Der Anteil der Juden in Deutschland vor Hitler…
Deutsche mögen Fußball, Deutsche mögen Krimis, Deutsche mögen Quiz- und Eurovisionssendungen. Deutsche sind gern stolz (auf sich) und Deutsche wissen (fast) alles besser. Der Deutschen hervorstechendste Charaktereigenschaften jedoch sind ohne Zweifel Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit.
Von Robert Schlickewitz
Wie anders lässt sich erklären, dass Deutsche bei der schon so häufig gestellten Frage,
Wie hoch war der Anteil der Juden an der deutschen Bevölkerung bevor Hitler an die Macht kam?
immer noch derart grotesk versagen?
Hier ein paar ganz typische Antworten, gesammelt im Juli 2017 im ach so weltoffenen und vorbildlich toleranten München:
„Das hab‘ ich ja noch selbst miterlebt, die waren in manchen Berufen sehr stark vertreten! Bei den Ärzten, den Anwälten, den Apothekern, im Geldverleih und im Bankgeschäft, aber auch bei den Zeitungen und im Theaterleben… Dann die ganzen Textil- und Kunsthändler, hier bei uns in München… Übersehen konnt‘ man die jedenfalls nicht. Ich meine mal, so ein Fünftel der Bevölkerung werden die schon ausgemacht haben. – Freilich, unterm Hitler wurden‘s dann immer weniger.“
(Rentnerin, früher Hausfrau, 92 J.)
„An die Zahl kann ich mich noch aus dem Geschichtsunterricht erinnern, es waren etwa Fünfhunderttausend Juden in Deutschland; ich schätze, das dürften so etwa 15 % der Bevölkerung gewesen sein. Stimmt‘s?“
(Student der Rechtswissenschaften, 25 J.)
„Ja, mein, Sie fragen da Sachen! Also I möcht‘ davon eigentlich gar nix mehr hör’n. Des wiss ma scho ois, des von dem Hitler und dem seine Jud’n. Wieviel Prozent? Also zu wenig‘ wern des g’wiss ned g’wes’n sein! I mein, vielleicht so 25 %. Kummt des hi?“
(Hausfrau und Mutter, 46 J.)
„Juden in Deutschland vor Hitler? Hm, ich schätz‘ mal so 45 %.“ – Wir hakten nach: „Also fast die Hälfte der Deutschen waren damals Juden?“ – Antwort: „Ja, ja, würde ich mal sagen.“
(Student der Sozialarbeit, 22 J.)
„Juden…? In Deutschland…? Vor dem Holocaust…? – Ja – wahrscheinlich so um 65 %.“ – Auch hier fragten wir lieber noch mal nach: „Also zwei Drittel der Menschen in Deutschland waren damals Juden und nur ein Drittel Nichtjuden, meinen Sie das im Ernst?“ – Antwort: „Das müsste hinkommen, ja.“
(Jugendtherapeut und Sozialpädagoge, 59 J.)
Und wieviel Prozent waren es tatsächlich?
Sehen wir einmal bei Deutschlands Antisemitismus-Spezialisten Nummer Eins, Wolfgang Benz, nach (Der Holocaust, C.H. Beck Verlag, Reihe Wissen, achte Auflage, München 2014, S. 16).
Zitat:
„Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme lebten im Deutschen Reich etwas mehr als eine halbe Million Menschen, die sich zum Judentum bekannten und sich als religiöse Minderheit (0, 76 Prozent der Gesamtbevölkerung) verstanden.“
Es sieht doch ganz so aus, als hätten sich sehr viele Deutsche, sehr wenig oder nur sehr oberflächlich mit dem beschäftigt, was von berufener Seite als „Zivilisationsbruch“ oder „Tiefpunkt europäischer (oder: deutscher) Kulturgeschichte“ bezeichnet wird. Ausgerechnet die Angehörigen jener Menschengemeinschaft, die doch diese einzigartige Zäsur zu verantworten hat(te), weigern sich kategorisch nachzudenken, über die eigene Identität.
Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit waren es übrigens auch, die das „Dritte Reich“ einst möglich gemacht haben. Schon damals, vor Hitler, gab es sehr viele Deutsche, Lion Feuchtwanger beschrieb sie anschaulich in seinem Schlüsselroman Bayerns „Erfolg“ (1930), denen das wirklich Wichtige im Leben, zum Beispiel die Politik, ‘wurscht‘ war, die lieber von ihrem König Ludwig träumten und sich ihrem Bier hingaben.
Zwei Dinge gehen einfach nicht zusammen:
Stolzer Deutscher sein wollen und sich gleichzeitig über die Shoah auskennen.
Denn, selbst der deppertste Deutsche weiß inzwischen, dass da mal was war, was ‚unseren Ruf‘ belastet hat und (womöglich) weiter belastet. Zu stochern und zu fragen, nachzuschlagen oder sich schlau zu machen, würde die Gefahr in sich bergen, etwas zu erfahren, was das bis dahin (wegen Unwissenheit) ungetrübte, (fast) lupenreine, deutsche Eigenbild stören könnte,
und genau das will man ja doch nicht.
Lieber also weiterhin doof bleiben aber seinen deutschen Nationalstolz, mit oder ohne Fähnlein, pflegen und raushängen lassen.
Stolz, eindeutig Stolz, ist nach wie vor der Hauptcharakterzug des Deutschen.
Stolz auf die teutschen Dichter und Denker, stolz auf die Wunder der deutschen Technik, stolz auf deutsche Fußballtore ohne Zahl, stolz auf einen („hervorragenden“ oder „unverdienten“) 26. Platz beim Eurovisionsschlagerwettbewerb, stolz auf ‚unsere deutsche Wirtschaft‘ und auf ‚unsere deutsche Politik‘, stolz auf „Tatort“ und ‚unsere Tagesschau‘, stolz auf Schweinebraten und norddeutsche Backsteinarchitektur, stolz auf Luther und Frau Käßmann, auf alles (Deutsche) eben…
Nur der, der etwas intensiver über Deutsch und Deutsche nachdenkt, Heine, etwa, oder Fontane, oder Goethe (und viele andere noch), die konnten nicht stolz auf ihr Deutschland bzw. auf ihre (gewöhnlich) ungebildeten, thumben – aber stolzen, deutschen Landsleute sein.
(Klar gibt’s einzelne Deutsche die durchaus Achtung verdienen, aber doch nicht die, die ihren lächerlichen, outgemodeten, verstaubten Nationalstolz ausleben möchten!)
Goethe:
„Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist.“
Für alle Stolzdeutschen von heute noch ein einsichtsvolles Zitat, von einem wesensverwandten Landsmann, vom ehemaligen deutschen Generalgouverneur von Polen, von Hans Frank:
„Tausend Jahre werden vergehen und diese Schuld von Deutschland nicht wegnehmen.“
Also, besser doch über diese Schuld Bescheid wissen, als nicht!
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