„Wiedergeburt“ im Land der Täter

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Eine Studie zu den vergessenen jüdischen Displaced Persons Camps Gabersee und Attel in Oberbayern …

Rezension von Birgit Seemann

Die früher selbständige Gemeinde Attel und ihr Ortsteil Gabersee gehören heute zu der etwa 55 km östlich von München im oberbayerischen Landkreis Rosenheim gelegenen Stadt Wasserburg am Inn. Jüdische Gemeinden waren dort nicht ansässig, deshalb fanden während der NS-Zeit keine Deportationen statt. Dass sich in die Regionalhistorie nach der Shoa gleichwohl eine lebendige jüdische Geschichte einschrieb, macht erstmals die Studie von Jim G. Tobias, Leiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V., und der Bamberger Kulturwissenschaftlerin Nicole Grom sichtbar: In Gabersee und Attel befanden sich von 1946 bis 1950 zwei größere Auffanglager für jüdische Displaced Persons (DPs) aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien. In Gabersee betrug die Höchstzahl 2.093 (August 1946), in Attel 426 Bewohner/innen (Juli 1947).

Wer sich in Deutschland mit der Sozial- und Biografiegeschichte jüdischer DP-Lager beschäftigt, stößt an deren früheren Standorten zumeist auf eine lokalhistorische Leerstelle.  Auch die beiden hier erforschten Camps fanden – abgesehen von dem 2005 erstellten, bisher unveröffentlichten Manuskript ‚Die vergessene jüdische Welt in Gabersee, Das jüdische DP-Lager in Gabersee, 1946-1950‘ des Lokalhistorikers Matthias Oesterheld – erst mit der Tobias/Grom-Studie wissenschaftliche Beachtung. Wie Matthias Haupt, Leiter des Stadtarchivs Wasserburg am Inn, in seinem Beitrag ‚Die jüdischen DP-Camps im Spiegel von regionalen Quellen‘ im Band nachweist, waren die Camps aus der Sicht der nichtjüdischen Einwohner/innen ein negatives, später allzu gern verdrängtes Kapitel: Jüdische Flüchtlinge waren nicht willkommen, sie galten als Störenfriede, wurden in einer kruden Mixtur aus Antisemitismus und Fremdenangst kollektiv mit dem Stereotyp ‚Schwarzmarkthändler‘ belegt und wegen ihrer angeblichen Bevorzugung beneidet, die Beschäftigung mit den NS-erzeugten Hintergründen ihrer Flucht wurde verweigert. Diese Abwehr festigte die weitgehende Isolation der Camps innerhalb der noch stark nationalsozialistisch geprägten Umgebung, förderte aber zugleich den innerjüdischen Zusammenhalt – das Camp wurde zum ‚Makom‘, zu einem ‚Jewish Place‘ (hierzu Barbara E. Mann, Space and Place in Jewish Studies, New Brunswick, NJ 2012).

Untergebracht waren die Flüchtlinge in den vormaligen Heil- und Pflegeanstalten Attel und Gabersee. Diese Einrichtungen verfügten über die erforderlichen Raumkapazitäten und Infrastrukturen – wie Großküchen und Bettensäle – für eine große Anzahl von Menschen, deren Gesundheit durch NS-Verfolgung, KZ-Haft und dem Überlebenskampf im Versteck zum Teil nachhaltig geschädigt war. Die DP Camps unterstanden offiziell der Verwaltung der UN-Hilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Sie ermöglichte Autonomie und Selbstverwaltung – hierdurch entwickelten sich die Bewohner/innen nach langen Jahren extremer Demütigung und Fremdbestimmung wieder zu selbständigen Akteuren, die ihre Geschicke in die Hand nahmen. Hierzu gehörte die Gründung eines Netzwerks von Schulen, Bildungseinrichtungen und Bibliotheken sowie von Musik-, Sport- und Fußballvereinen. Das religiöse Leben wurde mit Hilfe der Rabbiner neu aufgebaut: „Im Camp Gabersee war die Anwesenheit einer strenggläubigen Minderheit unübersehbar: Sie verfügte über eine zentrale Synagoge im ehemaligen Theatersaal der Anstalt sowie über mindestens zwei weitere Betstuben, eine Mikwe, mehrere Religionsschulen, eine koschere Küche, ein religiöses Kinderheim sowie eine Jeschiwa“ (S. 63). Ehen wurden geschlossen und Familien gegründet.

