Alles geht, solange es gegen Israel ist

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Während eines Auslandssemesters in Madrid habe ich auf einem Nahostkongress an der Universidad Complutense de Madrid Bekanntschaft mit der dort ansässigen BDS- Bewegung gemacht…

Von Timo Kreutzer

Die antiisraelische Boykottbewegung BDS ist in Spanien aktiver und verbreiteter als in Deutschland und konnte in der Vergangenheit immer wieder Erfolge erzielen. Wenn auch ihre Forderungen nicht immer durchgesetzt werden, so erlangen sie zumindest Aufmerksamkeit für ihr Anliegen. International hohe Wellen schlug beispielsweise der Eklat rund um den jüdischen US- Musiker Matisyahu und das Rototom Sunsplash Festival[1].

Obwohl ich schon viel über die Kampagne gehört hatte, bin ich erst in Spanien mit ihr in unmittelbaren Kontakt gekommen. Hier in Süddeutschland ist sie nicht sehr stark verbreitet. Darum wollte ich mir, wie es so schön heißt, „ein eigenes Bild machen“.

Ich wusste auch, dass es einen generellen Unterschied zwischen der (gesellschaftlichen) Linken, zu der sich BDS selber zählt, in Spanien und in Deutschland gibt. Die Linke in Spanien ist weitgehend internationalistisch, es gibt keine nennenswerten antinationalen Strömungen. Das mag mit der starken kulturellen Bindung Spaniens an Lateinamerika zusammenhängen, wo linke Politik praktisch gleichbedeutend ist mit nationaler Befreiungsbewegung und Bolivarismus. Dementsprechend werden auch Strömungen wie BDS in linken Kreisen in Spanien stärker eingebunden, als das in Deutschland der Fall ist.

Die Veranstaltung fand im Rahmen eines Kongresses über den Nahen Osten statt, organisiert von der Union Progressiver Historiker. Themen waren neben der aktuellen Entwicklung in Syrien und Kurdistan auch die Situation der Frauen im Iran, sowie Kolonial- und Postkolonialgeschichte im Allgemeinen. Ich beschränkte meine Teilnahme auf zwei Seminare, über die Rolle der Frauen und des Feminismus in Rojava und eine Vorstellung der wirtschaftlichen, kulturellen und akademischen Boykottkampagne gegen Israel, kurz BDS. Die Seminare wurden übrigens mit 2 ECTS-Punkten vergütet, also als offizielles Studienprogramm an der Fakultät für Geographie und Geschichte zugelassen.[2]

Am Tag der Veranstaltung betrat ich den kleinen Hörsaal. Er war durchschnittlich gut besucht. Um das Rednerpult herum waren ca. ein halbes Dutzend Aktivisten versammelt. Der Vortrag begann mit der Frage: „Was haben ein Bänker aus Irland, ein Büroangestellter aus Frankreich und ein Fischer aus Sizilien gemeinsam?“. Einige Zuhörer sahen sich fragend an, meine Nebensitzerin rollte mit den Augen. Offenbar hatten sich diese Leute vorgenommen, kein einziges Klischee auszulassen.

Kernthese der Einleitung war, dass der Zionismus nichts mit dem Judentum zu tun hätte, und dass es kein jüdisches Volk gäbe. Es wurde folgendes Bild präsentiert: Die Juden existierten seit jeher als reine Religionsgemeinschaft, vergleichbar mit den Katholiken (daher auch das Beispiel mit dem Bänker, dem Büroangestellten und dem Fischer), und lebten rund um den Erdball in Friede und Zufriedenheit. Doch eines Tages kamen die Zionisten zu ihnen und redeten ihnen ein, Israel sei ihr Land, das es zu besiedeln gälte. Als ob die Idee des Jüdischen Staates im Judentum davor nicht existiert hätte.

