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Holocaust: Die Bilanz der »materiellen Schoah« (4)

Seltsamerweise wurde – sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – immer noch keine umfas­sende Untersuchung über die wirtschaftlichen Folgen der »Endlösung« vorgelegt. Auch jüdische Historiker und Wissenschaftler, die sich mit dieser Geschichte befassen, haben ihren ökonomischen Aspekt kaum berührt…

Das ist umso erstaunlicher, als die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und ihre systematische Enteignung einen bedeu­tenden Faktor für die Stabilität des Regimes bildeten. Dieser in der Geschichte beispiellose Raub sollte nicht nur die Ausgaben für den Krieg und für die Verwaltung der besetzten Länder decken. Er stellte auch in erheblichem Maße »Schmiergelder« für die Mitwirkung der Bevölkerung bereit.

Raul Teitelbaum (Wie die Schoah „wiedergutgemacht“ wurde)

Diesem Thema: »Wie die Nazis ihr Volk kauften« hat der Historiker Götz Aly eine eigene Untersuchung gewidmet, die in Deutschland brei­te Aufmerksamkeit erregte. »In einem prekären Abschnitt des Krieges brachte die Enteignung der europäischen Juden erhebliche Geldmittel in die deutschen Kassen,« heißt es darin. »Das förderte die innere Stabili­tät in Deutschland und die Kollaborationsbereitschaft in den besetzten Ländern.«9
Aly kommt zu dem Schluss, dass der deutsche Kriegshaus­halt zu zwei Dritteln durch Ausbeutung der eroberten Länder, Zwangs­arbeit und Ausplünderung der verfolgten und ermordeten Juden gedeckt wurde. Hitler hat also seinen Krieg hauptsächlich aus externen Quellen finanziert; die deutsche Bevölkerung selbst wurde nicht übermäßig zur Kasse gebeten. Im Gegenteil: Wie der Historiker feststellt, »verfügte die übergroße, damals noch ziemlich knapp bemittelte Mehrheit der Deut­schen im Krieg über mehr Geld als in den letzten Friedensjahren«.10

Erst in den neunziger Jahren erschienen einzelne Untersuchungen zu dieser Politik der Ausraubung durch die Nazis und die in ihrem Auftrag handelnden Institutionen – der deutschen Banken und Großkonzerne -, veranlasst insbesondere durch die Thematik von »Nazigold« und Schweizer Banken. Alles in allem setzten die europäischen Staaten etwa fünfzig historische Untersuchungskommissionen ein, die sich von Land zu Land mit den wirtschaftlichen Aspekten der Schoah, mit der Kollabo­ration lokaler Institutionen, aber auch mit der Wiederaufnahme der Überlebenden in ihren Heimatländern befassten. Das reiche Material, das sie ans Licht brachten, wartet noch immer auf Historiker und Wirt­schaftsexperten, die daraus umfassendere Schätzungen hinsichtlich des materiellen Schadens erstellen, der dem jüdischen Volk zugefügt wurde.

Die von jüdischen Stellen vorgelegten Berechnungen blieben frag­mentarisch und dienten ursprünglich dem Zweck, die gegen Deutsch­land erhobenen Entschädigungsansprüche zu beziffern. Erste Schätzun­gen dieser Art wurden schon vor Kriegsende vorgenommen. Aufgrund der von Adler-Rudel bereits im März 1941 vorgelegten Daten kam Nehemia Robinson im Jahre 1944 zu dem Ergebnis, dass sich der Wert des in Deutschland und Österreich geraubten jüdischen Vermögens auf 2 Milliarden US-Dollar belief.11
In Palästina legte der spätere Wirt­schaftsminister Dov Joseph der Jewish Agency am 27. April 1945 einen Bericht vor, der den Schaden auf 2 Milliarden Pfund Sterling (damals rund 6 Milliarden US-Dollar) bezifferte, ohne Berücksichtigung der Sowjet­union. Diese Zahl wurde im September 1945 in Chaim Weizmans Note an die Großmächte genannt und sollte immer wieder auftauchen, so auch zu Beginn der fünfziger Jahre in den Verhandlungen mit Deutschland. Sie war weniger hieb- und stichfest als vielmehr sehr griffig – 6 Milliar­den Dollar bei 6 Millionen Ermordete. Robinson kam 1961 in einer aktualisierten Berechnung auf die dop­pelte Summe von 12 Milliarden.12

