Eine Reportage aus Nordostfrankreich

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Ein bisschen wie das Ruhrgebiet, nur wesentlich ärmer. Ein bisschen wie Ostdeutschland, aber sehr viel jünger und dynamischer – keine Abwanderungsregion, sondern eine mit Jugendüberschus.. Die französische Bergbauregion im Bezirk Pas-de-Calais hat ihre ganz eigene Züge. Dort versucht die extreme Rechte seit Jahren Fuß zu fassen. Aber auch die Linke und die Sozialdemokraten sind stark. Eine Splitterpartei, die oft nicht über fünf Prozent hinauskommt, bildet dagegen die bürgerliche Rechte. Musste bei den Wahlen mit Erfolgen Marine Le Pens gerechnet werden; und falls ja, worauf basieren sie? Ein Bericht aus Lens, Grenay, Loos-en-Gohelle, Mazingarbe und Hénin-Beaumont…

Von Bernard Schmid

Fremder, kommst Du nach Sparta, sage, Du habest sie liegen sehen, die Toten – so sagt es ein antikes Sprichwort. Fremder, kommst Du nach Hénin-Beaumont, sage, Du habest sie leuchten sehen – die Schaufenster der Totengräber. Es ist das Erste, was im Stadtzentrum der 27.000 Einwohner zählenden früheren Bergarbeiterstadt auffällt: die Bestattungsunternehmen. An den beiden größten Plätzen des Städtchens prangen als erste ihre Firmenschilder ins Auge. Mehrere von ihnen reihen sich aneinander, neben einzelnen Kneipen, Cafés und dem lokalen Ableger der Regionalzeitung La Voix du Nord. Andere Geschäfte sind auf den ersten Blick nicht zu sehen.

„Das ist ein absolut typischer Eindruck für Hénin-Beaumont. So wirkt die Stimmung im Stadtzentrum“, lästert der 23jährige Antoine an einem Kneipentisch. Er ist ein Kind des Bassin minier, des früheren französischen Bergbaubeckens, das sich in Nordostfrankreich von Béthune bis nach Douai in der Nähe der belgischen Grenze hinzieht. Geboren wurde er im einige Kilometer entfernten Lens, in Hénin-Beaumont hat er mehrere Jahre lang gelebt.

Früher wurde hier Steinkohle für ganz Frankreich gefördert. Seit zwanzig Jahren sind die letzten Kohlegruben inzwischen dicht. Geblieben sind ein Arbeitermilieu, in dem viele Menschen perspektivlos und voller sozialer Frustrationen sind, sowie zahllose Erinnerungen und Legenden rund um den Bergbau. Geblieben ist auch eine Landschaft, die noch die Spuren der Suche nach dem „schwarzen Gold“ trägt: Von Lens bis Hénin-Beaumont und zurück fährt man an Dutzenden von terrils vorbei, an gigantischen Maulwurfshügeln, die aus den Abraumhalden der früheren Kohlengrube entstanden sind. Einige von ihnen sind von Büschen und Bäumen überwachsen, von jungen Birken und Gras überwuchert. Andere starren schwarz in die Landschaft. Es sind die mit Abstand höchsten Erhebungen in diesem flachen Land, dieser Tiefebene in einige Dutzend Kilometern Entfernung vom Ärmelkanal.

Trotz allem, obwohl die Arbeitslosigkeit hoch und die Job- oder gar Aufstiegschancen gering sind, ist dieses Land mitnichten tot. Die Region Nord-Pas de Calais, gut vier Millionen EinwohnerInnen, in deren Süden und Mitte das alte Bergbaurevier liegt, ist vom Altersdurchschnitt her die jüngste in ganz Frankreich. Die Bevölkerung nimmt zu und nicht ab. Auch im Bergbaubecken bleibt sie mindestens stabil. Von Geisterstädten oder Rentnerüberhang – keine Spur.

