Frankreich nach den Morden in Toulouse und Montauban

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Welche Auswirkungen auf gesellschaftliches und politisches Klima – und den französischen Wahlkampf?…

Von Bernard Schmid, Paris

„Die Sicherheit rückt ins Zentrum des Wahlkampfs“ titelte an diesem Montag, den 26. März  die französische Gratistageszeitung Direct Matin. Sinngemäß identisch hatte schon am vorigen Freitag (23. März 12) die Überschrift auf der Titelseite der Boulevardzeitung Le Parisien gelautet. Verändern die Mordserie im Raum Toulouse, die inzwischen als aufgeklärt gelten kann, ihre Begleitumstände und die durch sie ausgelösten politischen Diskussionen den Wahlkampf in Frankreich – knapp einen Monat vor der Präsidentschaftswahl? Diese Frage stellen sich derzeit allenthalben die Akteure und Beobachterinnen.

Eine ungesunde Tagesdosis Blei setzte am vergangenen Donnerstag, den 22. März 2012 in Toulouse dem Leben & dem Treiben des 23jährigen Djihadisten Mohamed Mehra – Urheber einer jüngst verübten Mordserie in Südwestfrankreich – ein Ende.

Am Vortag hatte sich herausgestellt, dass die insgesamt sieben Morde (an drei Soldaten in Montauban und Toulouse, an drei jüdischen Kindern und einem Religionslehrer an einer jüdischen Privatschule in Toulouse, begangen am 11., 15. und 19. März) sowie weitere Mordversuche nicht auf das Konto eines Neonazis oder Neofaschisten gingen – wie in den Tagen zuvor vielfach angenommen worden, da alle Opfer entweder Moslems oder Juden waren. Ab 03.05 Uhr früh belagerten an jenem Tag Elitepolizisten der Sondereinheit RAID, die ungefähr mit der deutschen GSG9 verglichen werden kann, das Wohnhaus des jungen arbeitslosen Automechanikers Mohamed Merah.

Überführt worden war der Djihadist durch das Überkreuzen zweier Spuren. Ab dem Wochenende davor hatten die Ermittler alle insgesamt 576 IP-Adressen ausgewertet, von denen aus eine Anzeige des ersten Opfers im Internet angeklickt worden war. Der 30jährige Soldat Imad Ibn Ziaten hatte eine Annonce aufgegeben, um sein Motorrad zu verkaufen. Jemand hatte daraufhin offenkundig eine Verabredung mit ihm getroffen und ihm einen Hinterhalt gestellt, um auf ihn zu schießen. Eine der 576 IP-Adresse führte zur Mutter zweier Brüder, Mohamed und Abdelkader Merah, die zuvor beim Inlandsgeheimdienst aktenkundig geworden waren – der Erste wegen zweier Aufenthalte in Afghanistan und Pakistan in den Jahren 2010 und 2011, also an bei Djihadisten beliebten Reisezielen, der Zweitgenannte aufgrund seines offenen Engagements im salafistischen Milieu. Noch war dies aber keine eindeutige Spur. Der Inlandsgeheimdienst DCRI erarbeitete Anfang vergangener Woche eine Liste mit einem Dutzend Namen von Tatverdächtigen aus dem engeren Kreis: Je genau die Hälfte waren bekannten Neofaschisten und bekannte Djihadisten.

Am vorigen Dienstag, den 20. März kam dann von außen der entscheidende Tipp dazu: Ein Auto- und Motorradhändler in Toulouse berichtete, er habe Verdacht geschöpft, weil ein Kunde sich bei einem seiner Angestellten für die Folgen des Umspritzens eines Motorrollers interessiert habe. Zuvor war in der Öffentlichkeit bekannt geworden, dass bei den Morden ein am 06. März d.J. gestohlener Motorroller als Tatfahrzeug benutzt worden war – dieser war zunächst schwarz, und bei den darauffolgenden Taten in weiß umgespritzt worden. Ferner habe der junge Mann sich dafür interessiert, wie man die GPS-Peilmarke an Motorrollern entfernen könne, die es erlaubt, ein gestohlenes Fahrzeug zu identifizieren, wenn man einen Peilsender in die Nähe hält. Der Kunde war dem Autohändler bekannt, da er seit dem Alter von 14 Jahren gelegentlich bei ihm ein- und ausging. Es handelte sich um Mohamed Merah. Daraufhin wurde dessen Wohnung belagert. Der 23jährige erklärte daraufhin nicht etwa, es handele sich um einen Irrtum, für welchen man ihn unschuldig aus dem Bett ziehe, sondern empfing die Polizeieinheiten mit Schüssen. Merah hatte insgesamt sieben Waffen, unter ihnen drei Colts vom Kaliber 11.43 (mit einem von ihnen waren die Morde verübt worden), eine Mini-Maschinenpistole vom Typ Uzi und eine Pump gun, in seiner Wohnung.