Zur Veranschaulichung des Schicksals der palästinensischen Flüchtlinge wurde folgender Vergleich gezogen: „Stellt euch vor, man siedelt euch einfach so nach Cochabamba in Bolivien, oder nach Guadalajara in Mexiko um, wie würde euch das gefallen?“. Das sollte eine Anspielung auf die Verteilung der geflüchteten Bevölkerung auf die arabischsprachigen Nachbarländer sein.

Es folgte eine kurze Zeittafel, die vom ersten Zionistischen Weltkongress bis zur Staatsgründung Israels reichte. Sie enthielt zwar keine faktischen Unwahrheiten, jedoch zeugten die Erläuterungen der einzelnen Ereignisse von einer ungeheuren Ignoranz. So wurde beispielsweise die Emigration jüdischer Einwanderer aus den arabisch-muslimischen Ländern kurz nach der Staatsgründung Israels auf einfache und geniale Weise erklärt: „Es waren die Kolonialmächte! Denn denkt doch mal nach: Dieselben Länder, die das Kolonialmandat Palästina und die Region einst beherrschten, sind auch diejenigen, die die gesamte muslimische Welt kolonisiert haben.“ Das Vereinigte Königreich und Frankreich hätten sich also ihren Einfluss zunutze gemacht, um die massenhafte Einwanderung voranzutreiben. Wie genau sie das getan haben sollen wurde offengelassen.

So ging es munter weiter bis zur Gegenwart. Es wurden Verschwörungstheorien vorgetragen, wie z.B. die, dass Israel die Bevölkerungszahl in Gaza bis zu einer bestimmten Größe anwachsen ließe, um an ihr anschließend Waffen ausprobieren zu können, die dann später auf dem Weltmarkt verkauft würden. Es wurden Artikel gezeigt, auf denen jüdische Israelis zu sehen waren, die demonstrativ mit einem Bier in der Hand auf Sofas und Campingstühlen auf einem Hügel posierten, während sie sich die Bombardierung Gazas ansahen[3]. Das war tatsächlich kein schöner Anblick. Wie das jedoch mit dem Einfluss der ach so starken Israellobby in den Medien einhergeht, wurde offengelassen.

Schließlich fiel ein Satz, der mich trotz meiner niedrigen Erwartungen überraschte. Eine palästinensisch-stämmige Aktivistin warf, während sie Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung in Gaza kommentierte, nebenbei ein: „Ich kann gar keine Antisemitin sein, ich bin ja selber Semitin“. Was soll man dem entgegnen? Soll man etwa auf einem Kongress über den Nahen Osten dem Redner den Unterschied zwischen Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus erklären? Dass diese drei Konzepte dennoch Seiten derselben Medaille sind, so wie im Judentum Volk, Religion und Nation untrennbar miteinander verbunden sind? Und dass das „-semit“ in Antisemit zwar für die Wortherkunft, jedoch nicht für die Wortbedeutung relevant ist, und dass es da nichts zu missverstehen gibt, es sei denn, man legt es darauf an? Man sollte meinen, dass das bei sogenannten Experten überflüssig sein müsste. Trotzdem will wohl keine Diskussion zu dem Thema vergehen, ohne einen Schlaumeier der anmerkt, dass „semitische Völker“ eine Sammelbezeichnung für Aramäer, Phönizier, Hebräer etc. ist, und die heutigen Palästinenser somit auch Nachfahren der semitischen Völker sind. Es fällt jedoch auf, dass das Konzept der semitischen Völker heutzutage nur, und auch nur dann von Bedeutung zu sein scheint, wenn Leute einem weismachen wollen, sie seien keine Antisemiten.

Dann wurde die Hörerschaft mit einbezogen. Zettel wurden an einige Teilnehmer verteilt, auf denen jeweils die Schicksale und Erfahrungen von Palästinensern aus dem Westjordanland geschildert waren. Von Misshandlungen wurde berichtet, von willkürlichen Durchsuchungen, von kranken Menschen, die an Checkpoints festgehalten wurden, obwohl sie medizinische Hilfe benötigten. Die Teilnehmer wurden dazu aufgefordert, sie vorzulesen und zu erzählen, wie sie selber sich in einer solchen Situation fühlen und verhalten würden. Die Reaktionen reichten von Empörung über Wut bis hin zum Inbetrachtziehen des bewaffneten Kampfes.