Die beiden höchsten terrils liegen am Stadtausgang von Lens in westlicher Richtung, „an Grube 11“, wie Einheimische den Stadtteil noch immer nennen. 184 und 182 Meter sind sie hoch. Lens ist die einzige Stadt in Frankreich mit über 30.000 Einwohnern, die kein eigenes Kino aufweist. Allerdings hat sie seit Anfang der neunziger Jahre einen eigenen Universitätsableger. In westlicher Richtung fährt man an den beiden überdimensionierten Maulwurfshügeln vorbei nach Loos-en-Gohelle. Der Namen der kleinen Stadt, die im Ersten Weltkrieg lange Zeit durch Schützengräben durchzogen war – Briten auf der einen, Deutsche mit Pickelhaube auf der anderen Seite – und total verwüstet wurde, wird ähnlich wie „Loss-Anguell“ ausgesprochen. Eine französische Werbefirma machte vor Jahren Reklame für Reisen damit, dass es besser sei, nach Los Angeles als nach Loos-en-Gohelle zu fliegen. Loos-en-Gohelle weist die Besonderheit auf, dass es die einzige Stadt im ganzen Umland ist, die einen grünen Bürgermeister aufweist: Jean-François Caron. Doch die grünen Parteiaktiven F., D. und N., die ich treffe, winken ab: Das Parteiestablishment sei doch nur ein Ableger der örtlichen Sozialdemokratie und werde von solchen Politikfunktionären aufgefüllt, die bei der Sozialistischen Partei keinen Platz mehr gefunden hätten. Caron ist Sohn und Enkel eines sozialdemokratischen Bürgermeisters und regiert mit einer Stadtratsmehrheit aus derselben Partei. Dagegen finden sich an der grünen Parteibasis oft Menschen aus Bürgerinitiativen wie meine Begleiter, die interessantere Ideen zu bieten haben.

„Im Land der schwarzen Fressen“

Hénin-Beaumont ist politisch ein anderes Pflaster. Es ist in den letzten Jahren die vielleicht überregional bekannteste Stadt in dieser Gegend geworden. Wider Willen, jedenfalls aus Sicht vieler ihrer Bewohner. Die Doppelstadt wurde dadurch bekannt, dass die extreme Rechte hier einen ihrer höchsten Stimmenanteile einfuhr. Marine Le Pen, seit anderthalb Jahren die Chefin des Front National (FN), wählte hier zu Anfang des letzten Jahrzehnts ihren Wahlkreis. Sie konnte auf dem Sockel aufbauen, den ein ortsansässiger Kader, Steeve Briois, vielen als l’enfant du pays – „das Kind des Landes“ – bekannt, in zwanzigjähriger zäher Kleinarbeit gelegt hat. Ihr „Labor“ hat die extreme Rechte hier eingerichtet, meinen viele Beobachter. Schon vor nunmehr sechs Jahren erzählte ein Film davon, Au pays des gueules noires (ungefähr: „Im Land der schwarzen Gesichter“, also der Bergarbeiter) von Edouard Mills-Affif. Verändert haben sich die örtlichen politischen Verhältnisse seither kaum. Im Juli 2009, bei der letzten Rathauswahl, scheiterten Marine Le Pen und Steeve Briois mit 47,6 Prozent der Stimmen nur knapp.

Briois, selbst Enkel eines kommunistischen Grubenarbeiters, ist seitdem in nahezu ganz Frankreich als „Kind der Bergbauregion“ bekannt. Dereinst war es Maurice Thorez, geboren im Jahr 1900 in der Bergwerkstadt Noyelle-Godault, der diesen Platz einnahm. Ab den zwanziger Jahren stieg der junge Mann, der 306 Tage lang unter Tage gearbeitet hatte, in der kommunistischen Parteihierarchie auf. Immer mehr wurde er zum stalinistischen Apparatschik, Anfang der dreißiger Jahre dann Parteichef – und blieb es Jahrzehnte. 1964 starb er am Schwarzen Meer, auf dem Weg in den jährlichen Sommerurlaub in der UdSSR. Briois reicht nicht an seine Statur heran. Er ist eher ein Propagandist, der von Haustür zu Haustür seine Propaganda verbreitet, als ein Vordenker oder ein „Chef“. Antoine ging mit seinem Bruder in die Schule. Der Bruder ist nicht rechtsextrem, sondern „politikverdrossen“. Von ihm weiß Antoine: „Ursprünglich war auch Steeve nicht rechts gepolt, sondern hatte überhaupt keine politischen Ideen. Auf der Suche nach Möglichkeiten, sich zu profilieren und zu beweisen, fand er einen geeigneten Platz bei der extremen Rechten, weil bei anderen Parteien schon alle Plätze besetzt waren. Ab dem Alter von 16 oder 17 steigerte er sich dann aber auch zunehmend in die Ideologie hinein. Als Oberschüler verteilte er seine Flugblätter vor dem Schultor mit einer roten Armbinde am Oberarm.“ Einer Armbinde, wie französische Polizisten sie tragen, wenn sie im Einsatz sind und keine Uniform tragen, frage ich? Nein, meint Antoine, die Armbinde sollte wohl eher an die SA erinnern. Heute bemüht Briois sich allerdings tunlichst um ein respektierliches, „bürgernahes“ Erscheinungsbild. Auf jedes brennende Auto in der Region – solche sind in der Gegend allerdings selten -, jeden Einbruch und jede Bekanntgabe von Entlassungen im Umland reagiert er schnell mit einem eigenen Flugblatt.

