„Die Juden waren im 16. Bayrischen Infanterie-Regiment besser als Hitler integriert“

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Ein Interview mit dem Historiker Thomas Weber über die Juden im ersten Weltkrieg…

Unter dem Titel „Die Versprechen des Krieges – Die Juden in Europa 1914 – 1918“ lud die österreichische Botschafterin in Paris, Ursula Plassnik, zu einem internationalen Kolloquium an die Sorbonne.

Von Danny Leder, Paris

In den Armeen des ersten Weltkriegs kämpften insgesamt 1,5 Millionen jüdische Soldaten. In der k.und k.-Armee dienten 300.000 Juden, darunter 25 Generäle. Ein Zehntel fiel auf den Schlachtfeldern, Zehntausende wurden für ihre Tapferkeit ausgezeichnet. Ihr patriotischer Elan verband sich mit der Hoffnung auf endgültige Aufnahme in die jeweilige nationale Gemeinschaft. Doch diese Hoffnung wurde vielfach bitter enttäuscht.

„Die Versprechen des Kriegs – Die Juden in Europa 1914 – 1918.“ Unter diesem Titel lud Österreichs Botschafterin in Paris, Ursula Plassnik, zu einem internationalen Kolloquium in Zusammenarbeit mit der Universität Sorbonne (dem Ort der Tagung), der Wiener Landesverteidigungsakademie und dem „Consistoire Central“ (dem Vorstand der jüdischen Kultusgemeinden Frankreichs).

Bei Eröffnung der Tagung schilderte der österreichisch-ungarische Publizist Paul Lendvai in ergreifenden Worten, wie seine Verwandten, die im ersten Weltkrieg in der k.und k.-Armee gedient hatten, später, während des zweiten Weltkriegs, als sie von ihren Landsleuten deportiert wurden, ihre Orden in ihren arisierten Wohnungen zurückließen. Der aus einer deutschen Familie stammende israelische Diplomat Avi Primor erinnerte daran, dass die Nazis die Inschriften für jüdische Soldaten in Deutschland aus Gedenksteinen herauskratzen und die meisten Kriegsveteranen ebenfalls umbringen ließen.

Anlässlich dieses Pariser Kolloquiums fand das folgende Gespräch mit dem deutschen Historiker Thomas Weber (der an der Universität Aberdeen, in Schottland, lehrt) statt.

Professor Weber, Sie haben mit einem Buch über Hitlers Teilnahme am ersten Weltkrieg (*) Aufsehen erregt. Dabei haben Sie auch das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in bayrischen Infanterie-Regiment Hitlers erforscht. Hat sich da eine neue Sicht ergeben?

Thomas Weber: Ich denke schon. Bisher war man davon ausgegangen, Hitler wäre ein typisches Produkt seines Regiments gewesen. Dieses wäre  der Nährboden für antisemitische und protofaschistische Ideen gewesen. Es war übrigens ein jüdischer Offizier, der Hitler für einen Orden vorschlug. Aber über diesen Offizier hieß es, alle hätten ihn gehasst. Diese Darstellung war Teil der NS-Inszenierung über den Werdegang Hitlers. Wenn man sich aber die zeitgenössischen Quellen anschaut, ergibt sich ein überraschend anderes Bild: die 60 jüdischen Regimentssoldaten waren eher gut integriert.

Woran lag das?

Thomas Weber: Die meisten Juden lagen im Schützengraben. In vielerlei Hinsicht waren sie besser als Hitler integriert, der im Regimentsstab als Meldegänger diente. Soldaten, die im Stab dienten wurden in der Regel von den Soldaten in den Gräben gehasst, weil es ihnen vermeintlich oder tatsächlich besser ging. Nach dem Krieg zeigten die meisten Regimentsveteranen Hitler die kalte Schulter. Das war für die NSDAP-Propaganda ein Problem. Ein Kompaniechef, der  1932 in einem Artikel geschrieben hatte, Hitler sei „nicht mehr als zehn Tage in der vordersten Linie“ gewesen, wurde nach der NS-Machtübernahme in einem KZ interniert und musste eine Schweigeverpflichtung unterschreiben, um wieder frei zu kommen.

Aber kam es nicht im Hinterland zu verstärktem antijüdischem Ressentiments? Arthur Schnitzler beispielsweise konnte den Tod von jüdischen Freunden auf dem Schlachtfeld mit gleichzeitigen antijüdischen Vorfällen im österreichischen Hinterland nicht auf eine Reihe bringen und schrieb in sein Tagebuch im September 1914: „Ist dieses Land noch zu retten?“   

Thomas Weber: Ja, an der Heimatfront ist das Ressentiment ausgeprägter gewesen als an der Schützenfront. Da gab es eine Radikalisierung mit dem Aufkommen rechter Bewegungen, für die in Deutschland sogar die Regierungspolitik des Kaisers zu moderat war. Als Hungersnot eintrat, wurden die wirtschaftlichen Probleme mehr und mehr den Juden in die Schuhe geschoben.

War damit der erste Weltkrieg auch ein Vorspiel zum Holocaust?

