Nichts gelernt

0
18

In Österreich wird an das Pogrom vom 9. November 1938 erinnert. Richtig aufgearbeitet wurde der Antisemitismus aber nicht und er ist auch heute verbreitet…

Von Karl Pfeifer
Jungle World v. 07.11.2013

Pünktlich zum 75. Jahrestag des Pogroms vom 9. November 1938, das in Österreich mit besonderer Grausamkeit durchgeführt wurde, hat die Stadt Wien eine zweisprachige Broschüre (Deutsch und Englisch) über »Wien und seine Gedächtniskultur« herausgegeben. Nicht fehlen darf der Hinweis auf diesen jahrhundertalten »Schmelztiegel im Herzen des Kontinents, geistiges Zentrum Europas rund um die Jahrhundertwende«. In der Broschüre werden mit Recht all die positiven Leistungen des »Erinnerns für die Zukunft« der sozialdemokratisch verwalteten Stadt aufgeführt, und damit kein Zweifel entsteht, wem man das zu verdanken hat, ließ sich der für Kultur und Wissenschaft verantwortliche Stadtrat an einem alten jüdischen Grabstein fotografieren. Aber erst der Erfolg des 1980 publizierten Buches »Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle« des US-amerikanischen Kunsthistorikers Carl E. Schorske hatte den Wiener Politikern klargemacht, dass man auch aus verstorbenen Juden vielerlei Gewinn ziehen kann.

Nach 1945 entdeckte man Antisemitismus immer nur bei der anderen Partei und bis heute haben sowohl SPÖ wie auch ÖVP versäumt, den Antisemitismus in den eigenen Reihen aufzuarbeiten. Von 1897 bis 1910 prägte und regierte Bürgermeister Karl Lueger die Stadt, der sich nicht nur als Modernisierer, sondern auch als politischer Antisemit einen Namen machte. Nach jahrelangen Diskussionen wurde im Frühjahr 2012 der nach Lueger benannte Ringabschnitt vor der Universität Wien in »Universitätsring« umbenannt. Wer das beliebte Café Prückel aufsucht, wird am Karl-Lueger-Platz noch immer die Statue dieses Politikers anschauen können, der Juden im Wiener Reichsrat sogar Ritualmord vorwarf. Wer aber von der Universität und dem Burgtheater zum Parlament am Dr.-Karl-Renner-Ring spaziert, wird in der Regel nichts von den vielen antisemitischen Äußerungen dieses sozialdemokratischen Politikers in der Zwischenkriegszeit wissen, als Renner den Christlich-Sozialen vorwarf, ihren Antisemitismus nicht radikal genug zu praktizieren.

Wenige Monate nach Ende des Holocaust, am 29. August 1945, machte sich Staatskanzler Renner in einer Kabinettsitzung Sorgen um das Schicksal der Nationalsozialisten und behauptete, dass »alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die ›Nazis‹ gar nicht weit tragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut –, vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren.« Der britische Labour-Abgeordnete Richard Crossman, der im Februar 1946 nach Wien kam, um zu erkunden, ob es die Möglichkeit gebe, wieder eine jüdische Gemeinde in Wien aufzubauen, erhielt von Renner folgende Antwort: Man würde nicht zulassen, »dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen«.

Ausgerechnet der Bundeskanzler »jüdischer Abstammung«, Bruno Kreisky, nannte 1975 die Juden ein »mieses Volk«. Er stellte sich schützend vor das ehemalige Mitglied einer SS-Mordbrigade und unterstellte gemeinsam mit anderen sozialistischen Politikern Simon Wiesenthal, der das Wirken des SS-Mannes bekanntgemacht hatte, mit der Gestapo kollaboriert zu haben. Der Krieg zwischen Irak und Iran, der von 1980 bis 1988 dauerte, war für Kreisky ein »Vorgang«, während er den Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon 1982 als »Völkermord« brandmarkte.

Heute sind explizit antisemitische Äußerungen von österreichischen Politikern rar geworden. Doch gibt es die von Heinz-Christian Strache geführte FPÖ, die bei der vergangenen Wahl in Ös­terreich mehr als 20 Prozent der Stimmen bekam. »Eine radikal rechte Partei mit Personal aus der Neonazi-Szene und dem deutschnationalen Milieu – sogar auf den höchsten Ebenen«, wie die Schweizer Journalistin Yvonne Staat in der FAS schrieb, die auch die Abstumpfung in Österreich beklagte, die schuld daran sei, dass kein Politiker aufgeschrien habe, als Strache vergangenes Jahr eine antisemitische Karikatur auf seiner Facebook-Seite postete.

Im 21. Jahrhundert hat man eine neue Methode gefunden, seine Ressentiments auszuleben. Einige Medien und Politiker in Österreich meinen, dass der Holocaust von irgendwelchen »Nazis« durchgeführt worden sei, mit denen man hier nicht das Geringste zu tun gehabt habe, dass aber gerade Österreicher heute das Recht hätten, Juden vorzuwerfen, sie hätten nichts aus ihren Leiden gelernt. So harmoniebedürftig man zu Hause ist, so radikal ist man in der »Kritik« des jüdischen Staates, an dem man kein gutes Haar lässt.

Ein Beispiel dafür ist die Debatte über die »Mavi Marmara«, das von türkischen Islamisten geführte Schiff, das im Mai 2010 die Seeblockade des Gaza-Streifens durchbrechen wollte. Einige Passagiere widersetzten sich mit Gewalt der Durchsuchung durch israelische Soldaten, neun verloren dabei ihr Leben. Der Wiener Landtag verfasste bereits einen Tag später, einer Initiative des SPÖ-Abgeordneten Omar al-Rawi folgend, einen einstimmigen Beschluss gegen den Staat Israel. Der Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) rechtfertigte am 24. Juni 2010 diesen Beschluss mit dem Argument, »dass das Embargo, das Israel über den Gaza-Streifen verhängt hat, völkerrechtswidrig ist und daher aufgehoben gehört«. Doch 2011 stellte eine Kommission der Vereinten Nationen fest, dass die Seeblockade von Gaza legal sei.

Seither ist viel Blut im Nahen Osten geflossen, es gibt allein in Syrien mehr als 100 000 Tote, doch der Wiener Landtag betreibt selektiven Humanismus und hat dazu nichts zu sagen. Daraus folgt: Wenn in Wien der jüdische Staat mit besonderem Maßstab gemessen wird, dann ist das – was auch immer dabei beabsichtigt und gedacht wird – Antisemitismus.