Wo setzt offenes politisches Kalkül im staatlichen Handeln ein; und wo nicht?

Ab dem Zeitpunkt konnte es keinen ernsthaften Zweifel mehr an der Identität des Täters geben. In dieser Hinsicht jedenfalls darf eine Manipulation zu politischen Zwecken ausgeschlossen worden. Sofern eine solche – ggf. zugunsten der Ziele und politischen Absichten des Regierungslagers – vorliegt, dann jedenfalls nicht auf dieser Ebene, sondern auf einer anderen.

Wie vielfach von inländischen Stimmen (etwa sozialdemokratischen Politikern) und internationalen – etwa aus den Reihen der US-amerikanischen Dienste oder von israelischen Polizeiexperten – vorgetragen wurde, erschien die anderthalb Tage dauernde Belagerung vielen von ihnen unnötig. Angesichts der Tatsache, dass der Mörder keine Geisel genommen und bei sich hatte, wäre es demnach möglich gewesen, die Sache auch sehr viel schneller zu beenden. Es hätte ihnen zufolge auch andere Mittel gegeben, um den Täter Merah unschädlich zu machen. Beispielsweise hätte man ihm am Ausgang oder in der Umgebung seiner Wohnung auflauern und bei deren Verlassen – das früher oder später notwendig erfolgen musste – dingfest machen können. Das Innenministerium beruft sich jedoch darauf, in einem solchen Falle hätte Fluchtgefahr bestanden; aber dann wären tödliche Schüsse (wie sie auch bei der Erstürmung der Wohnung, aufgrund des starken Widerstands und massiven Feuer-Einsatzes durch Merah, notwendig wurden) immer noch möglich gewesen. Bislang gilt als wahrscheinlich, dass Mohammed Merah nur zwei Stunden vor der Belagerung, gegen ein Uhr früh, eine in der Nähe seiner Wohnung gelegene Telefonzelle aufsuchte und einen Fernsehsender anrief, um sich zu seinen Taten zu bekennen und so genanntes „Täterwissen“ (also Detailwissen, das nur der Urheber der Morde selbst besitzen konnte) zu offenbaren. Also hätte man ihn mutmaßlich bei dieser Gelegenheit bereits gefangen nehmen oder ausschalten können, jedenfalls sofern die Wohnung da schon beschattet wurde, was als wahrscheinlich gelten darf. Auch hätte es andere Möglichkeiten gegeben, Mohamed Merah innerhalb der Wohnung zu neutralisieren und unschädlich zu machen, insbesondere durch den Einsatz von einschläferndem oder toxischem Gas – wie es in solchen Fällen oft durch „Spezialkräfte“ der Staatsorgane benutzt wird, sofern keine Geiselpräsenz besteht. Laut offiziellen Angaben wurde im Übrigen auch einschläferndes Gas in die Wohnung geschossen, jedoch ohne Erfolg. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass in der Nacht zuvor mehrfach Schockgranaten eingesetzt wurden, mit denen Fenster und Fensterläden der Wohnung weggesprengt wurden. Doch in einer Wohnung, die dadurch nicht mehr luftdicht abgeschlossen ist, verspricht ein Einsatz von einschläferndem Gas eben auch sehr viel weniger Wirkung…