Die Schaufenster der Totengräber  künden jedoch weder davon, dass in der örtlichen Politik eine als tödlich empfundene Gefahr drohe, noch von einer Überalterung der Bevölkerung. Ihre Konzentration im Stadtzentrum ist vielmehr das Ergebnis der Tatsache, dass es ansonsten ausgestorben ist, was Geschäfte oder sonstige Aktivitäten betrifft. Vor gut dreißig Jahre wurden an der Stadtgrenze – just auf der anderen Seite, die schon zur Nachbargemeine Noyelle-Godault gehört – eines der größten Einkaufszentren in ganz Frankreich eröffnet, rund um einen völlig überdimensionierten Supermarkt der Auchan-Kette. Zahlreiche Geschäfte gingen pleite, andere zogen an ihre Stelle, oft eben Bestattungsunternehmen.

Teile der Stadt wirken darum relativ ausgestorben, außer an Markttagen. Die Einwohner treffen sich nicht bei Einkäufen und Kneipengängen, sondern sitzen eher zu Hause vor dem Fernseher, wenn sie nicht im Supermarkt oder einem der angeschlossenen Läden – vom Friseur bis zum Schnellrestaurant – sind. An diese örtlich sehr greifbare Realität knüpft Marine Le Pen übrigens in ihrem derzeitigen Wahlkampf vor der Präsidentschaftswahl an: Vergangene Woche forderte sie, die Ansiedlung von Supermärkten müsse „in Städten unter 30.000 Einwohnern“ verboten werden. Aus Rücksicht auf das Kleingewerbe. Hénin-Beaumont liegt just unterhalb der von ihr gezogenen Grenze.

Ein System, das den FN begünstigte

Dass die extreme Rechte in Hénin-Beaumont derart überdurchschnittlich abschneiden konnte, hat aber auch andere Gründe. In einem Café gegenüber der Kirche Saint-Martin treffe ich Jean-Marc Bureau, zwischen 50 und 60. Er war früher beruflich Chauffeur beim Regionalparlament in Lille. Lange Jahre hindurch fuhr er Prominente, von Ex-Premierminister Michel Rocard bis zum Staatspräsidenten Malis auf Besuch. Politisch engagiert er sich bei den Grünen vor Ort. Im Rathaus von Hénin-Beaumont war er vor zehn Jahren Beisitzer des damaligen Bürgermeisters Gérard Dalongeville, eines Sozialisten. Zuständig war er für die Beziehungen zu Bürgerinitiativen und dem örtlichen Vereinswesen. Im Dezember 2002 trat er nach nur anderthalb Jahren auf seinem Posten zurück.

Schon damals, erzählt er mir, habe er beobachtet, wie fragwürdige Verwaltungspraktiken um sich griffen, die immer mehr in Selbstbedienung ausgeartet seien. „Die Rathausverwaltung gab ein Flugblatt heraus, mit dem die Stadt auf falsche Informationen in einem Artikel der Regionalzeitung ,Voix du Nord’ reagieren wollte. Wir Kommunalparlamentarier waren mehrheitlich einverstanden, das Vorhaben zu unterstützen und das Flugblatt aus eigener Tasche zu bezahlen. Dann wurde uns eine fiktive Rechnung präsentiert: 5.800 Euro. Wir hatten Zweifel und erkundigten uns. Bei den Druckereien erfuhren wird, dass das Flugblatt in dieser Auflagenhöhe ab 1.600 Euro zu haben sei. Daraufhin verlangten wir eine Quittung, es wurde uns aber keine präsentiert. Daraufhin reichten andere Vizebürgermeister und ich selbst unseren Rücktritt ein. Dies war aber nur ein relativ harmloses Indiz, das Rückschlüsse auf ein viel tiefer verankertes System zuließ. Bei diesen Leuten galt es offensichtlich als ganz normal, sich bei jeder Amtshandlung nebenbei selbst zu bedienen.“ Das System Dalongeville flog einige Jahre später auf: Im April 2009 wurde er in Untersuchungshaft genommen, seitdem läuft ein Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Unterschlagung in Höhe von vier Millionen Euro. Wie andere Bürgermeister in der Region auch, hatte er dank kleiner Geschenke auf Kosten des Rathauses – Autos, Jobs im öffentlichen Dienst, Genehmigungen – ein System von Klientelwirtschaft und Loyalitätsbeziehungen unterhalten und darauf seine politische Hausmacht aufgemacht. Und sich und seine Freunde dabei gerne bedient. Ende Februar dieses Jahres publizierte Gérard Dalongeville ein Buch unter dem Titel Rose mafia (Rosafarbene Mafia). Es handelt von den Regierungspraktiken in der Mehrzahl der Städte im Bergbaurevier. Dalongeville hat offensichtlich keine Lust, alleine „für die Verfehlungen aller“ zu bezahlen. Und packt eifrig über seine sozialistischen Parteikollegen aus.