Gleichwohl handelte es sich um eine jüdische ‚Gemeinde auf Zeit‘: Im Jahr 1950 schlossen die „Wartesäle zur Emigration“ ihre Pforten. Viele ehemalige DPs fanden ihre neue Heimat im 1948 gegründeten Staat Israel, andere erkämpften sich in den USA, Kanada oder Australien eine neue Existenz. So brachte es der 1928 in der Tschechoslowakei geborene Shoa-Überlebende Maximilian Grünfeld als Martin Greenfield in New York vom Laufburschen zum bekannten Herrenschneider, der u.a. Frank Sinatra und Barack Obama zu seinen Kunden zählte. Doch blieben Hunderte von Bewohnerinnen und Bewohnern, da ihnen die Auswanderung wegen körperlicher oder seelischer Erkrankungen versagt blieb, im ‚Land der Täter‘ zurück. Sie wurden nach Feldafing, Lechfeld und in das erst im Februar 1957 endgültig aufgelöste bestehende Camp Föhrenwald verlegt und zuletzt auf die jüdischen Nachkriegsgemeinden Deutschlands verteilt, an deren Aufbau und Verstetigung sie Anteil hatten.

Die jüdische DP-Geschichte von Gabersee und Attel gehört nicht nur zur dortigen Lokalgeschichte, sondern ist zugleich auch als Teil der umfassenden Gebäude- und Liegenschaftsgeschichte zweier Heil- und Pflegeanstalten zu betrachten, die in den organisierten eugenischen NS-Massenmord an Menschen mit Behinderungen und unheilbaren Erkrankungen einbezogen waren. 1940/41 wurden aus beiden Einrichtungen bis zu 1.000 Bewohner/innen in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz (Niederösterreich) verschleppt. Allerdings ist die schuldhafte ‚Verstrickung‘ pro Anstalt unterschiedlich zu bewerten: So standen die für die 1874 offiziell eröffnete katholische Heil- und Pflegeanstalt der „Stiftung Attl“ für unheilbar kranke Männer im ehemaligen Kloster Attl verantwortlichen ‚Barmherzigen Brüder‘ seit 1937 unter Gestapo-Aufsicht und wurden vorübergehend in Haft genommen, die Zwangsverlegung ihrer Gepflegten in die Tötungsanstalt Hartheim konnten sie nicht verhindern. Der drohenden Inbesitznahme durch die NSDAP zuvorkommend, erreichten die Ordensbrüder 1941 die Beschlagnahmung des Heims durch die Wehrmacht, die ein Reservelazarett einrichtete; die letzten verwundeten Soldaten verließen das Heim auf Anordnung der Besatzungsbehörden im August 1945.

Nach der vorübergehenden Nutzung des Heims als Auffanglager für polnische Zwangsarbeiter/innen trafen nach dessen Auflösung im Oktober 1946 nur kurze Zeit später die ersten jüdischen DPs ein und bewohnten bis zum Januar 1950 das Hauptgebäude. Die noch im Kloster befindlichen 8 Barmherzigen Brüder, der Pater, 24 Gepflegte, 14 Personalkräfte sowie 14 Arbeitskräfte für die Landwirtschaft hatten zuvor das Hauptgebäude verlassen und waren zusammen mit der Hauskapelle in Nebengebäuden der ehemaligen Klosteranlage untergekommen. Am 1. Juni 1950 erfolgte die behördliche Rückgabe der Gebäude an den Orden, seit 1951 führt die Stiftung Attl dort wieder ein Heim für Menschen mit Behinderungen.

Diese Angaben sind im 1994 erschienenen Gedenkheft der Stiftung Attl nachzulesen, das die jüdische DP-Geschichte der Liegenschaft allerdings nur am Rande erwähnt. Weitaus aktiver in den eugenischen NS-Massenmord ‚verstrickt‘ war offenbar die Heil- und Pflegeanstalt (psychiatrisches Krankenhaus) Gabersee. Auch hierzu hat Matthias Oesterheld 1998 ein – ebenfalls unveröffentlichtes – Manuskript (Die vergessenen Opfer – die Euthanasie am Beispiel des Krankenhauses Gabersee) vorgelegt. Trotz aufklärender Artikel des früheren Ärztlichen Direktors Hans Ludwig Bischof und vor allem von Nikolaus Braun, Archivar des Bezirks Oberbayern, abgedruckt im Jahrbuch Heimat am Inn 32 (2012), bleiben infolge der dürftigen Quellenlage noch viele Fragen offen, doch konstatierte Braun eine planmäßige Unterversorgung der Einrichtung an Personal und Lebensmitteln seit der NS-Machtübernahme 1933, Zwangssterilisierungen zwischen 1934 und 1939 sowie die systematische Vorbereitung der Deportation der Bewohner/innen in die Tötungsanstalt Hartheim ab 1940. 1941 wurde die Anstalt Gabersee geschlossen und wechselnd als „Kinderverschickungslager“, Wehrmachtslazarett und Unterkunft für verschiedene militärische Einheiten genutzt. Nach Kriegsende 1945 trafen die ersten jüdischen DPs ein. 1953 wurde die Einrichtung wieder als psychiatrisches Krankenhaus in Betrieb genommen (heute: kbo-Inn-Salzach-Klinikum).