Plausibel ist zumindest die These, dass – während die offiziellen Informationen über die Identität des Täters und seine Hintergründe vollauf zutrafen – jedenfalls das Prozedere seiner (versuchten) Gefangennahme und späteren Tötung politischen Imperativen gehorchte. Nämlich dem, das Publikum möglichst einige Stunden oder Tage lang in Atem zu halten: Eine kurze Erstürmung der Wohnung, oder gar eine relativ unspektakuläre Festnahme Mohamed Merahs durch einen Überraschungscoup, hätte das Publikum diesem Kalkül zufolge nicht stark genug emotional gefesselt. Da die TV-Zuschauer und Zeitungsleser jedoch in allernächster Zukunft auch Wähler/innen sein werden, wollte man eben eine stärkere emotionale Anteilnahme bei ihnen herstellen. – Die Teilnehmer an der Wohnungsbelagerung und –stürmung sind dafür allerdings nicht unmittelbar verantwortlich, sondern auf direkte Weise die politischen Anführer, in erster Linie Präsident Sarkozy und dessen Innenminister Claude Guéant. Letzterer leitete persönlich vor Ort den Einsatz, obwohl er in der staatlichen Hierarchie überhaupt nicht der Vorgesetzte der Eliteeinheit RAID ist (diese untersteht dem Verteidigungsministerium) und obwohl den Einsatz zur Festsetzung des Täters – rechtlich betrachtet – nur ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin leiten dürfte. Entsprechende Kritik übte schon früh die linksliberale Präsidentschaftskandidatin Eva Joly, die für die französischen Grünen zur Wahl antritt und selbst früher Untersuchungsrichter war. Auch sozialdemokratische Politiker moserten an den Weichenstellungen für den Polizeieinsatz ein bisschen herum, wie der Sicherheitsexperte der „Sozialistischen“ Partei François Rebsamen (auch Bürgermeister von Dijon). Er schrieb zunächst auf Twitter, es komme ihm unglaubwürdig vor, dass der RAID derart lange für eine Belagerung im Falle Mohamed Merahs benötigen solle. Präsident Sarkozy wies jedoch schnell jegliche Kritik zurück und konterte diese mit dem Vorwurf, sie sei abträglich für „die Ehre des RAID“ die er „durch nichts beschmutzen lassen“ werde, während die Eliteeinheit soeben einen gefährlichen Einsatz hinter sich habe. François Rebsamen nahm daraufhin auf Twitter seinen zuvor getätigten Äußerungen zurück.

Konversation mit dem Mörder

Während der Belagerung, die insgesamt von der Umstellung der Wohnung Mohamed Merahs bis zu seinem Tod rund 33 Stunden dauerte, unterhielt der junge Mann sich per Walkie-Talkie lange Zeit mit Angehörigen der Polizeieinheit RAID und des französischen Inlandsgeheimdiensts. Unter ihnen jene selbst maghrebischstämmige französische Beamtin, die Merah im November 2011 – auf eine Vorladung mit freiwilligem Erscheinen hin – vernommen hatte, um ihn nach seinen Reisen in Richtung Afghanistan und Pakistan zu befragen. (Damals hatte Merah es geschafft, sie offenkundig ordentlich einzuwickeln, u.a. indem er zahllose von ihm aufgenommene Landschafts- oder Städtefotos zeigte, die belegen sollten, dass er sich „auf einer Reise zu touristischen Zwecken“ befunden habe. Zur Begründung seines zweiten Aufenthalts – in Pakistan, 2011 – führte er zudem an, er habe dort nach einer moslemischen Ehefrau gesucht. Aufgrund seiner betonten Kooperationsbereitschaft und seines freundlichen Auftretens gegenüber den Beamt/inn/en, die an solches bspw. unter radikalen Islamisten nicht gewohnt sein dürften, ließ der Apparat sich mutmaßlich durch solche Formfragen täuschen. Und stufte Merah als tendenziell ungefährlich ein. Man versuchte, Informationen aus ihm herauszubekommen, erfuhr aber anscheinend dabei nicht viel. Zuvor war von März bis November 2011 auch dessen Telefonanschluss abgehört worden, die Auswertung hatte aber ebenfalls keinerlei „heißen“ oder verdächtigen Informationen ergeben. Entweder war Mohamed Merah dafür zu intelligent, solche in Telefongesprächen preiszugeben, oder aber er hatte in jenem Zeitraum tatsächlich keinerlei „organisierte“ Kontakte.)

Drei bis vier Stunden Kommunikation mit dem Amokläufer wurden demnach aufgezeichnet, so dass bezüglich der Äußerungen Mohamed Merahs eine Überprüfungsmöglichkeit besteht; an dem Punkt scheinen Manipulationen durch die Dienste also weitgehend ausgeschlossen.

(Seiner vormaligen Kontaktbeamtin beim Inlandsgeheimdienst vom November 2011 sagte Merah bei dieser Gelegenheit übrigens, sie hätten ja eine gemeinsame Vertrauensbasis besessen: „Ich hätte Dich demnächst auch kontaktiert, um Dir zu sagen, dass ich Neuigkeiten für Dich weiß. Aber ich hatte in Wirklichkeit vor, Dich umzulegen.“)

Treffen deren Angaben zu, dann bekannte Merah sich im Laufe der Konversation freimütig zu seinen Taten und bedauerte „nur, nicht noch mehr Opfer“ hinterlassen zu haben. Er habe auch bereits weitere Morde geplant, insbesondere an Soldaten. Auf diese hatte er es anscheinend besonders abgesehen – die Morde an der jüdischen Schule vom 19. März 12 beschloss Merah demnach mehr oder weniger spontan, nachdem er den geplanten Anschlag auf einen Soldaten, mit dem er verabredet war, nicht habe durchführen können.