„Hier im Bergbaurevier funktioniert die etablierte Politik so und nicht anders“, versichert mir Jacques Kleinpeter. Der verrentete Eisenbahner sitzt in seinem Bergarbeiterhaus in der Gemeinde Mazingarbe und erzählt von seinem langjähriger politischen Engagement. Seit zwanzig Jahren engagiert der knorrige Mann sich in Bürgerinitiativen für behinderte Menschen. 1995 präsentierten eine Reihe von Vereinen und Bürgerinitiativen eine gemeinsame offene Liste zu den Rathauswahlen in Liévin – die Stadt mit 33.000 Einwohnern ist, neben Lens, eines der beiden Zentren des Bergbaureviers -, die damals 27 Prozent erhielt. Schnell wurde die Liste mit den Praktiken von Jean-Pierre Kucheida konfrontiert. Er ist seit 1981 ununterbrochen Bürgermeister, und sofern es wirklich eine „rosafarbene Mafia“ gibt, ist er einer ihrer „Paten“. Bislang herrschte er wie ein Guru über Teile des sozialdemokratischen Establishments der Region. Zu den diesjährigen Parlamentswahlen, im Juni 2012, erwägt Parteichefin Martine Aubry dem Vernehmen nach erstmals, ihn nicht wieder als Kandidaten der Sozialdemokratie aufzustellen. Inzwischen scheinen die alten Methoden doch zunehmend diskreditiert zu sein.

Zu ihnen zählt eine gutsherrenartige Kontrolle über Arbeitsplätze, Baugenehmigungen und diverse Lizenzen. „Kucheida sorgt dafür, dass in jeder Familie je eine Person mit befristeten Arbeitsverträgen oder mit Versprechen für einen Job bei der Stange gehalten wird. So schafft er Loyalitäten. Eine Bekannte wandte sich einmal mit einer Bitte an Kucheida. Zuerst erhielt sie mehrere Briefe von Mitarbeiterinnen des Bürgermeisters: ,Wir haben ihren Brief bekommen; Kucheida hat mich damit beauftragt, mich um ihre Situation zu kümmern; ich werde ihr Dossier an örtliche Unternehmen weiterleiten’. Dann kamen über ein Jahr lang ständig Briefe von diesem oder jenem Supermarkt, dieser oder jener Firma: ,Das Büro von Kucheida hat uns ihr Dossier weitergeleitet. Leider haben wir derzeit keinen Arbeitsplatz anzubieten. Aber wir kommen auf Sie zurück…’ Nach anderthalb Jahren versiegten die Briefe. Aber manche Leute werden auf diese Weise drei Jahre lang hingehalten. Und wenn sie politische Loyalitätsgarantien mitbringen oder Dienste für die Rathausherren leisten, dann können sie auch vom System profitieren.“

Die Liste der Bürgerinitiativler fiel im Laufe der Jahre, die auf ihre Wahl ins Stadtparlament folgten auseinander. Kleinpeter selbst schloss sich später einer linksradikalen Partei, der NPA, an. „Das besondere Klientelsystem in der Region ist eine Fortsetzung des alten Systems der Bergbauherren“, meint er. „Früher verschafften sie den Leuten Jobs und nahmen dafür in Anspruch, ihr ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre zu organisieren. Heute gibt es diese Arbeitsplätze nicht mehr. An ihre Stelle trat das politische Versorgungssystem.“

Wie das alte System funktionierte, schildert mir Christian Champiré, Bürgermeister der alten Bergbaustadt Grenay von der Französischen kommunistischen Partei (PCF). Der frühere Lehrer, der sich infolge seiner Heirat 1993 aus der Region Paris ins Bergbaurevier versetzen ließ, empfängt mich in seinem Büro. Seine Kommune war 1850 ein Dorf mit 250 Einwohnern, wegen des Kohlebergbaureviers wuchs ihre Zahl bis nach dem Ersten Weltkrieg auf 6.600. Auf dem Höhepunkt zwischen 1967 und 1969 – in jenen Jahren wurden die beiden Kohlegruben seiner Stadt geschlossen – waren es 8.800 Einwohner geworden. Danach ging die Zahl zurück, sie liegt heute auf demselben Niveau wie nach dem Ersten Weltkrieg. Aber die Tendenz ist wieder steigend, weil Leute aus dem Umland von Lille dorthin ziehen. Und die Bevölkerung ist überdurchschnittlich jung. Die bunt bemalte Mauer des riesigen Friedhofs der Stadt zeigt Bilder vom Bergbau, aber auch Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt befreit wurde.