Mindestens die Hälfte des jüdischen Besitzes in Westeuropa und fast der gesamte osteuropäische Besitz war demnach verlorengegangen. Obwohl die statistische Datengrundlage noch immer fragwürdig war – zumal hinsichtlich der osteuropäischen Länder, in denen die meisten Juden gelebt hatten -, hat Robinson die Berechnung der »materiellen Bilanz der Schoah« auf eine solide Basis gestellt. Er war auch der erste, der zwei zusätzliche Schadensaspekte berücksichtigte – den potentiellen Einkommensverlust und den Wert der Zwangsarbeitskraft. Er schätzte den ersteren auf 10-12 Milliarden und den letzteren auf 5 Milliarden Dollar, so dass sich eine Schadensbi­lanz von 27 bis 29 Milliarden Dollar (oder nach heutigen Wert 270 bis 290 Milliarden) ergibt. Dies alles beinhaltet natürlich nicht den un­schätzbaren Verlust an dem, was der ökonomische Fachjargon »Human­kapital« nennt.

Spätere Untersuchungen haben Robinsons Schätzungen kaum in Fra­ge gestellt.13
Das gilt allerdings nicht für die 1984 eingereichte Disser­tation von Klaus Scheurenberg,14 die den Gesamtumfang des geraubten Eigentums in den vierzehn besetzten und kollaborierenden Staaten Europas auf 50,9 Milliarden Reichsmark beziffert. Umgerechnet ergibt dies einen fast doppelt so hohen Betrag.

Ein eigenes Kapitel widmet Scheurenberg dem »letzten Besitz«, den man den Juden vor ihrer Ermordung abnahm. Die Belege finden sich hauptsächlich in den »wirtschaftlichen Bilanzen« der »Aktion Rein­hard«, wie die Vernichtungsaktion im polnischen »Generalgouverne­ment« hieß. Deren Leiter Odilo Globocnik veranschlagte im Januar 1943 den Gesamtumfang der letzten Habseligkeiten auf 1.901 Waggons mit Kleidung im Werte von 46 Millionen Reichsmark, dazu Bargeld ver­schiedener Währung (79 Mio. RM), Schmuck (44 Mio. RM), Gold und Silber in Form von Sakralgegenständen etc. (10 Mio. RM) und Gold­münzen (1,7 Mio. RM). Ein Thema für sich sind die Goldzähne, die man aus den Mündern der Ermordeten herausbrach. In einem Bericht, der imMai 1944 in Buchenwald und Sachsenhausen herausging, wird der Ver­sand von 241,45 kg Zahngold erwähnt. Alles in allem schätzt Scheuren­berg den Wert dieses »letzten Besitzes« auf 800 Millionen Reichsmark (ca. 335 Mio. Dollar).

Scheurenberg untersucht auch, wie das geraubte Eigentum zur Deckung der Kriegsausgaben verwendet wurde. Die vorgelegten Daten zeigen, dass allein der Raub jüdischen Vermögens in Deutschland (ohne den Wert der Zwangsarbeit etc.) fast die gesamte Aufrüstung der Wehr­macht vor dem Zweiten Weltkrieg und 7 Prozent des gesamten Kriegs­haushalts finanzierte.

Hinsichtlich des Gesamtumfangs des geraubten Vermögens liegt Scheurenberg, selbst Schoah-Überlebender und lange Jahre Vorsitzen­der der Berliner »Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammen­arbeit«, nicht nur weit über den Zahlen Robinsons, sondern auch über drei späteren Schätzungen, die gegen Ende der neunziger Jahren ver­öffentlicht wurden.15

In einem Dokument, das der Jüdische Weltkongress gemeinsam mit der Besitzrechtsnachfolgeorganisation WJRO der im Dezember 1997 einberufenen Londoner Goldkonferenz vorlegte, wurde der Schaden in drei Kategorien eingeteilt: geraubte Vermögenswerte (geschätzt auf 120 Milliarden US-Dollar), geschätzte Einkommensverluste (100 bis 150 Milliarden) und Wert der Zwangsarbeit (10 bis 50 Milliarden). Der Gesamtschaden wird also auf 230 bis 320 Milliarden Dollar beziffert.16

Die Unterschiede zeugen von der Schwierigkeit der Aufgabe. »Trotz der vielen Anstrengungen gelingt es bis heute nicht, eine vollständige Schätzung über den Umfang der wirtschaftlichen Zerstörung zu erhal­ten, die die Nazis den Juden zugefügt haben«, schrieb die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Helen B. Junz in ihrer 1999 vorgelegten Bilanz, die dem Bericht der Unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Schweizer Konten angehängt wurde.17
Unter Heranzie­hung von neuem Quellenmaterial (z.B. aus den Steuerbehörden) bezieht sie sich auf sechs Länder – Deutschland, Österreich, Polen, Ungarn, Holland und Frankreich -, in denen 57 Prozent der europäischen Juden lebten, wobei nach ihrer Einschätzung der Umfang des hier geraubten Vermögens 75 Prozent des geraubten jüdischen Besitzes in Europa aus­machte. Sie kommt auf rund 9,9 Milliarden Dollar nach damaligem Wert, berücksichtigt aber nicht den Wert von Einkommensverlust und jüdischer Zwangsarbeit.