Ideologische und psychische Motivlagen

Jenseits der Beeinflussung durch djihadistische Ideologie sind sicherlich auch psychische und psychiatrische Motive bei Mohamed Merah nicht auszuschließen. Erste vorliegende Berichte über die Kindheits- und Jugendjahre des in Toulouse geborenen und aufgewachsenen jungen Mannes lassen auf eine gespaltene Persönlichkeit schließen. Mohamed Merah wird einerseits von vielen, die ihn in seinen Jahren als Heranwachsender und junger Erwachsener kannten, als höflich, zuvorkommend, respekt- und humorvoll beschrieben. Andererseits liegen auch Berichte vor, die ihn tyrannisch im Umgang mit anderen Menschen zeigen. So bedrohte er vor zwei Jahren eine Mutter und schlug ihre Tochter, weil die Erste sich darüber beschwert hatte, dass Merah ihren minderjährigen Sohn zum Ansehen von Terror verherrlichenden Videos von Djihadisten gezwungen hatte. Allem Anschein nach hatte Merah dabei bestimmte gesellschaftliche Dominanzverhältnisse verinnerlicht: Er war den Schilderungen zufolge „angenehm“ im Umgang mit schulischen und staatlichen Autoritäten sowie oft mit „Weißen“, aber brutal gegenüber anderen Menschen mit Migrationshintergrund.

Denn bestimmte Verhaltensvorschriften aufzwingen wollte er offenkundig vor allem Menschen, die in seinen Augen gefälligst Muslime zu sein hatten. Dies würde im Übrigen nochmals dadurch bestätigt, dass die von ihm getöteten drei Soldaten alle nordafrikanischer Herkunft waren; jedenfalls wenn der Täter die Opfer nach diesem Merkmal gezielt ausgesucht hatte. (Dies steht jedoch noch nicht fest. Denn für die Öffentlichkeit konnte durch die Ermittlungen bislang nicht geklärt werden, ob der Todesschütze die beiden Soldaten, die er am 15. März erschoss, auch von vorne gesehen hat – erschossen wurden sie jedenfalls von hinten, in der Warteschlange vor einem Bankautomaten. Unklar ist, ob Merah ihr Gesicht erblickt hatte. Über sein erstes Opfer, den Soldaten Imad Ibn Ziaten, wusste er jedoch in Bezug auf dessen Herkunft wohl Bescheid, da er aufgrund der oben erwähnten Annonce im Internet zumindest dessen Vornamen kannte. Denkbar wäre, dass Merah mehr oder minder gezielt Soldaten „hinrichtete“, die er für Muslime hielt, um auf diese Weise „Verräter“ zu bestrafen und zu töten. Allerdings war sein erstes Opfer, der 30jährige Ibn Ziaten, zwar marokkanischer Herunft, jedoch Katholik – er wurde mit einer Messe in der Kathedrale von Montauban beerdigt. Was seinerseits Präsident Sarkozy ordentlich ins Fettnäpfen treten ließ, denn Nicolas Sarkozy nannte die Opfer unter den Soldaten bei einem öffentlichen Auftritt „Muslime, zumindest dem Aussehen nach, denn einer war Katholik.“ Nun durfte die Öffentlichkeit darüber rätseln, wie man vermeintlich Muslime an ihrem Aussehen erkennt… Und Teile der Opposition, wie die französische KP, beklagten „eine rassistische Äußerung“ und griffen Sarkozy dafür an…)

Zurück zu Mohamed Merah. Er selbst lebte aber – im Gegensatz zu seinem Bruder Abdelkader, dessen Mitwisser- und eventuelle Komplizenschaft derzeit in Art und Umfang noch nicht genau feststeht und der am Sonntag wurde – keineswegs nach islamistischen Glaubensvorstellungen. Er besuchte nicht regelmäßig Moscheen und betete nicht häufig, ging abends aus. Allerdings scheint er auch Familienmitglieder terrorisiert zu haben, weil eine jüngere Schwester in die Disko ging, weil ein Bruder Alkohol trank und aus ähnlichen Anlässen. Mohamed Merahs langjähriger Anwalt – aus den Jahren kleinerer, vergleichweise harmloser Jugenddelikte und kleinkrimineller Dummheiten – Christian Etelin erklärt seinerseits, er habe bei Merah nie eine religiöse Ader gekannt. ((vgl. http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2012/03/29/01016-20120329ARTFIG00361-l-avocat-de-merah-je-ne-l-ai-jamais-connu-religieux.php ))

Auch sein Weg nach Afghanistan führte nicht über die üblichen, und ohnehin inzwischen gut überwachten, djihadistischen Netzwerke. Vielmehr reiste Merah mit eigenen Mitteln und auf eher ungewöhnliche Wegen – und sogar mit einem, weitgehend unbehelligten Aufenthalt in Israel, wo er lediglich einmal aufgrund des Besitzes eines Taschenmessers in Jerusalem polizeilich vernommen wurde, dazwischen –  ab Juli 2010 über Ägypten, Jordanien, Syrien, den Libanon und Tadschikistan in das mittelöstliche Land.