„Die Stadt besteht zu 90 Prozent aus früheren Bergbauhäusern. So lange die Leute in den Kohleminen arbeiteten, wurden sie den Bewohnern kostenlos zur Verfügung gestellt – das gehörte zu den Errungenschaften aus den Kämpfen der Bergarbeitern. Die kostenlose Miete wurde an die Witwen weitergegeben, wird aber nicht an die Kinder vererbt. Heute werden noch 14 Prozent der Häuser meiner Kommune zu diesen Bedingungen bewohnt. Oft wohnen drei oder vier Generationen unter einem Dach, weil die Großmutter noch kostenlos wohnen kann.“ Aber dieser damalige soziale Vorteil hatte zu Zeiten des Bergbaus auch seine Schattenseite: „Die ,Cités’ genannten Bergbausiedlungen waren in sich geschlossen Welt. Dort fanden sich auch die Kirche, die ,Coopérative’ genannten Läden zur Lebensmittelversorgung, die Schulen. Viele Bergarbeiter kamen niemals aus ihren Siedlungen heraus, außer, um zur Arbeit zu gehen. Und die ,Cités’ waren von Gittern umgeben. Wenn es einen Konflikt gab, einen harten Streik, dann wurden die Gitter geschlossen, und die Menschen waren buchstäblich eingesperrt.“

Harte Arbeitskämpfe gab es in der Stadt von Christian Champiré. Im Sommer 1941 unter direkter Militärverwaltung der deutschen Wehrmacht – viele „Rädelsführer“ waren erschossen, aber es wurde erreicht, dass die Versorgung mit Lebensmitteln und Seife verbessert wurde. Die Bergbauregion Nord-Pas de Calais stand damals als einzige unter direkter Herrschaft der deutschen Armee, während das übrige Nordfrankreich durch eine zivile Besatzungsverwaltung und die „freie Zone“ in Südfrankreich durch das Vichy-Regime regiert wurde. Das Nord-Pas de Calais und die nahe Picardie trennte eine Demarkationslinie, an der Menschen erschossen wurden, die die Zone zu wechseln versuchten. Deswegen auch war der Widerstand hier stark, die KP war es ebenfalls, und sie war und ist bis heute oft patriotisch gefärbt, vor dem Hintergrund des Widerstands gegen die deutschen Besatzer.

Im Herbst 1947 und erneut im Herbst 1948 wurde wieder gestreikt, gegen drohende Lohnkürzungen und gegen Versorgungsengpässe. Beim letzten Mal endete der große Bergarbeiterstreik, der landesweit Kreise zog („viele Kinder von Bergarbeitern, die aufgrund ausbleibenden Lohns Not litten, wurden in Paris bei Familien ausgenommen“) mit einer schweren Niederlage. „Damals“, erzählt mir Champiré, „wurden die Anführer sogar wegen ,Terrorismus’ angeklagt, wegen Angriffs auf die Versorgungslage des französischen Staates in Verbindung mit ‚,kommunistischen Sympathien’. Viele der Betroffenen verloren daraufhin alles: ihren Job, und mit ihm die Wohnung, die Schulplätze für die Kinder, die gesamte Existenz auf einmal.“ Seit Jahren führen Einwohner der Stadt Grenay deswegen Prozesse wegen Entschädigung. Im Jahr 2001 sprach ein Gericht der Region in einem Fall einer Familie von Betroffenen 30.000 Euro Schadensersatz zu. Doch der Staat legte Berufung ein, und das Verfahren ist bis heute nicht beendet.

Einbruchstelle für das Gift des Rassismus

Solche Abhängigkeiten wie damals existieren heute nicht mehr, in der alten Form. Doch die sozialdemokratische Krisenverwaltung übernahm oftmals ihren Platz. Aber gibt es nicht auch Alternativen, etwa jene, sich in der Privatwirtschaft eine Arbeitsstelle zu suchen? Der 23jährige Antoine weiß sein Liedchen davon zu singen: „Die letzten sechs Monate arbeite ich bei Arvato, einem Dienstleistungsunternehmen, das Call Center etwa für den französischen Telefonanbieter Orange betreibt. Total flexible Arbeitszeiten rund um die Uhr, einen ständigen Arbeitsortwechel zwischen drei Call-Centern zwischen Lens und Hénin-Beaumont, keinen Zuschlag für Wochenendarbeit – es sei denn am Sonntag nach 22 Uhr – und Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Damals hatte ich nicht die Wahl, ich hatte Schulden, weil mein Kneipenprojekt gescheitert war, da öffentliche Zuschüsse mir abgelehnt worden waren. Aber nach sechs Monaten schmiss ich den Büttel hin. In wenigen Wochen gehe ich nun nach Paris, wo ich einen Job als Eisenbahner fand. Aber die meisten jungen Leute in unserer Region haben nur solche Stellen wie die bei Arvato zur Auswahl.“

