Seltsamerweise wurde – sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – immer noch keine umfassende Untersuchung über die wirtschaftlichen Folgen der »Endlösung« vorgelegt. Auch jüdische Historiker und Wissenschaftler, die sich mit dieser Geschichte befassen, haben ihren ökonomischen Aspekt kaum berührt…
Das ist umso erstaunlicher, als die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und ihre systematische Enteignung einen bedeutenden Faktor für die Stabilität des Regimes bildeten. Dieser in der Geschichte beispiellose Raub sollte nicht nur die Ausgaben für den Krieg und für die Verwaltung der besetzten Länder decken. Er stellte auch in erheblichem Maße »Schmiergelder« für die Mitwirkung der Bevölkerung bereit.
Raul Teitelbaum (Wie die Schoah „wiedergutgemacht“ wurde)
Diesem Thema: »Wie die Nazis ihr Volk kauften« hat der Historiker Götz Aly eine eigene Untersuchung gewidmet, die in Deutschland breite Aufmerksamkeit erregte. »In einem prekären Abschnitt des Krieges brachte die Enteignung der europäischen Juden erhebliche Geldmittel in die deutschen Kassen,« heißt es darin. »Das förderte die innere Stabilität in Deutschland und die Kollaborationsbereitschaft in den besetzten Ländern.«9
Aly kommt zu dem Schluss, dass der deutsche Kriegshaushalt zu zwei Dritteln durch Ausbeutung der eroberten Länder, Zwangsarbeit und Ausplünderung der verfolgten und ermordeten Juden gedeckt wurde. Hitler hat also seinen Krieg hauptsächlich aus externen Quellen finanziert; die deutsche Bevölkerung selbst wurde nicht übermäßig zur Kasse gebeten. Im Gegenteil: Wie der Historiker feststellt, »verfügte die übergroße, damals noch ziemlich knapp bemittelte Mehrheit der Deutschen im Krieg über mehr Geld als in den letzten Friedensjahren«.10
Erst in den neunziger Jahren erschienen einzelne Untersuchungen zu dieser Politik der Ausraubung durch die Nazis und die in ihrem Auftrag handelnden Institutionen – der deutschen Banken und Großkonzerne -, veranlasst insbesondere durch die Thematik von »Nazigold« und Schweizer Banken. Alles in allem setzten die europäischen Staaten etwa fünfzig historische Untersuchungskommissionen ein, die sich von Land zu Land mit den wirtschaftlichen Aspekten der Schoah, mit der Kollaboration lokaler Institutionen, aber auch mit der Wiederaufnahme der Überlebenden in ihren Heimatländern befassten. Das reiche Material, das sie ans Licht brachten, wartet noch immer auf Historiker und Wirtschaftsexperten, die daraus umfassendere Schätzungen hinsichtlich des materiellen Schadens erstellen, der dem jüdischen Volk zugefügt wurde.