Dort und in Pakistan scheiterte er gleich doppelt, also zwei mal hintereinander. Bei seinem ersten Aufenthalt in Afghanistan im Oktober/November 2010 wurde er nach nur einem Monat durch die örtliche Polizei in Kandahar bei einer Verkehrskontrolle aufgegriffen, und durch einheimische Behörden sowie US-Amerikaner in ein Flugzeug gesetzt. (Seitdem hatte er Flugverbot in den USA.) Beim zweiten Mal musste er seinen Aufenthalt im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet nach rund acht Wochen im Oktober 2010 abbrechen, weil er an einer Hepatitis A erkrankte. Laut Auffassung der Dienste hat Merah es also nicht geschafft, wirklich von Taliban- oder anderen djihadistischen Gruppen vor Ort aufgenommen zu werden und in einem Camp ausgebildet zu werden. Er selbst behauptete in seiner Kommunikation mit den ihn belagernden Polizisten des RAID und Nachrichtendienst-Leuten, er habe dort jedoch „Einzelunterricht“ durch eine Person u.a. in Nahkampf erhalten. (Irgendwo muss er tatsächlich das Präzisionsschießen – bei dessen Durchführung auf „lebende Ziele“, auf Menschen er sich als ungewöhnlich kaltblütig erwies – erlernt haben. Es sei denn, er erwarb diese „Fähigkeiten“ bei ordinären kriminellen Elementen und nicht in Afghanistan, sondern in Frankreich, dann aber ohne ideologischen Hintergrund…)

Aus diesen Eskapaden resultierte mutmaßlich ein Gefühl des Scheiterns, das Merah nunmehr durch umso spektakulärere Taten „wettzumachen“ und „überzukompensieren“ versuchte. Ebenso, wie er in der Vergangenheit Zuflucht im Djihadismus gesucht hatte, nachdem er andere Erfahrungen des Zurückgesetztwerdens oder Scheiterns einstecken musste.

Dazu zählen ein längerer Gefängnisaufenthalt in den Jahren 2008 und 09, während dessen er ab dem Weihnachtstag 2008 auch zeitweilig in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, aber auch seine Ablehnung bei der französischen Armee. Zwei mal versuchte er als Soldat rekrutiert zu werden, im Januar 2008 und, bei der Fremdenlegion, im Juli 2010. Beim ersten Mal wurde er aufgrund von Vorstrafen wegen kleinkrimineller Jugenddelikte abgelehnt, beim zweiten brach er die Bewerbungsprozedur unter ungeklärten Umständen ab. Daraus resultierte wohl ein ganz besonders massives Ressentiment gegen die militärischen Institutionen, die er durch eine Identifikation mit den „Glaubenskämpfern“ in Afghanistan zu kompensieren schien.

Durch den Nachweis besonderer Härte „auszugleichen“ versucht hat Mohamed Merah aber wahrscheinlich auch sein konfliktgeprägtes oder jedenfalls von einer langjährigen Rivalität belastetes Verhältnis zu seinem älteren Bruder, Abdelkader. Jener war, im Gegensatz zu Mohamed Merah selbst, ein tatsächlich nach strengen religiös-politisch-ideologischen Vorschriften lebender Aktivist aus Überzeugung und gehörte dem salafistischen Milieu an. Allem Anschein zufolge betrachtete Abdelkader Merah seinen jüngeren Bruder bis dahin wohl als ein kleinen Versager, ein inkonsequentes Weichei, einen Sprücheklopfer. Dieser glaubte nun wohl, sich auf besonders harte Weise „beweisen“ zu müssen – sofern diese These zutrifft. Ab wann dieser Bruder, Abdelkader, wie viel von den Taten seines Bruders wusste oder jedenfalls erahnen bzw. durchschauen konnte, ist bis zur Stunde ungeklärt und wird Gegenstand eines Strafverfahrens werden. – Unklar ist auch, welche Rolle der am 20. März 12 (wenige Stunden vor dem Beginn der polizeilichen Belagerung von Mohamed Merahs Wohnung) ausgesprochenen „religiösen Scheidung“ des Amokläufers zuzusprechen, und wie ihr eventueller Einfluss auf ihn zu bewerten ist. Merah war standesamtlich ledig, hatte jedoch am 15. Dezember 11 einen Eheschluss auf rein religiöser Ebene (mit einer jungen Frau aus dem Raum Toulouse) durch einen Imam vornehmen lassen. Diese rein religiöse Heirat wurde, wie erwähnt, am 20. März 12 aufgelöst. ((vgl. http://www.liberation.fr/depeches/01012398191-mohamed-merah-marie-religieusement-avait-divorce-la-veille-de-l-assaut)) War dies für Mohamed Merah nur die Konsequenz darauf, dass er sich nunmehr zum Leben und voraussichtlichen Sterben als „Glaubenskämpfer“ entschieden hatte? Oder aber hatten umgekehrt das Scheitern der Beziehung, und/oder seine manifeste Unfähigkeit zum Leben darin, einen „Radikalisierungs“schub bei ihm ausgelöst? Eventuelle Antworten auf diese Fragen muss der Täter der Nachwelt wohl schuldig bleiben…