Vor dem Café, wo wir diskutieren, hören uns mehrere Leute zu. Wir kommen mit ihnen ins Gespräch. Zwei Arbeiter diskutieren mit uns. Einer von ihnen erzählt: „Ich habe einen Schulabschluss als Elektromechaniker. Aber ich finde keinen Job, weil man mir sagt: Der Kollektivvertrag schreibt vor, dass Du zu gut bezahlt wirst, wegen Deiner Abschlüsse. Um überhaupt einen Job als Leiharbeiter zu finden, muss ich lügen und meine Abschlüsse verschweigen. Ansonsten bietet mir das Arbeitsamt nur Jobs 100 Kilometer weiter in Belgien an.“ (Wer dagegen noch relatives ,Glück’ hat, findet einen Job in der regionalen Automobil-Zuliefererindustrie. Die Autozuliefererfirma ,Française des mécaniques’ ist derzeit im Pas de Calais mit rund 5.000 Beschäftigten einer der größten ,Arbeitgeber’ in der Region, gefolgt von Renault in Douai. Doch aufgrund der Verwerfungserscheinungen der Krise haben auch dort die Bedrohungen für die Arbeitsplätze zugenommen.)

Würde er deswegen für die extreme Rechte stimmen? „Nie im Leben“, meint er, „ich bin polnischer Herkunft wie viele Söhne und Enkel von Bergarbeitern hier. Man vergisst seine Herkunft nicht. Für mich kommt es nicht in Frankreich, irgendeine Ausländerfeindlichkeit zu akzeptieren.“ Aber manche Kollegen sähen dies anders, räumt er ein. „Als Renault – einer der größten verbliebenen Arbeitgeber in der Region – ankündigte, einen Teil seiner Produktion nach Marokko auszulagern, da rief dies ausländerfeindliche Reaktionen hervor. Die extreme Rechte nutzte dies aus, um Flugblätter am Werkstor bei Renault zu verteilen.“ Mein Gesprächspartner dagegen meint, er könne nur für den sozialdemokratischen Kandidaten François Hollande stimmen. Dessen Programm (von dem ihm allerdings keine konkreten Einzelpunkte einfallen) gefiele ihm am besten.

Von den Flugblättern bei Renault erzählt auch später Dominique, ein CGT-Gewerkschafter, der selbst bei Renault in Douai arbeitet und in Hénin-Beaumont wohnt. Ich treffe ihn am Ostersonntag auf einem Flohmarkt. Es handelt sich um einen der mit Abstand größten Arbeitgeber in der Gegend. Hat es auch Gegenreaktionen gegeben? Wenig, meint Dominique, der selbst keine Sympathien für die extreme Rechte hat. Früher wären sie energischer gewesen, meint er, da hätte die CGT den Zusammenprall mit den FN-Leuten gesucht. Heute gehe man sich eher aus dem Wege, auch wenn die Rechten wüssten, dass sie bei der Mehrzahl der Gewerkschafter nicht gut ankommen. Der Ideenstreit sei schwächer als vor vielleicht fünfzehn Jahren, meint Dominique. Aufgrund der Arbeitslosigkeit? „Auch aufgrund der Arbeitsbedingungen“, meint er. „Früher produzierten wir Autos an zwei Werkstraßen. Heute stellen wir dieselbe Anzahl von Autos her, aber an nur noch einer Werkstraße.“

Früher war es die Bergarbeitersolidarität, dort, wo sie noch funktioniert, ist eine Grundlage für den Einfluss der KP. Und dort, wo sie noch nicht ausbröckelte, ist sie nach Auffassung von manchen in der Region nach wie vor ein schützender Wall gegen den Einbruch der extremen Rechten. Fabrice, der bei den Grünen und einem antirassistischen Kollektiv aktiv ist, steht dieser These stärker reserviert gegenüber. Historisch sei dies lange Zeit richtig gewesen, meint er, das Klassenbewusstsein habe auch die aufeinander folgenden Generationen von Immigranten – aus Belgien, Italien, später Polen – „integrieren“ können. Aber in den 1970er Jahren sei der erste größere Riss aufgetreten. Damals wurde die historisch allerletzte Generation von Arbeitsmigranten rekrutiert: Einwanderer aus Marokko, die durch die Bergwerksbetreiber direkt unter den Schäfern im Atlasgebirge angeworben worden waren. Die Charbonnages de France, das Betreiberunternehmen, habe damals schon gewusst, dass der Kohlebergbau zurückgehen und perspektivisch eingestellt werden solle. Viele erfahrene Bergarbeiter und Gewerkschafter, die darum gewusst hätten, seien deswegen nicht mehr zur gefährlichen Arbeit unter Tage motiviert gewesen. Deswegen habe man eine neue Generation von Immigranten angeworben, die in eine Situation eintraten, die bereits vom drohenden Niedergang des ganzen „Welt“ der Bergarbeiter geprägt war. Sie wurden nie in die Solidarität wirklich einbezogen.

