„Tati“ blieb ihnen treu

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Über die mitunter heldenhafte Rolle nichtjüdischer Dienstmädchen ist wenig bekannt…

Von Daniel Nadav
Jüdische Zeitung April 2012

Tausende Berliner riskierten während des Krieges ihr Leben und versteckten Juden in ihre Wohnungen und Kellern. Das ist bekannt. Auf diesem Wege wurden jüdische «U-Boote» vor dem Abtransport nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager gerettet. Die Dramaturgin und Schriftstellerin Inge Deutschkron gehört zu den bekanntesten Überlebenden.

Weniger erforscht ist bislang die Rolle der tapferen, nichtjüdischen Dienstmädchen und Haushälterinnen, die selbst unter dem Druck der Gestapo nicht bereit waren, «ihre» jüdischen Familien im Stich zu lassen.

Familie Fuss und ihre Tati

Meine Großeltern Max und Gertrud Fuss beschäftigten die Haushälterin Selma Tiemann, von der ich hier berichten möchte. Leider sind uns ihre Lebensdaten nicht bekannt. Selma, von allen schlicht «Tati» genannt, lebte seit dem 1. Mai 1915 im Haushalt meiner Großeltern. Mein Großvater führte eine Rechtsanwalts- und Notarkanzlei in einer komfortablen Sieben-Zimmer-Wohnung in der Uhlandstraße 39 in Berlin-Charlottenburg. In dieser Wohnung wuchsen auch mein Vater Helmut und seine Schwester Inge auf. Tati hatte in dem Haushalt nach eigenen Angaben, die sie 1952 machte, «nicht die Stellung einer Angestellten, sondern wurde wie ein Mitglied der Familie behandelt». Dementsprechend wusste sie auch «über sämtliche Vorgänge, die sich nach der NS-Machtübernahme abgespielt haben», genau Bescheid. Die Gestapo wollte sie von dem jüdischen Haushalt fernhalten, aber Tati erklärte, sie fühle sich dort wohl und wolle ihre Arbeitgeber und deren Kinder nicht verlassen. Sie hielt auch an diesem Vorsatz fest, nachdem die Einnahmen der Familie aufgrund der Verfolgungen durch die Nationalsozialisten erheblich gesunken waren. Im Jahr 1933 wurde meinem Großvater Max Fuss die Zulassung als Notar entzogen.

Mein Vater Helmut erkannte frühzeitig die Gefahr. Er trat einem jüdischen Jugendbund bei und absolvierte bereits 1933/34 eine umfassende landwirtschaftliche Ausbildung (Hachschara) in Belzig, um sich auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Im Oktober 1935 verließ mein Vater Deutschland. Meine Tante Inge wurde 1933 auf ein Internat in Italien geschickt, wo sie sich in den pädagogischen Leiter verliebte, mit dem sie später nach Frankreich ging.

Die beiden überlebten den Krieg im Untergrund an der französischen Südküste in Nizza. Meine Großeltern Max und Gertrud reisten 1937 nach Palästina, um ihren Sohn Helmut und seine Ehefrau Edith (meine Mutter) im Kibbuz Giwath-Brenner zu besuchen. Leider blieben sie nicht in Palästina, sondern kehrten nach Deutschland zurück. Nach dem Novemberpogrom von 1938 wurde meinem Großvater, wie auch allen anderen seiner jüdischen Kollegen die Zulassung zum Rechtsanwalt entzogen. Meine Großeltern versuchten, aus Deutschland zu flüchten, konnten jedoch kein Visum erhalten, da kein Land bereit war, sie aufzunehmen. Also blieben sie während der schlimmsten Jahre der Verfolgung in ihrer Berliner Wohnung. Auch nachdem der Krieg ausbrach, blieb Tati ihnen treu.