Trotz der Zerstörungen in der Shoa und des erzwungenen Zwischenaufenthalts in einer weitgehend antijüdischen Umgebung machten die Überlebenden – die Scheerit Haplejta (Rest der Geretteten) – „sehr schnell einen Prozess der emotionalen und kollektiven Rehabilitation durch, die sich in ihrer kulturellen, sozialen und politischen Wiedergeburt manifestierte“ (S. 8). Dass dieser Prozess in verschiedene (auch konkurrierende) politische und religiöse Wege mündete, bezeugt, dass es dem Nationalsozialismus nicht gelungen war, die Vielfalt im Judentum auszurotten. Nach Jahren totalitärer Fremdbestimmung und existenzieller Bedrohung gewannen die Bewohner/innen von Gabersee und Attel trotz widriger Verhältnisse die Autonomie über ihre eigene Biografie und Lebensgestaltung zurück, sie entwickelten Ressourcen für einen Neuanfang, der zur Gründungsgeschichte des Staates Israel gehört.

Jim G. Tobias und Nicole Grom haben eine sehr gründliche und thematisch anregende Untersuchung vorgelegt, ergänzt durch ein hilfreiches Glossar, die neue Aspekte jüdischer Geschichte im Nachkriegsdeutschland dokumentiert und zugleich mit Unterstützung des Mit-Autors und Wasserburger Stadtarchivars Matthias Haupt ein unbekanntes Kapitel der Lokalgeschichte von Gabersee und Attel beleuchtet. Wer mehr erfahren möchte, sei an dieser Stelle auf die Website ‚Jüdische DP Lager und Gemeinden in der US Zone‘ (www.after-the-shoah.org, deutsch/englisch) des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V. hingewiesen, aus dem auch die hier besprochene Studie hervorging. In diesem seit 2014 online zugänglichen Internetlexikon sind über 250 jüdische DP Camps, Communities und Kibbuzim beschrieben. Ergänzend dazu wird das Webportal www.talmud-thora.de aufgebaut, wo bereits 50 Einrichtungen der Orthodoxie verzeichnet sind. Diesem umfassenden Forschungs- und Bildungsprojekt bleibt eine gesicherte Finanzierung zu wünschen, gilt es doch, noch viele Biografien und Institutionen aus der vergessenen Welt der DP Camps als ‚Jewish Places‘ im Post-Auschwitz-Deutschland zu entdecken und der Öffentlichkeit vorzustellen.

Jim G. Tobias / Nicole Grom, Gabersee und Attel. Wartesäle zur Emigration. Die jüdischen Displaced Persons Camps in Wasserburg 1946-50. Mit einem Beitrag von Matthias Haupt. Nürnberg 2016: ANTOGO Verlag, 174 S., Ill., ISBN 978-3-938286-48-7, EUR 14,90, Bestellen?

Bild oben: Martin Greenfield (Mitte) und seine Kameraden warten auf die Auswanderung in die USA, Foto: aus dem besprochenen Band

1 Kommentar

  1. http://irgendwiejuedisch.com/2017/01/buchbetrachtung-ein-stein-auf-meinem-herzen-von-shlomo-birnbaum-und-raffael-seligmann.html

    Buchbetrachtung: Ein Stein auf meinem Herzen von Shlomo Birnbaum und Raffael Seligmann

    Sie zogen fort und lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende. So enden Märchen. Und manchmal scheint es, dass auch die Geschichte der Überlebenden der Shoa so endet. Mit der Befreiung enden die meisten Lebensberichte. Selten aber wird vom Seelenleben gesprochen, von den inneren Zweifeln, vom Stein auf ihrem Herzen, wie es Shlomo Birnbaum gegenüber Rafael Seligmann schilderte.

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