Als erste Bergarbeitergeneration wurden sie nicht mit unbefristeten – in der Praxis oft lebenslangen – Arbeitsverträgen angeworben, sondern mit Zeitverträgen von 12 oder 18 Monaten Dauer. Die Aufenthaltserlaubnis war an das Bestehen des Arbeitsvertrags gekoppelt. 1980 streikten die marokkanischen Bergarbeiter erst in Lothringen, 950 an der Zahl, und dann mit über 3000 Teilnehmern im Nord-Pas de Calais für die Angleichung ihres Status an den aller übrigen Bergarbeiter. „Aber die französischen Gewerkschafter rührten sich nicht“, erzählt mir Abdarrahmane, der selbst dabei war und mit dem Fabrice mich zusammenbringt, in einer Wohnung in Lens. Als der „Sozialist“ François Mitterrand 1981 zum Präsidenten gewählt wurde, gab die französische Regierung in der Frage endlich nach. Aber zu Ende des Jahrzehnts begannen die Grubenschließungen und Stellenvernichtungen. Während die anderen Bergbauarbeiter in Frührente geschickt oder von anderen Arbeitgebern der Region – mit staatlichen Subventionen unterstützt – übernommen wurden, entließ man die Marokkaner oft zu ungünstigeren Konditionen. Viele wurden mit „Rückkehrverträgen“ in Richtung Marokko geködert. Andere weigerten sich, die Bedingungen anzunehmen. 48 „Rädelsführer“ wurden schließlich – im Gegensatz zu allen anderen Bergarbeitern – ohne soziale Abfederung und ohne Angebote entlassen, „um ein Exempel zu statuieren“. Abdarrahmane zählte zu ihnen. „Wir mussten uns auf eigene Faust durchwursteln. Jahrelang lebten meine Familie und ich für Kindergeld. Alles, was wir bekamen, war schlecht bezahlte mehrmonatige ,Praktika’. Unter diesen Bedingungen bauten meine Kollegen und ich Teile der TGV- (Schnellzug)Strecke von Paris nach Lille.“ Im örtlichen Bergbaumuseum in Lens taucht zwar das historische Gedächtnis der Arbeitsmigranten auf, aber die Geschichte der Marokkaner wird nicht erwähnt. Deswegen gehören sie in der kollektiven Erinnerung oft zur „Solidarität aller Arbeitsleute“ nicht mit dazu. Damals konnte das Gift des Rassismus in die offenen Flanken der Gewerkschaften geträufelt werden: Erstmals erschienen diese „ausländischen“ Arbeiter nicht als Kollegen, sondern in vielen Augen als Eindringlinge.

Linkskräfte als Gegengewicht zum FN?

Und wie sieht es heute aus: Hat die extreme Rechte ihren Durchbruch dauerhaft geschafft? Erreicht die Linke noch die Leute in der Region? Bei vielen hat sie es schwer, zumal die Sozialistische Partei aufgrund ihrer örtlichen Regierungspraktiken. Allerdings hat an ihrer Seite ein neuer Kandidat, der frühere linke Sozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon, einen Durchbruch in Teilen der örtlichen Wählerschaft erzielen können. Anfang 2009 spaltete er sich mit einer eigenen „Linkspartei“ (Parti de gauche) von den Sozialisten ab, nun kandidiert er mit Unterstützung und im Bündnis mit der KP. Die alte Partei, die vielerorts im Niedergang befindlich war, bekam durch diese neue Allianz eine Frischluftzufuhr. Ihre Basis wurde oft zu neuem Leben erweckt. Ein Auftritt Mélenchons in der Regionalhauptstadt Lille zog vor zwei Wochen mehrere Zehntausend Menschen an, ebenso wie seine Kundgebung in Paris am 18. März zum Jahrestag der Pariser Kommune, wo über 100.000 Menschen zusammen kamen.