Kaum oder keine organisatorischen Hintergründe

Allem Anschein „radikalisierte“ Mohamed Merah sich im Laufe seines Werdegans weitgehend allein, und ohne irgendeiner größeren oder strukturierten Organisation anzugehören.

Dennoch ist es gut möglich, dass kleinere informelle Netzwerke Merah – der behauptet, seine Waffenkäufe durch Einbruchdiebstähle selbst finanziert zu haben – bei der Vorbereitung seiner Taten unterstützten. Dass die Morde vom 11., 15. und 19. März alle im unmittelbaren Vorfeld der französischen Wahlen stattfanden, könnte ebenso geplant sein wie die Anlehnung an den Jahrestag der schweren Bombenattentate in Madrid vom 11. März 2004. Djihadisten versuchen häufig, Wahlen zu beeinflussen, und in der Regel haben sie eine Vorliebe für die Rechte oder extreme Rechte: Deren Anstieg soll moslemischen Einwanderern und Bewohnern der Länder demonstrieren, dass jede Hoffnung auf friedliches Zusammenleben der Menschen aussichtslos sei, es Solidarität nur „unter Muslimen“ geben und eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Religionsgruppen unvermeidbar sei. (Im Falle der Parlamentswahl in Spanien vom 14. März 2004 ging die Sache damals zwar anders aus, und drei Tage nach den schweren Bombenanschlägen mit 91 Toten wurde die Sozialdemokratie unter José Luis Rodriguez Zapatero an die dortige Regierung gewählt. Aber nur oder jedenfalls überwiegend aufgrund der Tatsache, dass die zuvor amtierende Rechtsregierung sich durch manifeste Lüge über die Attentate selbst ein Bein gestellt hatte: Ihr Premierminister José Maria Aznar versteifte sich darauf, die tödlichen Anschläge seinen innenpolitischen Feinden von der baskischen bewaffneten Separatistenorganisation ETA in die Schuhe schieben zu wollen…)

Der „Bekennerbrief“ einer in Kasachstan ansässigen und im früher sowjetischen Zentralasien aktiven, bewaffneten Islamistengruppe unter dem Namen Djund al-Khalifa (eine Zusammenziehung auf Grundlage der arabischen Wörter Djunuud al-khalifa, „Soldaten des Kalifats“) ist jedenfalls vollkommen unglaubwürdig. Die Nachrichtendienste wären mutmaßlichziemlich genau  darüber unterrichtet, wenn diese Organisation von Zentralasien aus tatsächlich irgendwelche ernsthaften Kontakte auf französischem Boden unterhielte. Es wurde von ihrer Seite jedoch energisch dementiert, dass man über solcherlei Informationen verfüge. Aller Wahrscheinlichkeit handelt es sich ihnen zufolge um ein „opportunistisches Bekenntnis“, also um Trittbrettfahrertum.

Vor Ort in Südwestfrankreich existiert jedenfalls ein kleines – sehr kleines – Milieu, das Mohamed Merah infolge seines Todes und also NACH seinen Taten in gewissem Sinne die Treue hielt. Am Wochenende darauf versuchten jedenfalls circa 30 Personen – in ihrer Mehrheit „vollverhüllte“ Frauen – an einer Trauerkundgebung für Merah in dem Stadtteil von Toulouse, wo er getötet worden war, teilzunehmen. Eine der Teilnehmerinnen erklärte vor laufenden Kameras und Mikrophonen, man wolle „weiße und rote Rosen“ für Merah bringen. Die kleine Gruppe, mutmaßlich aus dem salafistischen Milieu, wurde jedoch durch die Polizei am Versammeln gehindert und zerstreut. In der salafistischen Szene, aber auch darüber hinaus, wurde Merah anscheinend durch das Ende, das er gefunden hat, zu einer Art Märtyrer aufgebaut. Dass dieselben Kreise allerdings schon VOR seinen Taten von Mohamed Merahs Plänen gewusst hätten – dies ist dadurch noch nicht bewiesen.

