Die im damaligen Hilfsschulverband organisierte sonderpädagogische Profession verbreitete nach 1945 die Behauptung, die Sonderpädagogik habe in der NS-Zeit die Interessen leistungsschwacher und behinderter Kinder verteidigt. Sie sei daher vom Nazi-Regime bekämpft worden und selber Opfer der nationalsozialistischen Ideologie gewesen. Das Ansehen der Sonderpädagogik in Politik und Öffentlichkeit ist bis heute davon geprägt…
Von Brigitte Schumann
Die Sonderpädagogik – ein blinder Fleck in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
In einer gründlich und umfassend recherchierten wissenschaftlichen Forschungsarbeit hat Prof. Dagmar Hänsel unlängst diese Geschichtsdarstellung als Mythenbildung widerlegt und dabei Kontinuitäten in der Geschichte der Sonderpädagogik sichtbar gemacht. Sie weist nach, dass der Hilfsschulverband als Organ der Sonderpädagogik mit Zustimmung der Hilfsschullehrerschaft sich unter der NS-Diktatur aktiv für deren rassenhygienische Politik einsetzte. Zum einen sorgte er dafür, dass die ureigenen und vor 1933 längst praktizierten Vorstellungen von der Notwendigkeit, leistungsschwache Kinder aus der Volksschule als „behindert“ auszusondern, in der NS-Zeit reichseinheitlich und rechtsverbindlich mit aller Schärfe umgesetzt wurden. Zum anderen setzte sich der Verband dafür ein, dass die Selektion so genannter erbkranker Kinder für die Sterilisation reibungslos durchgeführt werden konnte. Planungen im Reichskultusministerium, eine eigenständige wissenschaftliche Ausbildung für Sonderpädagogen einzuführen, trugen ebenfalls die Handschrift eines Verbandsvertreters. Kriegsbedingt kamen diese zwar nicht zur Durchführung, sie wurden aber von der Sonderpädagogik zum Anknüpfungspunkt für die sonderpädagogische Ausbildung nach 1945 gemacht.
Hänsel kritisiert, dass die sonderpädagogische Wissenschaft bis heute keinen Beitrag geleistet hat, das öffentliche Geschichtsbild zu revidieren und gesellschaftliche Aufklärung über die Kontinuitäten der sonderpädagogischen Geschichte zu betreiben. Sie verweist auf exponierte Vertreter der sonderpädagogischen Disziplin in unserer Zeit, die sich mit der Behauptung, die Sonderschullehrerausbildung sei von den Nationalsozialisten eingeschränkt bzw. verboten worden, apologetisch in den Dienst der Geschichtsfälschung stellen.
Folgenreiche Geschichtsfälschung
Hänsel weist nach, wie folgenreich die Geschichtsfälschung war und wie die Sonderpädagogik bis heute davon profitiert. Sie belegt, dass der Ausbau des Sonderschulsystems als „Wiedergutmachung“ an den Kindern, die in der nationalsozialistischen Zeit Opfer der Sterilisation und Euthanasie geworden waren, vom Hilfsschulverband moralisch eingefordert und letztlich politisch erschlichen wurde. Um sich von historischer Schuld bequem zu entlasten, machte sich die Politik zum Handlanger der Sonderpädagogik. In der Folge entstand eine weltweit nahezu einzigartige Ausdifferenzierung des sonderpädagogischen Fördersystems in Westdeutschland. Parallel zum Ausbau des Sonderschulsystems gelang es der Sonderpädagogik, auch die eigenständige wissenschaftliche Ausbildung für Sonderpädagogen an Hochschulen und damit die Abtrennung der Sonderpädagogik von der allgemeinen Pädagogik durchzusetzen.
