter zum Glas.

Die Erschaffung der palästinensischen Erfahrung

Die Produktion ist komplex, dramaturgisch sehr dicht und kann auf diesen wenigen Seiten nicht ausreichend gewürdigt werden, da sie in den verschiedensten Sequenzen unzählige Themen anspricht, die ein akkumuliertes Bild der palästinensischen Erfahrung von Diaspora und widersprüchlicher Identität ergeben, seien sie nun aus Haifa, Jerusalem, der Westbank oder dem Aida-Flüchtlingslager.

Während ihres Moments am Mikrofon gibt Khulood Basel Tannous einen Moment besonders lyrischer Schönheit zum Besten, als sie das Gedicht „Verlieb dich nie in eineN GeflüchteteN“ rezitiert. Das häufig beschworene Bild, wonach sich politische Dramen am Schnittpunkt von Persönlichem und Politischem wiederfinden, trifft sicherlich zu. Die Form und Struktur dieses Stücks gehen jedoch weit über diese übliche Technik der Stückentwicklung hinaus, die persönliche Geschichten zum Ausgangspunkt der Dramaturgie macht. Diese eindrücklichen Geschichten erzeugen Bilder, die – obgleich sie nicht immer erklärt werden – sich langsam zusammenfügen, als entwickelte sich die anfängliche Verwirrung zu einer Prophezeiung hin. Bashar Murkus, Ala Hlehel und das Ensemble fügen die verschiedenen Kräfte zusammen, die auf die individuelle und kollektive Identität einwirken und aufeinander prallen. Dabei entstehen häufig „Falltüren“ (Murkus), durch die das Publikum fällt und absorbiert wird. Es ist originell und äußerst authentisch.

Am Ende schwimmt „Ziyad“ wieder, wie es ihm Raeda beigebracht hat, durch Wassertreten.

Er sagt: Ich bin Ziyad. Ich schwimme im Meer, und das Wasser steht mir bis zum Hals. Es ist gar nicht so kalt. Ich kann den Himmel sehen … in der Ferne. Ich bin sehr geduldig.

HUSAM: (Mit einer Kaktus-Jacke bekleidet.) Umarme mich.

ZIYAD: Ich liebe mein Land. Ich liebe unser Haus und meine Familie. Ich habe viele Zukunftsträume, ich will ein eigenes Haus, zu dem ich auch den Schlüssel habe.

HUSAM: Umarme mich.

ZIYAD: Ich will eine kleine Familie, die ich richtig liebe, mit einem Jungen und vielleicht zwei Mädchen.

Oder zwei Jungen und ein Mädchen. Wie auch immer, ich möchte ein Mädchen. Muss ich noch entscheiden. Ich fände es wunderbar eine Tochter zu haben, die so aussieht wie ich.

HUSAM: Umarme mich.

ZIYAD: Und wenn es eines Tages keine Milch zu Hause gibt, gehe ich sie in einem nahegelegenen Laden kaufen. Milch für jene Augenblicke, in denen wir als Familie zusammen frühstücken, das würde mir gefallen. Ich würde gerne etwas studieren, das ich später gerne beruflich machen würde, was genau, muss ich aber erst noch entscheiden. Ich will nicht lange warten. Und ich hätte gerne echte Freunde und Freundinnen um mich. Freunde, die immer in der Nähe sind und mich anrufen und vorschlagen, uns in der Stadt zu treffen …

… Die Sofas in meinem Haus sollten am Besten braun oder vielleicht grün sein. Muss ich noch entscheiden. Und viele Dinge.

Ich fürchte mich ein wenig vor dem Tod.

Und falls ich sterbe, möchte ich ein Boot werden.

Was sonst?

Muss ich noch entscheiden.

So endet dieser provokative und vielschichtige Abend mit dem Bild eines Mannes, der auf dem Meer treibt, sich sein Leben vorstellt, aber gleichzeitig einen Geisteszustand repräsentiert, als ob wir alle versuchen würden, nicht zu ertrinken. Obgleich wir an verschiedenen Stellen mit realen Inhalten konfrontiert werden – Narrative echter Erfahrungen –, gleitet das Stück an anderen in eine andere Welt hinüber – eine Welt der Metaphern, Bilder und des Verlusts.

Das Bühnenbild verleiht dem Raum eine theatralische und doch poetische Form. Der Raum, der eine enge Zusammenarbeit zwischen der Bühnenbildnerin Majdala Khoury und dem Lichtdesigner Firas Tarabashi ahnen lässt, ist durch eine Reihe von Lichtern in eine viereckige Form gebracht. Metalltische dienen einerseits konkreten Funktionen und andererseits dem Erzeugen eines Bildes. Vertikale Lichtstreifen verwandeln den Raum in eine Art expressionistische Gameshow. Physisches Theater vermischt sich mit direkter Erzählung; und Verwirrung vermischt sich mit der konkreten Realität der Zahlen, die auf einer blanken schwarzen Wand geschrieben stehen, wie auf einer riesigen Tafel. Die Bühne geht von der strengen Form in einen bildhaften und dramatischen Zustand über, der geprägt ist von Chaos und einem Mann, der im Meer treibt.

Regie: Bashar Murkus, entwickelt mit dem Khashabi-Ensemble aus Haifa. Dramaturgie: Ala Hielel. Eine Ko-Produktion mit dem El-Hakawati-Theater, dem palästinensischen Nationaltheater. Künstlerische Leitung: Amer Khalil. Zu den Schauspieler*innen gehören: Raeda Ghazaleh, Shaden Kanboura, Khulood Basel Tannous, Husam Al-Azza, Henry Andrawes. Bühnengestaltung: Majdala Khoury, Beleuchtung: Firas Tarabashi, Produktionsmanagement: Laura Hawa.

(Übersetzt von Sebastian Landsberger, lingua•trans•fair)

Gary English ist Theaterregisseur, Bühnenbildner und künstlerischer Mitarbeiter des Freedom Theaters im Jenin-Flüchtlingslager in der West Bank.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im HowlRound (http://howlround.com/alive-from-palestine-other-places) veröffentlicht, ein Wissensallmende von und für die Theatergemeinde.

Links:

Ashkenazi, Yair, Das Khashabi Theater, ein neues künstlerisches Konzept palästinensischer Selbstbehauptung, unter: www.rosalux.org.il/das-khashabi-theater-ein-neues-kunstlerisches-konzept-palastinensischer-selbstbehauptung/.

Khashabi Ensemble – Neues palästinensisches Theater in Haifa, unter: http://www.rosalux.org.il/partner/khashabi-ensemble/.

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