Der vorliegende Beitrag erschien im März 1934 in der von Julius Goldstein herausgegebenen Zeitschrift „Der Morgen“, die ein breites Themenspektrum aus aufgeklärt-orthodoxer Sicht bediente. Autor ist einer der führenden liberalen Rabbiner Deutschlands jener Zeit, Max Dienemann…
Max Dienemann wurde in Posen geboren und studierte in Breslau. Auch wenn er sich selbst als deutschen Patrioten verstand, stand er dem Zionismus offen gegenüber. Dienemann wurde 1919 in Offenbach a.M. zum Rabbiner berufen, wo er bis 1938 blieb. Gemeinsam mit Leo Baeck leitete er den Allgemeinen Rabbinerverein Deutschland. 1935 ordinierte er als erste Frau im Judentum überhaupt Regina Jonas zur Rabbinerin.
Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ wurde Dienemann zweimal in Konzentrationslager interniert, konnte jedoch mit seiner Familie nach dem Novemberprogrom 1938 emigrieren. Max Dienemann starb im April 1939 in Tel Aviv.
Dienemanns Gedanken zu Purim im März 1934 spiegeln auf dramatische Weise den Geist der Zeit und die Hoffnung auf ein Wunder Gottes wider.
Von Max Dienemann
Der Morgen, Heft 9, März 1934
Keinerlei Wundererzählung begleitet den Bericht über die Geschehnisse, deren Ausklang die Einsetzung des Purimfestes ist. Es ist nichts geschehen, was man als Wunder bezeichnen könnte. Menschen ersinnen einen Plan, Menschen machen diesen Plan zunichte, es geht alles seinen natürlichen Weg, das Ganze bleibt ein Ausschnitt, und noch dazu ein kleiner, aus Vorgängen im persischen Staatsleben.
Und doch ist alles ein einziges großes Wunder. Denn wenn auch Menschen die Handelnden in jenem Drama sind, niemals hätte allein aus Menschenwillen und aus Menschenkraft die Wandlung im Schicksal der Juden sich vollziehen können. Befehle waren erlassen, Gesetz war verkündet, wer hätte glauben können, daß das am Rande des Todes stehende Israel dennoch errettet werden würde, dennoch sein Leben behielte?
Daß es geschah, daß ein so lächerlich geringfügiges Ereignis wie jenes, daß der König eine Nacht einmal keinen Schlaf finden konnte, der Anlaß zu der großen Wendung wurde, das eben ist der Ausdruck der Tatsache des Glaubens, daß hier Gott selbst eingriff und das Rad der Geschichte anstieß, wie er es wollte und nicht wie Menschen es wollten.
Purim — ein Wunder; und doch zirkelt alles um die Menschen jener Tage und ihre Beziehungen zueinander. Und das Wunder wird wirksam, weil es Beziehungen, menschliche Beziehungen zwischen Juden und den andern gab. Uns gefallen diese Beziehungen nicht, und die Art der handelnden Menschen noch weniger. Esthers Beziehungen zu Ahasveros, dem König, liegen nicht auf der Ebene, auf der wir uns das Leben der Jüdin wünschen und träumen, und die Art ihres Handelns wird niemand als vorbildlich bezeichnen wollen; uns wird auch nicht davon erzählt, weil hier Vorbild empfunden wird. Und doch hätte alles nicht so geschehen können, wenn nicht menschliche Beziehungen über alles Trennende hinweg dagewesen wären, wenn nicht ein Gebietender an dem Menschen, den er kannte, anders über die Juden zu denken begonnen hätte als Haman sie ihm geschildert hatte.
Es ist das ewige Wunder in der Geschichte Israels: immer ist es in der Minderheit, immer ist es umdroht, immer ist es am Rande der Vernichtung, immer steht es vor dem Ende; wenn es auf seine Kraft sich verlassen wollte, es wäre sicher verloren, wenn es auf Menschen sich stützen müßte, sie wären ohnmächtig. Daß es bleibt und dauert, ist immer das Walten Gottes, seine Lenkung der Geschichte. Von Purim geht für alle Betrachtung jüdischer Geschichte und jüdischen Erlebens die Erkenntnis aus: ein Wunder nicht zu begreifen, nicht zu errechnen.
Purim ist ein Tag der Erinnerung daran, daß Gott Sorgen und Furcht von unsern Schultern nehmen kann.