Die von jüdischen Stellen vorgelegten Berechnungen blieben fragmentarisch und dienten ursprünglich dem Zweck, die gegen Deutschland erhobenen Entschädigungsansprüche zu beziffern. Erste Schätzungen dieser Art wurden schon vor Kriegsende vorgenommen. Aufgrund der von Adler-Rudel bereits im März 1941 vorgelegten Daten kam Nehemia Robinson im Jahre 1944 zu dem Ergebnis, dass sich der Wert des in Deutschland und Österreich geraubten jüdischen Vermögens auf 2 Milliarden US-Dollar belief.11
In Palästina legte der spätere Wirtschaftsminister Dov Joseph der Jewish Agency am 27. April 1945 einen Bericht vor, der den Schaden auf 2 Milliarden Pfund Sterling (damals rund 6 Milliarden US-Dollar) bezifferte, ohne Berücksichtigung der Sowjetunion. Diese Zahl wurde im September 1945 in Chaim Weizmans Note an die Großmächte genannt und sollte immer wieder auftauchen, so auch zu Beginn der fünfziger Jahre in den Verhandlungen mit Deutschland. Sie war weniger hieb- und stichfest als vielmehr sehr griffig – 6 Milliarden Dollar bei 6 Millionen Ermordete. Robinson kam 1961 in einer aktualisierten Berechnung auf die doppelte Summe von 12 Milliarden.12
Mindestens die Hälfte des jüdischen Besitzes in Westeuropa und fast der gesamte osteuropäische Besitz war demnach verlorengegangen. Obwohl die statistische Datengrundlage noch immer fragwürdig war – zumal hinsichtlich der osteuropäischen Länder, in denen die meisten Juden gelebt hatten -, hat Robinson die Berechnung der »materiellen Bilanz der Schoah« auf eine solide Basis gestellt. Er war auch der erste, der zwei zusätzliche Schadensaspekte berücksichtigte – den potentiellen Einkommensverlust und den Wert der Zwangsarbeitskraft. Er schätzte den ersteren auf 10-12 Milliarden und den letzteren auf 5 Milliarden Dollar, so dass sich eine Schadensbilanz von 27 bis 29 Milliarden Dollar (oder nach heutigen Wert 270 bis 290 Milliarden) ergibt. Dies alles beinhaltet natürlich nicht den unschätzbaren Verlust an dem, was der ökonomische Fachjargon »Humankapital« nennt.
Spätere Untersuchungen haben Robinsons Schätzungen kaum in Frage gestellt.13
Das gilt allerdings nicht für die 1984 eingereichte Dissertation von Klaus Scheurenberg,14 die den Gesamtumfang des geraubten Eigentums in den vierzehn besetzten und kollaborierenden Staaten Europas auf 50,9 Milliarden Reichsmark beziffert. Umgerechnet ergibt dies einen fast doppelt so hohen Betrag.
Ein eigenes Kapitel widmet Scheurenberg dem »letzten Besitz«, den man den Juden vor ihrer Ermordung abnahm. Die Belege finden sich hauptsächlich in den »wirtschaftlichen Bilanzen« der »Aktion Reinhard«, wie die Vernichtungsaktion im polnischen »Generalgouvernement« hieß. Deren Leiter Odilo Globocnik veranschlagte im Januar 1943 den Gesamtumfang der letzten Habseligkeiten auf 1.901 Waggons mit Kleidung im Werte von 46 Millionen Reichsmark, dazu Bargeld verschiedener Währung (79 Mio. RM), Schmuck (44 Mio. RM), Gold und Silber in Form von Sakralgegenständen etc. (10 Mio. RM) und Goldmünzen (1,7 Mio. RM). Ein Thema für sich sind die Goldzähne, die man aus den Mündern der Ermordeten herausbrach. In einem Bericht, der imMai 1944 in Buchenwald und Sachsenhausen herausging, wird der Versand von 241,45 kg Zahngold erwähnt. Alles in allem schätzt Scheurenberg den Wert dieses »letzten Besitzes« auf 800 Millionen Reichsmark (ca. 335 Mio. Dollar).
Scheurenberg untersucht auch, wie das geraubte Eigentum zur Deckung der Kriegsausgaben verwendet wurde. Die vorgelegten Daten zeigen, dass allein der Raub jüdischen Vermögens in Deutschland (ohne den Wert der Zwangsarbeit etc.) fast die gesamte Aufrüstung der Wehrmacht vor dem Zweiten Weltkrieg und 7 Prozent des gesamten Kriegshaushalts finanzierte.