Thomas Weber: Das Bild ist komplexer. Im ersten Weltkrieg sind in Ausschwitz Juden in Viehwaggons gestiegen, um sich vor russischen Truppen in österreichischen und deutschen Städten in Sicherheit zu bringen. Im zweiten Weltkrieg war der Weg bekanntlich umgekehrt, auch wieder in Viehwaggons. Im ersten Weltkrieg hat die Hilfe der deutschen und österreichischen Behörden für die Juden Galiziens wiederum zu Ressentiments geführt, weil eine Menge Flüchtlinge aufgenommen wurden in einer Situation, in der es bereits an vielem mangelte.

Aber ohne die Entwicklung in Deutschland oder Österreich  klein reden zu wollen, meine ich doch, dass der erste Weltkrieg die einschneidensten Veränderung in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in den Gebieten Osteuropas brachte.

War der erste Weltkrieg also eine Urkatastrophe für die Juden Osteuropas?

Thomas Weber: Die eigentliche Urkatastrophe für die Juden Osteuropas besteht meines Erachtens in der Umwandlung von multi-ethnischen, dynastischen Reichen in moderne Nationalstaaten. In diesen alten Reichen gab es bereits für die Juden sehr viele Probleme, viel Diskriminierung, Übergriffe. Dennoch gab es in diesen Reichen einen Platz für die Juden. In dem Moment, in dem sich diese Reiche mit ihren multi-ethischen Fleckenteppichen in moderne Nationalstaaten umwandeln – was ja spätestens seit der griechischen Unabhängigkeit 1830 passiert, ein Prozess der insgesamt gut 100 Jahre anhält – ab da wird die Lage für alle prekär, aber für die der Juden in besonderem Ausmaß. Weil die Auflösung dieser Fleckenteppiche auf ethnische Säuberungen hinausläuft, was für eine Gruppe wie die Juden, die über kein Kern-Territorium verfügt, ganz fatal ist.

In Osteuropa war aber auch ein beträchtlicher Teil der Juden um Teilnahme an der Errichtung der jeweiligen Nationalstaaten bemüht. Warum blieb das erfolglos?

Thomas Weber: Selbstverständlich. Aber es nützt überhaupt nichts, wenn ich mich selbst integrieren will, und mich die Leute rundherum als etwas anderes sehen. Ihre Frage kommt aber goldrichtig, weil  der erste Weltkrieg in dieser Hinsicht doch eine große Rolle gespielt hat. Der von mir zuvor dargestellte langfristige Prozess (Umwandlung in Nationalstaaten) war voller Gift. Aber man konnte sich dennoch einen guten Ausgang dieses Prozesses vorstellen. Es gibt ein neues Buch über Deutschland und Österreich im ersten Weltkrieg von Alexander Watson, der nachzeichnet, wie in Galizien zu Beginn des ersten Weltkriegs ethnische Polen und Juden noch gut miteinander auskamen. Da hat die Erfahrung des Krieges dieses brüchige Verhältnis, das bis dahin gehalten hatte, zerstört. Dadurch, dass der Frontverlauf sich ständig nach vorne oder dann wieder zurück verschob. Die Gruppen warfen  sich gegenseitig vor, mit der einen oder anderen Kriegspartei verbrüdert zu haben. Von daher führte der erste Weltkrieg noch zu einer Radikalisierung der Umwandlungsprozesse in Nationalstaaten, die sonst vielleicht in friedlichere Bahnen gelenkt hätte werden können.

Aber dann waren es weiter westlich getroffene Entscheidungen, die zur Vernichtung der Juden führten.

Thomas Weber: In Osteuropa drohte den Juden eine schreckliche Zukunft, aber ohne Genozid. Die schreckliche Zukunft mit Genozid war die Leistung Deutschlands.

Der israelische Diplomat Avi Primor hält den Opfergang der jüdischen Soldaten des ersten Weltkriegs aus israelisch-zionistischer Sicht und im Bewusstsein der späteren Vernichtung der Juden Europas – zum Teil durch jene Armeen, für die die Juden ursprünglich gekämpft hatten –  für sinnlos. War das Scheitern ihrer Integrationsbemühungen zwangsläufig? 

Thomas Weber: Ja und Nein. Aus der Sicht am Ende des ersten Weltkriegs wäre zumindest in West- und Mitteleuropa auch ein anderer Geschichtsverlauf denkbar gewesen. In Osteuropa war das eben nach Auseinanderfallen der multi-ethnischen Reiche und der damit verbundenen ethnischen Säuberungen schon viel schwieriger. Da dürfte die Zukunftsperspektive entweder Zionismus oder Auswanderung in die Neue Welt gelautet haben. Aber auch in den USA wurde die Einwanderung durch Quoten für Juden erschwert, gleichzeitig schien damals aber auch die Gründung eines jüdischen Staats höchst ungewiss.

(*) „Hitlers erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“, Propyläen Verlag, März 2011.

Erstveröffentlichung in der österreichischen Tageszeitung „Kurier“.