Das gilt auch für die etwa gleichzeitige Untersuchung des amerikani­schen Finanzexperten Sidney Zabludoff, die der Jüdische Weltkongress in Auftrag gab.18
Zabludoff ging unter anderem davon aus, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Wohlstand der jüdischen Bevölkerung in den europäischen Ländern (einschließlich Osteuropa) um rund 25 Pro­zent über dem allgemeinen Durchschnitt lag, weil die Mehrheit in städ­tischen Gebieten lebte und der Anteil der freien Berufe und Akademiker relativ hoch war.
Das geraubte Vermögen in Deutschland, Österreich und den 20 besetzten Ländern wurde auf 90 bis 140 Milliarden US-Dol­lar (nach aktuellem Wert) veranschlagt. Die Untersuchung enthüllt zum Beispiel, dass in Frankreich, Belgien und Holland 70.000 Wohnungen geräumt, beschlagnahmt und 30.000 (!) Waggons mit Mobiliar sowie 21.000 Kunstschätze abtransportiert wurden, dazu allein in Frankreich Bibliotheken mit 20 Millionen Büchern. In Österreich stapelte sich damals rund eine Viertelmillion geraubter Bücher aus okkupierten Län­dern, darunter antike Ausgaben und sonstige bibliophile Kostbarkeiten.

Wenn wir die Summe aus diesen Untersuchungen ziehen, bewegt sich der finanzielle Umfang der »materiellen Schoah« – geraubtes Vermö­gen, Einkommensverlust und Zwangsarbeit – in einer Größenordnung von 230 bis 380 Milliarden US-Dollar nach heutigem Wert.19
In recht­lich-politischer Hinsicht kamen diese Schätzungen allesamt viel zu spät. Den Vertretern Israels und des jüdischen Volkes standen sie nicht zur Verfügung, als sie von den Deutschen Entschädigung forderten.

Anfang 2007 hat Zabludoff in einer neuen Untersuchung festgestellt, dass sich der Gesamtwert jüdischen Vermögens, das weder zurückgege­ben noch erstattet wurde, bei mindestens 115 bis 175 Milliarden Dollar (nach aktuellem Wert) bewegt.

Nur 20% der geraubten Werte wurden ersetzt

Trotz aller Anstrengungen und Abkom­men, Versprechungen und Zusagen wurden nicht mehr als 20 Prozent der geraubten Werte restituiert.20
Die immensen Anstrengungen, die in die Rückführung von privatem wie auch öffentlichem jüdischem Besitz investiert wurden, waren also letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Deutschland ist im Grunde das einzige Land, in dem dieser Prozess nahezu abgeschlossen wurde. Die Aktivitäten der WJRO, 1993 auf Ini­tiative der israelischen Regierung und jüdischer Organisationen gegrün­det, um die Rückerstattung jüdischen Eigentums in weiteren, insbeson­dere den osteuropäischen Ländern zu betreiben, sind auf der ganzen Linie gescheitert (siehe Kapitel 5 des Buches).

Die historische Bilanz zwischen der Gesamtsumme der materiellen Schäden, die Deutschland dem jüdischen Volk zugefügt hat, und der gezahlten oder noch zu zahlenden Entschädigungssumme ist weit davon entfernt, ausgeglichen zu sein. Bis Ende 2007 wurden für die »Wieder­gutmachung« nationalsozialistischer Verbrechen insgesamt 65,1 14 Mil­liarden Euro – übrigens nicht nur an jüdische Empfänger – bezahlt.21 Das Bundesfinanzministerium geht davon aus, dass bis 2030, wenn der letzte Überlebende verstorben sein wird, noch etwa 9,5 Milliarden Euro zu zahlen sind, so dass der Gesamtbetrag aller Entschädigungszahlun­gen rund 74 Milliarden Euro erreichen wird. Das bedeutet, dass der deut­sche Staat dem jüdischen Volk nur knapp ein Viertel der unmittelbaren materiellen Schadenssumme (Schaden an Leib und Leben nicht einge­rechnet) erstatten wird.

All jenen, die der Ansicht sind, dass »die Juden die Deutschen auspressen«, sei diese historische Bilanz vor Augen gehalten.

Raul Teitelbaum
Die biologische Lösung
Wie die Schoah „wiedergutgemacht“ wurde
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