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Ressentiment mit bestem Gewissen

Jakob Augstein spricht mit seinen israelfeindlichen Äußerungen vielen Kollegen und der deutschen Öffentlichkeit aus dem Herzen…

Von Stephan Grigat

Interessanter als die geradezu obsessiven Auslassungen des Spiegel-Kolumnisten und Freitag-Herausgebers Jakob Augstein über den jüdischen Staat, die er über mehrere Monate hinweg in seiner Kolumne „Im Zweifel links“ publiziert hat, und von denen der deutsche Politikwissenschaftsprofessor Samuel Salzborn „vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung“ ganz richtig und reichlich zurückhaltend sagt, dass sie „eine Reihe von antisemitischen Passagen enthalten“, ist mittlerweile die Debatte über Augstein, die seit Wochen den deutschen Blätterwald in Atem hält. Augsteins Äußerungen wurden vom Simon Wiesenthal-Center auf Platz 9 der „2012 Top Ten antisemitischer/antiisraelischer Verunglimpfungen” gesetzt. Rainer Trampert, in den 1980er-Jahren noch Bundesvorstandssprecher der deutschen Grünen, fasste treffend zusammen: „Die Fragen, ob Augstein auf die Liste gehört oder der richtige Zeuge gefunden wurde, lenken nur ab. Man sollte den Initiatoren der Liste danken, dass sie die Weltöffentlichkeit auf den smarten Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien aufmerksam gemacht haben.” Stefan Gärtner vom Satire-Magazin Titanic brachte mit der Überschrift „Wer Juden hasst, bestimme ich“ treffend Augsteins anmaßenden Autoritarismus und seine Abwehr jeglicher Kritik auf den Punkt.

Auffallend ist dabei, dass nichts davon in einer der großen deutschen Zeitungen erschienen ist. Fast die gesamte deutsche Journaille schwang sich zu einer Verteidigung des Sohnes von Martin Walser auf. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass viele Autoren sich selbst ertappt fühlen. Denn der Mitinhaber des Spiegel-Verlags hat mit seinen Ausführungen zu Israel als angeblicher Gefahr für den „Weltfrieden“, mit seinen Falschdarstellungen und Verharmlosungen der Vernichtungsabsichten des iranischen Antisemitenregimes, durch seine Gleichsetzung von ultraorthodoxen israelischen Juden mit djihadistischen Mördern und durch sein verschwörungstheoretisches Geraune, hinter was und wem Israel nicht alles stecke, die antisemitische Schlagseite des deutsch-österreichischen Volkssports der „Israelkritik“ nur noch deutlicher werden lassen, als sie ohnehin schon ist.

Die Diskussion über den antisemitischen Gehalt eines Israel-Bashings á la Augstein ist weder neu, noch sind die Äußerungen des Journalisten und Verlegers isoliert zu betrachten. Augstein spricht nicht nur zahlreichen seiner Kollegen aus dem Herzen, sondern agiert als Sprachrohr eines wesentlichen Teils der deutschen Gesellschaft. Der Schriftsteller und Philosoph Jean Améry schrieb bereits 1969 von einem „ehrbaren Antisemitismus“, der sich im Hass gegenüber Israel artikuliere. Nachdrücklich warnte er davor, dass der Antisemitismus im Antizionismus enthalten sei, wie „das Gewitter in der Wolke“. Der Antisemitismus hat sich nach 1945 gewandelt: Natürlich gibt es noch jene Alt- und Neonazis, die ganz offen und unumwunden gegen Juden hetzen, wie man es heutzutage ansonsten nur mehr bei Islamisten antrifft. Doch das Problem ist viel größer: Zum einen hat sich nach 1945 ein sekundärer Antisemitismus etabliert, der sich in der Abwehr und Relativierung der deutsch-österreichischen Schuld äußert, was in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem von national-konservativen Kreisen praktiziert wurde, in den letzten Jahrzehnten allerdings fast wirkungsvoller von Exponenten jenes links-pazifistischen Milieus betrieben wird, für das der ehemalige Waffen-SSler Günter Grass, für dessen antiisraelische Grundschullyrik sich Augstein schwer ins Zeug gelegt hat, exemplarisch steht.

Zentrale Stichworte für eine Aktualisierung des sekundären Antisemitismus hatte der leibliche Vater von Augstein, Martin Walser, 1998 mit seiner Paulskirchenrede geliefert, in der er von Auschwitz als „Moralkeule“ sprach und dafür vom versammelten deutschen Establishment stehende Ovationen erhielt. Zum anderen ist jener vermeintlich „ehrbare Antisemitismus“, vor dem Améry schon vor mehr als 40 Jahren gewarnt hatte, heute aktueller denn je. Améry meinte damit ein antisemitisches Ressentiment gegenüber Israel, dass sich selbst für überhaupt nicht antisemitisch, sondern ganz im Gegenteil, ganz so wie Augstein, für zutiefst moralisch hält.

Wenn in den postnazistischen Gesellschaften über Israel gesprochen wird, wird immer auch über die nationalsozialistische Vergangenheit geredet. Wenn Deutsche und Österreicher sich über die Politik in Jerusalem auslassen, sprechen sie immer auch über ihre Väter und Großväter. Im Verweis auf vermeintliche „israelische Verbrechen“ beruhigt sich das deutsch-österreichische Bewusstsein: schließlich habe doch jeder irgendwie Dreck am Stecken. 2003 hielten 59 Prozent der Bürger der Europäischen Union und 65 Prozent der Deutschen Israel für, wie es in einer EU-Umfrage ganz im Sinne Augsteins formuliert wurde, „die größte Gefahr für den Weltfrieden“. In Österreich waren es 69 Prozent. 2004 waren knapp 70 Prozent der Deutschen der Meinung, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. 42 Prozent der Österreicher meinten 2011, die Israelis würden sich gegenüber den Palästinensern „genauso unmenschlich wie damals die Nazis gegenüber den Juden“ verhalten. 2007 positionierten sich laut einer BBC-Umfrage 77 Prozent der Deutschen eindeutig negativ gegenüber Israel. Das muss einen insofern nicht weiter wundern, als Israel bis heute jeden Deutschen und jeden Österreicher alleine durch seine Existenz an Dachau und Mauthausen, an Auschwitz und Majdanek, an Treblinka und Sobibor erinnert.

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien, Mitherausgeber von „Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung“ und Herausgeber von „Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert.“

In redaktioneller Bearbeitung erschienen in Der Standard, 15.1.2013