Max und Gertrud Fuss mit ihrem Sohn Helmut 1922 im Strandkorb. Daneben steht die Haushälterin Selma, genannt «Tati», Tiemann.
Foto: D. Nadav

Von Berlin nach Auschwitz

Selbst als im Oktober 1941 die ersten Transporte von Berlin in Richtung Osten geschickt wurden, versuchte Tati, meinen Großeltern weiter behilflich zu sein. Sie soll sich 1942 sogar zur Gestapo gewagt haben, um den Abtransport meiner Großeltern zu verhindern. Das gelang ihr natürlich nicht. Dennoch hielt sie stets Kontakt zu meinen Eltern in Palästina aufrecht und berichtete ihnen durch Rot-Kreuz-Briefe von der sich ständig verschlechternden Lage der Großeltern. Tati konnte so auch meinen Großeltern ab und zu eine erfreuliche Nachricht übermitteln, wie etwa meine Geburt im August 1940. Sie fungierte als Kontaktperson in die «äußere Welt», manchmal verkaufte sie auch Möbel oder Wertsachen der Familie, um Lebensmittel und andere nötige Anschaffungen zu finanzieren. Zudem versteckte sie für noch düsterere Tage einen Teil des in den Dokumenten der Gestapo aufgelisteten Inventars der Familie. Die laufenden Einnahmen der Familie waren minimal. Mein Großvater Max arbeitete fast ehrenamtlich als Angestellter der Jüdischen Gemeinde, wodurch sein Abtransport möglicherweise etwas verschoben wurde. Meine Großmutter Gertrud konnte eine zeitlang noch in die Baerwald-Küche, einer Einrichtung für unterstützungsbedürftige jüdische Akademiker, arbeiten. Als jedoch immer weniger Kunden erschienen, da bereits viele Juden abtransportiert worden waren, entfiel auch diese letzte bescheidene Einnahmequelle.

Am 8. März 1943 passierte das Schlimmste. Nach Tatis Beschreibung kam mein Großvater Max sehr früh «mit der Bemerkung, dass er für den heutigen Tag beurlaubt sei» nach Hause. Er habe, so berichtete uns Tati, keinerlei Argwohn gehegt, dass diese Beurlaubung erfolgt war, um die Deportation des Ehepaares durchzuführen. Plötzlich erschienen einige Gestapo-Beamte und beide Eheleute wurden mit dem 36. Osttransport aus Berlin nach Auschwitz verschickt. Als «ältere Leute» wurden sie dort vermutlich sofort umgebracht.

Die entsetzte Tati berichtete meine Eltern sofort über die «Verlegung» nach Osten. Auschwitz durfte nicht erwähnt werden. Tati sah es auch weiter als ihre Pflicht, die versteckte Sachen der Familie aufzubewahren.

Nach dem Krieg

Unmittelbar nach Kriegsende schrieb Tati ausführlich mit der ersten regulären Post und berichtete dies alles meinen Eltern. Sie wollte meinen Eltern die versteckten Gegenstände zurückgeben, aber Palästina war weit und die Schiffskosten zu hoch. So blieben die Sachen jahrzehntelang in Berlin, bis einer meiner Brüder einen Teil nach Tatis Tod, in den späten 1970er Jahren, abholte. Bis zu ihrem Tod hatten meine Eltern und Tati einen herzlichen Kontakt. Doch die Rollen wechselten. Tati befand sich jahrelang in einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage und meine Eltern schickten ihr etwas Geld und Pakete. 1963 luden wir sie nach Israel ein. Sie war glücklich, meine Eltern wiederzusehen und auch die Kinder kennenzulernen. Die Kinder, das bin zum einen ich, aus der ersten Ehe meines Vaters Helmut, sowie Giora und Rafi aus seiner zweiten Ehe. Als Tati später alt und gebrechlich wurde, beteiligten wir uns an den monatlichen Zahlungen für das Altersheim. Während meiner ersten Reise nach Berlin 1975 besuchte ich Tati in ihrem letzten Domizil.

Der ständige Kontakt mit Tati erinnerte uns immer daran, dass es auch «andere Deutsche» gab, leider nur wenige. Doch diese mutigen Leute dürfen nie vergessen werden.

Daniel Nadav wurde 1940 in Tel Aviv geboren, studierte Geschichte und spezialisierte sich mit seinen Forschungen auf die Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere die Geschichte der Medizin sowie Sozialmedizin. Er lehrt an der Universität Tel Aviv und veröffentlichte in den letzten 26 Jahren zahlreiche Bücher, die meisten davon auf Hebräisch. Zuletzt erschien sein Buch «Medicine and Nazism» (Magnes Press 2010).