Was ferner feststeht, ist, dass die Mordserie von Merah einigen Trittbrettfahrern anderer Art Auftrieb verliehen hat, die sich nun darin bestätigt fühlen judenfeindliche Sprüche zu klopfen oder Drohungen zu äußern. So wird berichtet, dass die – am 19. März attackierte – jüdische Privatschule Ozar ha-Torah in Toulouse seit den Morden eine größere Zahl an Hasszuschriften und –e-Mails erhalten habe. Diese stellten oft auf konfuse Art und Weise einen angeblichen Zusammenhang zum Nahostkonflikt her. (Mohamed Merah hatte, in seiner Kommunikation mit den Einsatzkräften, behauptet, er habe „palästinensische Kinder rächen wollen“. Die Palästinenser/innen waren dabei freilich ungefragt geblieben. Im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde verurteilte Saib Erakat den Täter und die Tat scharf. Ebenso reagierte etwa auch die größte Palästina-Solidaritätsvereinigung in Frankreich, die AFPS.) Die französische Nachrichtenagentur AFP berichtet ferner unter Berufung auf jüdische Verbände, dass in Sarcelles nördlich von Paris – wo viele früher aus Nordafrika stammende Juden leben – Einschusslöcher an der Tür einer jüdischen Musikschule gefunden wurden. Diese hätte sich in der Nähe eines Plakats befunden, das zu einer Kundgebung aus Solidarität und Gedenken für die Opfer Mohamed Merahs aufrief.

Auswirkungen auf den Wahlkampf; neue Einwanderungspolemik

Diese Rechnung spielt sicherlich jener von rechten politischen Kräften in die Hände. Gleichzeitig müssen diese ihrerseits ebenfalls Vorsicht walten lassen. Denn angesichts des Klimas, das in den ersten Tagen nach den Morden in Frankreich vorherrschte und eher von Trauer und dem Wunsch nach „nationaler Einheit gegen die Extremisten“ geprägt war, drohte ein zu heftiges Vorpreschen etwa der extremen Rechten sich eventuell gegen diese zu wenden. Hätten ihre Parteigänger doch als jene, die die Einheit der Nation in Zeiten der Staatstrauer durchbrechen, dastehen können.

Ab dem Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Morde an der jüdischen Schule wurde der französische Wahlkampf vorläufig offiziell unterbrochen. Dabei war, wie der Pariskorrespondent des niederländischen Fernsehsenders RTL4 – Stefan de Vries – in einer Radiodiskussion am Sonntag (25. März) richtig beobachtete, auch sehr viel Heuchelei im Spiel. Denn offiziell brachen alle größeren Parteien ihren Wahlkampf ab, inoffiziell machten sie jedoch allesamt weiter. Das Regierungslager profitierte dabei davon, dass sein Kandidat Nicolas Sarkozy als Amtsinhaber ohnehin auf allen Kanälen präsent war und seine präsidiale Funktion nutzen konnte, um sich als eine Art Vater der Nation in Zeiten der Not zu präsentieren.

Als einziger Bewerber von Gewicht setzte der Mitte-Rechts-Oppositionspolitiker François Bayrou, Kandidat der christdemokratisch-liberal geprägten Partei Modem, seine Veranstaltungen fort. Allerdings ohne Musik und Spektakel, so lange die Morde noch nicht aufgeklärt waren. Am Dienstag, den 20. März 12 in Grenoble hielt Bayrou eine Art „Besinnungsrede“, die seiner Darstellung zufolge an die Stelle einer Wahlkampfansprache treten sollte. Dabei warf er „Fragen, die die Republik sich stellen muss“, auf – und konzipierte seine Ansprache ziemlich eindeutig als „Gegenrede von Grenoble“. Unter Anspielung auf die Brandrede, die Sarkozy am 30. Juli 2010 in derselben Stadt hielt, gegen „ausländische Kriminalität“ und für den Entzug der Staatsangehörigkeit eingebürgerter Franzosen, die kriminelle Straftaten begehen. Bayrou fragte sich, ohne explizit irgendeinen Namen zu nennen, in welchem Ausmaß „eine Politik, die Menschen und Gruppen gegeneinander ausspielt“, zu den Morden habe beitragen können.