Mit Unterstützung der Politik konnte nach 1945 die Sonderpädagogik die Hilfsschule, die später umbenannt wurde in Sonderschule für Lernbehinderte und heute Förderschule Lernen heißt, zum Kern des sonderpädagogischen Systems entwickeln. Dabei wurden die rassenhygienischen Spuren aus der NS-Zeit abgestreift und die sonderpädagogischen Begründungen passten sich dem Wandel der Zeit an, wie Hänsel darlegt. Erhalten konnte sich jedoch – im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr als nationalsozialistisches Erbe wahrgenommen – bis in unsere Zeit die Zwangszuweisung zur Sonderschule von Kindern mit auffälligen Leistungsschwächen und /oder Verhaltensproblemen. Ebenfalls im institutionellen Interesse der Sonderpädagogik, aber entgegen der menschenrechtlichen Inklusionsverpflichtung hält die Bildungspolitik auch heute diese Schulform für unverzichtbar, die sozial benachteiligte Kinder mit Problemen des Lernens und/oder Verhaltens als „behindert“ aussondert und damit im Kompetenzerwerb zusätzlich benachteiligt.
Mit der Geschichtsfälschung ist es der Sonderpädagogik erfolgreich gelungen, sich als Anwalt der Behinderten und Benachteiligten gesellschaftlich zu etablieren. Diesen Status setzen Vertreter der Wissenschaftsdisziplin und des Fachverbandes gezielt ein, um die UN-BRK, die auf die Überwindung von Sondersystemen zielt, bildungspolitisch auszubremsen. Sie nutzen stattdessen die Inklusionsverpflichtung der UN-BRK, um den Geltungsanspruch der Sonderpädagogik in Wissenschaft und pädagogischer Praxis politisch auszubauen und das vielgliedrige Sonderschulsystem zu bewahren, so das Fazit von Hänsel.
Verantwortung der KMK
Es gehört zum demokratischen Selbstverständnis, sich dem Denken zu widersetzen, man könne unter die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland einen Schlussstrich ziehen. Politische Aufklärung zur Rolle der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus ist vor diesem Hintergrund zwingend. Dabei müssen die Kontinuitäten der sonderpädagogischen Geschichte von der Politik besonders in den Blick genommen werden, damit sie ihr Verhältnis zur Sonderpädagogik überprüft und neu definiert. Nur so kann sie auch im Sinne der Inklusion handlungsfähig werden.
Die KMK hat in bildungs-und gesellschaftspolitischer Gesamtverantwortung sich dieser Aufgabe zu stellen. Ich habe daher die derzeitige Präsidentin der KMK, Frau Staatsministerin Kurth, und die Mitglieder des Präsidiums der KMK am 29. Januar 2015 angeschrieben und, gestützt auf die Forschungsergebnisse von Prof. Hänsel, die Übernahme politischer Verantwortung für die Aufklärung über die Geschichte der Sonderpädagogik gefordert.
Skandalöses Verhalten der KMK
Die KMK kündigte in ihrem Antwortschreiben durch den Generalsekretär vom 11. März 2015 an, sie wolle zur Aufarbeitung der sonderpädagogischen Geschichte einen Fachdiskurs mit ausgewählten Vertretern der Sonderpädagogik initiieren und moderieren. Auf meinen Einwand, dass auch allgemeine Pädagogen und Vertreter anderer Disziplinen einbezogen werden müssten, schien sie sich einlassen zu wollen.
Das Anschreiben vom 22. Juli 2015 an einen erweiterten Kreis ausgewählter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über den der sonderpädagogischen Disziplin hinaus ist das beschämende Dokument des politischen Rückzugs. Zwar setzt man rein formal mit dem Brief das Vorhaben um, ohne jedoch die Adressaten über den konkreten Handlungsauftrag, die Zielsetzung und das Verfahren in Kenntnis zu setzen. Eine Übernahme politischer Verantwortung für Aufarbeitung und Aufklärung der sonderpädagogische Vergangenheit ist nicht erkennbar. Meine kritische Erwiderung zu dem Vorgehen ist unbeantwortet geblieben. Es ist offensichtlich, dass es auch 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus zivilgesellschaftlicher Unterstützung braucht, um politische Aufklärung über die Rolle der Sonderpädagogik zu erzwingen.