Hinsichtlich des Gesamtumfangs des geraubten Vermögens liegt Scheurenberg, selbst Schoah-Überlebender und lange Jahre Vorsitzender der Berliner »Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit«, nicht nur weit über den Zahlen Robinsons, sondern auch über drei späteren Schätzungen, die gegen Ende der neunziger Jahren veröffentlicht wurden.15
In einem Dokument, das der Jüdische Weltkongress gemeinsam mit der Besitzrechtsnachfolgeorganisation WJRO der im Dezember 1997 einberufenen Londoner Goldkonferenz vorlegte, wurde der Schaden in drei Kategorien eingeteilt: geraubte Vermögenswerte (geschätzt auf 120 Milliarden US-Dollar), geschätzte Einkommensverluste (100 bis 150 Milliarden) und Wert der Zwangsarbeit (10 bis 50 Milliarden). Der Gesamtschaden wird also auf 230 bis 320 Milliarden Dollar beziffert.16
Die Unterschiede zeugen von der Schwierigkeit der Aufgabe. »Trotz der vielen Anstrengungen gelingt es bis heute nicht, eine vollständige Schätzung über den Umfang der wirtschaftlichen Zerstörung zu erhalten, die die Nazis den Juden zugefügt haben«, schrieb die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Helen B. Junz in ihrer 1999 vorgelegten Bilanz, die dem Bericht der Unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Schweizer Konten angehängt wurde.17
Unter Heranziehung von neuem Quellenmaterial (z.B. aus den Steuerbehörden) bezieht sie sich auf sechs Länder – Deutschland, Österreich, Polen, Ungarn, Holland und Frankreich -, in denen 57 Prozent der europäischen Juden lebten, wobei nach ihrer Einschätzung der Umfang des hier geraubten Vermögens 75 Prozent des geraubten jüdischen Besitzes in Europa ausmachte. Sie kommt auf rund 9,9 Milliarden Dollar nach damaligem Wert, berücksichtigt aber nicht den Wert von Einkommensverlust und jüdischer Zwangsarbeit.
Das gilt auch für die etwa gleichzeitige Untersuchung des amerikanischen Finanzexperten Sidney Zabludoff, die der Jüdische Weltkongress in Auftrag gab.18
Zabludoff ging unter anderem davon aus, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Wohlstand der jüdischen Bevölkerung in den europäischen Ländern (einschließlich Osteuropa) um rund 25 Prozent über dem allgemeinen Durchschnitt lag, weil die Mehrheit in städtischen Gebieten lebte und der Anteil der freien Berufe und Akademiker relativ hoch war.
Das geraubte Vermögen in Deutschland, Österreich und den 20 besetzten Ländern wurde auf 90 bis 140 Milliarden US-Dollar (nach aktuellem Wert) veranschlagt. Die Untersuchung enthüllt zum Beispiel, dass in Frankreich, Belgien und Holland 70.000 Wohnungen geräumt, beschlagnahmt und 30.000 (!) Waggons mit Mobiliar sowie 21.000 Kunstschätze abtransportiert wurden, dazu allein in Frankreich Bibliotheken mit 20 Millionen Büchern. In Österreich stapelte sich damals rund eine Viertelmillion geraubter Bücher aus okkupierten Ländern, darunter antike Ausgaben und sonstige bibliophile Kostbarkeiten.
Wenn wir die Summe aus diesen Untersuchungen ziehen, bewegt sich der finanzielle Umfang der »materiellen Schoah« – geraubtes Vermögen, Einkommensverlust und Zwangsarbeit – in einer Größenordnung von 230 bis 380 Milliarden US-Dollar nach heutigem Wert.19
In rechtlich-politischer Hinsicht kamen diese Schätzungen allesamt viel zu spät. Den Vertretern Israels und des jüdischen Volkes standen sie nicht zur Verfügung, als sie von den Deutschen Entschädigung forderten.
Anfang 2007 hat Zabludoff in einer neuen Untersuchung festgestellt, dass sich der Gesamtwert jüdischen Vermögens, das weder zurückgegeben noch erstattet wurde, bei mindestens 115 bis 175 Milliarden Dollar (nach aktuellem Wert) bewegt.