Der Aufstieg Mélenchons auf der Linken „kündigt eine Wende an, auch in Hénin-Beaumont“, meint Jean-Marc Bureau. Ihm zufolge wird die extreme Rechte nicht mehr allein den soziale Zorn ausbeuten können. In näherer Zukunft werden, meint er, die Wahlergebnisse des Front National auch in Hénin-Beaumont zurückgehen, „zumal Marine Le Pen ihr Mandat im Kommunalparlament aufgegeben hat: Das Gesetz gegen Ämterhäufung zwang sie dazu, zwischen einem ihrer drei Mandate zu wählen. Sie behielt jene im Europaparlament und im Regionalparlament in Lille, und gab das in Hénin-Beaumont auf. Das wird einen Rückgang ihres Einflusses zur Folge haben.“ Allerdings meint auch er, dass Frau Le Pen im Juni das Parlamentswahl für den Wahlkreis gewinnen könne: „Eine jüngste Umfrage, die durch die Sozialistische Partei in Auftrag gegeben wurde, sagt ihr 51 Prozent vorher.“

Dagegen meint Kleinpeter, wenn es heute Neuwahlen zum Rathaus von Hénin-Beaumont gebe, würden die Rechten „sogar 60 bis 70 Prozent einsammeln“. Der kommunistische Bürgermeister von Grenay dagegen sieht den Front National ebenfalls auf dem Rückzug: „Den Wendepunkt markierte die gemeinsame Fernsehdebatte von Marine Le Pen und Mélenchon“, die am 23. Februar stattfand. Damals lehnte es Le Pen ab, mit ihrem linken Widersacher zu diskutieren, und wandte ihm demonstrativ vor dem Publikum den Rücken zu, weil er ihre Partei „in der Öffentlichkeit beleidigend behandelt“ habe. Mélenchon nutzte unterdessen die wertvollen Minuten, um einige der sozialen Argumente Le Pens zu zerpflücken. Zum Beispiel zur Abtreibung: Marine Le Pen tritt gegen die Krankenkassenfinanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein, mit dem „sozialen“ Argument, andere Belange seien vorrangig – viele alte Leute könnten sich ihre Medikamente nicht mehr finanzieren. Als Alternative gibt Marine Le Pen, die sich allerdings im Gegensatz zu manchen ihrer Parteifreunde gegen ein gesetzliches Verbot der Abtreibung ausspricht, die „Freigabe zur Adoption“ für unerwünschte Kinder an. „Prima, dann können reiche Leute sich ähnlich straflos Leihmütter nehmen und ihre Kinder austragen lassen!“ ätzte Mélenchon gegen diese Idee an. Unwidersprochen, denn Marine Le Pen war nicht bereit, auf nur eines seiner Argumente einzugehen.

„Diese Szene ging kam bei den Leuten in unserer Region gar nicht gut an“, was das Image Marine Le Pens betrifft, meint Bürgermeister Champiré. „Nicht das Gesicht zu zeigen und dagegen zu halten, das ist ein Verhalten, das absolut schlecht angesehen wird. Aufgrund sozialer Traditionen hat Marine Le Pen es ohnehin etwas schwerer als ihr Vater: Weil sie eine Frau ist, muss sie sich stärker beweisen. Man kann es beklagen, aber diese Mentalität existiert nun einmal: Das Familienmodell der Bergarbeiter beruhte darauf, dass die Männer arbeiteten, aber die Frauen ab ihrer Volljährigkeit – damals mit 21 Jahren – zu Hause blieben. Dies prägte die Mentalitäten nachhaltig. Marine Le Pen hätte versuchen können, sie zu beweisen. Aber durch ihr Verhalten hat sie dem Linkskandidaten einen wichtigen Vorteil verschafft.“

Vorläufiges Fazit

Wie es vorläufig ausging? Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am 22. April 12 lag landesweit die extreme Rechte überraschend deutlich vor dem Kandidaten der ,Linksfront’.Auf landesweiter Ebene lag zuvor, in den vier Wochen vor der Wahl, manchmal Jean-Luc Mélenchon dicht vor Marine Le Pen und manchmal umgekehrt. Laut vorläufigen Ergebnissen vom Montag Vormittag (die auf der Auswertung von 99 % der Stimmen beruhen, nur die „Auslandsfranzosen“ fehlen dabei noch) erhielt Marine Le Pen 18,01 % der Stimmen, und der Kandidat des Linksbündnisses 11,13 %. Im Bezirk Pas de Calais landete Marine Le Pen mit 25,53 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf dem zweiten Platz hinter dem, frankreichweit ebenfalls an der Spitze stehenden, François Hollande. In ihrer „Hochburg“ Hénin-Beaumont holte Marine Le Pen 35,48 %.

Eine gekürzte Fassung erschien in der Berliner Wochenzeitung Jungle World und in Die Wochenzeitung, Zürich.