Freilich ließ sich der Wahrheitsgehalt der Schilderungen im Einzelnen nicht überprüfen. Jedoch gibt es genügend anderweitig dokumentierte Fälle von exzessiver Gewalt und Machtmissbrauch von Seiten der israelischen Präsenz im Westjordanland (in denen dann auch die israelische Justiz zum tragen kommt, Stichwort: Elor Azaria[4]). Mir geht es auch nicht darum, die Siedlungspolitik oder das Vorgehen der IDF zu rechtfertigen, sondern um den Ansatz, den die BDS- Aktivisten verfolgten.

Und der war alles andere als hilfreich. Die emotionale Fixierung auf ein Subjekt kann doch niemals Basis für eine echte Konfliktlösung sein! Jahrzehnte der Forschung werden für nichtig erklärt. Natürlich ist jemand, der gerade persönliches Leid erfahren hat, empfänglich für alles, was seiner Meinung nach „die Rechnung begleicht“. Das gilt jedoch für beide Seiten. Sich auf einer Seite festzumauern und mithilfe des erlittenen Leides einzelner seine Opferrolle zu kultivieren kommt einer Kapitulation gleich. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass das „auf seine Seite ziehen“ der Hörerschaft das eigentliche Ziel der Veranstaltung war.

Am Ende wurden die Personen hinter den Geschichten vorgestellt. Sie waren allesamt im BDS- Umfeld aktiv, keiner von ihnen war zum letzten Schritt übergegangen (obwohl sie, so der Tenor, allemal die moralische Berechtigung dazu hatten).

Ich fand es bemerkenswert, dass kein einziges Mal die Forderung nach einem freien Palästina fiel. Es wurde auch nicht über das Konzept der Ein- oder Zweistaatenlösung, der Föderation etc. geredet. Die Veranstaltung beschränkte sich auf die Dämonisierung Israels und auf die praktischen Maßnahmen der Organisation selber. Letztere, also die eigentliche Boykottkampagne, wurden am Ende der Veranstaltungen vorgestellt.

Ich hatte keine weiteren Fragen. Den meisten anderen Teilnehmern ging es ähnlich. Nur eine Person wollte noch etwas über eine Supermarktkette wissen, die Kartoffeln aus den besetzten Gebieten in ihrem Sortiment führt. Ich verließ den Hörsaal mit einem flauen Gefühl. Das Ziel, mir ein eigenes Bild zu machen, hatte ich jedenfalls erreicht.

Mit ist jetzt auch klar, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Position der Aktivisten nicht nur nicht stattfindet, sondern aktiv verhindert wird. Vielmehr wird der Feind, also Israel, in den schwärzesten Tönen gemalt, sodass eine alles rechtfertigende moralische Überlegenheit in den eigenen Augen entsteht, die ein Hinterfragen der eigenen Ziele und Methoden überflüssig macht. Ganz gleich, ob es sich um eine Messerattacke auf Zivilisten handelt, oder um das Verfassen eines Beschwerdebriefs an den örtlichen Gemüsehändler, der Jaffa-Orangen in seinem Sortiment führt. Alles geht, solange es gegen Israel ist.

[1]https://www.timesofisrael.com/spanish-fest-cancels-matisyahu-gig-over-refusal-to-endorse-palestinian-state/
[2]https://www.facebook.com/GrupoBDSMadrid/photos/a.477124378998024.102970.477093242334471/1047451128632010/?type=3&theater
[3]https://www.theguardian.com/world/2014/jul/20/israelis-cheer-gaza-bombing
[4]http://www.timesofisrael.com/conviction-expected-for-idf-soldier-who-killed-palestinian-attacker/