Nur 20% der geraubten Werte wurden ersetzt
Trotz aller Anstrengungen und Abkommen, Versprechungen und Zusagen wurden nicht mehr als 20 Prozent der geraubten Werte restituiert.20
Die immensen Anstrengungen, die in die Rückführung von privatem wie auch öffentlichem jüdischem Besitz investiert wurden, waren also letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Deutschland ist im Grunde das einzige Land, in dem dieser Prozess nahezu abgeschlossen wurde. Die Aktivitäten der WJRO, 1993 auf Initiative der israelischen Regierung und jüdischer Organisationen gegründet, um die Rückerstattung jüdischen Eigentums in weiteren, insbesondere den osteuropäischen Ländern zu betreiben, sind auf der ganzen Linie gescheitert (siehe Kapitel 5 des Buches).
Die historische Bilanz zwischen der Gesamtsumme der materiellen Schäden, die Deutschland dem jüdischen Volk zugefügt hat, und der gezahlten oder noch zu zahlenden Entschädigungssumme ist weit davon entfernt, ausgeglichen zu sein. Bis Ende 2007 wurden für die »Wiedergutmachung« nationalsozialistischer Verbrechen insgesamt 65,1 14 Milliarden Euro – übrigens nicht nur an jüdische Empfänger – bezahlt.21 Das Bundesfinanzministerium geht davon aus, dass bis 2030, wenn der letzte Überlebende verstorben sein wird, noch etwa 9,5 Milliarden Euro zu zahlen sind, so dass der Gesamtbetrag aller Entschädigungszahlungen rund 74 Milliarden Euro erreichen wird. Das bedeutet, dass der deutsche Staat dem jüdischen Volk nur knapp ein Viertel der unmittelbaren materiellen Schadenssumme (Schaden an Leib und Leben nicht eingerechnet) erstatten wird.
All jenen, die der Ansicht sind, dass »die Juden die Deutschen auspressen«, sei diese historische Bilanz vor Augen gehalten.
- 9 Götz Aly, Hitlers Volks Staat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/Main 2005,314.
- 10 Ebd., 327.
- 11 Robinson, Indemnification and Reparations, Institute ofJewish Affairs, New York 1944. Adler-Rudel hatte den Schaden auf 4 Milliarden Reichsmark beziffert, und Robinson rechnete diesen Wert in US-Dollar um, wobei er die unterschiedlichen Schadenskategorien auswies.
- 12 Robinson, Beraubung und Wiedergutmachung, New York 1962. Siehe zum Folgenden Statistischer Anhang, Tab 1. (im Buch).
- 13 Siehe z. B. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966, der das jüdische Vermögen im April 1938 auf 7,538 Milliarden Reichsmark (3,114 Mrd. Dollar) in Deutschland und 2,295 Milliarden Reichsmark (956 Mio. Dollar) in Österreich schätzt.
- 14 Klaus Scheurenberg, Holocaust als Wirtschaftsfaktor, Diss., Century University, Beverly Hills, Calif. 1984 (Ms.).
- 15 Zur Vergleichharkeit dieser hier auf unterschiedliche Währungen und teils histo-rische, teils aktuelle Werte bezogenen Angaben siehe Tab. 1 im Statistischen Anhang.
- 16 World JewishCongress/WorldJewish Restitution Organization, >Indemnification and reparations: Jewish Losses«, December 1997, in: Nazi Gold – The London Conference, Foreign & Commonwealth Office, The Stationery Office, London 1998,719-766.
- 17 Helen B. Junz, »Report on the Pre-War Wealth Position of the Jewish Population in Nazi-OccupiedCountries, Germany, andAustria«, in: IndependentCommittee of Eminent Persons (ICEP), Report on Dormant Accounts ofVictims of Nazi Persecution in Swiss Banks, Bern 1999, Appendix S, A127-A206.
- 18 Sidney J. Zabludoff, Looted Jewish Assets: Nazi Seizures, World Jewish Congress, NewYork,June21, 1998.
- 19 Statistischer Anhang, Tab. 1.
- 20 Sidney Zabludoff, »Restitution of Holocaust-Era Assets: Promises and Reality«, Jewish Political Studies Review, 19, Nr. 1-2, March 2007.
- 21 Siehe Statistischer Anhang, Tab. 3.
Raul Teitelbaum
Die biologische Lösung
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