Zu dem Zeitpunkt ging man vielfach noch von einem neofaschistischen Täter aus. Viele Beobachter und Kommentatoren gaben damals Bayrou ohne zu zögern Recht. Dabei dachten sie vielfach an die Sequenz des Wahlkampfs, die den Morden von Südwestfrankreich vorausging, als das Regierungslager im Februar und Anfang März dieses Jahres etwa die Speisevorschriften religiöser Minderheiten – Muslime und Juden – im anlaufenden Wahlkampf zum Problem erhoben hatten.

Jüdische und moslemische Religionsverbände reagierten deswegen vergangene Woche auch mehrfach gemeinsam auf die Mordserie von Toulouse und Montauban, deren Opfer in ihrer Mehrheit diesen beiden Religionsgruppen angehörten. Bei diesem gemeinsamen Auftreten blieb es dann auch, nachdem die wahre Identität und die echten ideologischen Hintergründe des Täters bekannt geworden waren. Jüdische und moslemische Religionsvertreter wurden etwa am letzten Donnerstag gemeinsam im Elysée-Palast empfangen, und beide verwahrten sich gegen „Verallgemeinerungen“ und dagegen, dass die Morde von Toulouse etwa zur Hetze gegen die moslemische Minderheit Anlass bieten könnte. Dies trug sicherlich dazu bei, dass ein Klima der „überkonfessionellen nationalen Einheit“ vorherrschend blieb.

Es prägte auch die Demonstrationen, die am Wochenende stattfanden. In Toulouse nahmen etwa 6.000 Menschen an einem Schweigemarsch teil, in Paris zum selben Zeitpunkt 3.000 bis 4.000 auf Aufruf jüdischer und antirassistischer Verbände hin. (In der französischen Hauptstadt blieb die Teilnehmer/innen/zahl dabei hinter jener an einem Schweigemarsch zurück, welcher bereits am Abend des Montag, 19. März stattgefunden hatten. An ihm hatten mehrheitlich, ja überwiegend jüdische Menschen teilgenommen, die innerhalb von nur wenigen Stunden mobilisiert worden waren. Auch SOS Racisme hatte sich jedoch kurzfristig angeschlossen. Rund 5.000 bis 10.000 Menschen waren an dem Abend zusammengekommen. Die Tatsache, dass die Mordserie inzwischen aufgeklärt und – vor allem – durch das Unschädlichmachen des Täters definitiv abgebrochen worden war, hatte sicherlich zwischen den beiden Terminen die Anspannung abfallen lassen. Ein Teil des rechtszionistischen Milieus, das dem Likud-Block nahe steht, hatte – in einem Aufruf der Vereinigung ,Europe Israël’ – allerdings aufgrund der Präsenz von antirassistischen oder Menschenrechtsorganisation, die ansonsten die israelische Politik regelmäßig kritisieren, zum Boykott aufgerufen. Allerdings war dieses politische Milieu dennoch zahlenmäßig gut bei der sonntäglichen Demo vertreten. Am Montag zuvor hatte sein radikalster Flügel, die rechtsextreme – und begrenzt mit Marine Le Pen kooperierende – „Jüdische Verteidigungsliga“ LDJ, noch mehrfach die Spitze der Demonstration zu übernehmen versucht. Dabei kam es wiederholt zu Reibereien mit dem überparteilichen jüdischen Studierendenverband UEJF.)

Zurück zu François Bayrous Kritik: Nachdem klar geworden war, dass die Taten keinen neofaschistisch-rassistischen Hintergrund hatten, reagierte Sarkozy jedoch scharf auf Bayrous Äußerungen und hielt ihm entgegen: „Wir haben in Frankreich kein solches Klima, das solche Taten erklären könnten.“ Mit offener Hetze gegen Einwanderer- oder religiöse Minderheitsgruppen hielt er sich jedoch ebenfalls weitgehend zurück. Stattdessen setzte Sarkozy stark auf sicherheitspolitische Ankündigungen, die jedoch von vielen Beobachtern als in der Sache unrealistisch eingestuft wurden. So kündigte er eine stärkere und intensivierte Überwachung des Internet an, und dass man „alle bestrafen“ werde, „die eine Apologie des Terrorismus betreibende Webseiten besuchen“. Unter deren Besuchern dürften jedoch auch viele Polizistinnen, Strategieexperten und Journalisten sein (so dass, im Falle einer Umsetzung dieses Plans, die Strafbarkeit letztlich zu einer Frage der Gesinnungsprüfung zu werden droht). Und man könnte ja auch versuchen, stattdessen lieber die Server bestimmter offen Gewalt verherrlichender Webseiten abstellen zu lassen…

Gleichzeitig rechneten Sarkozys Berater damit, das von „Sicherheitsbedürfnis“ geprägte Klima und seine Aura als „Beschützer der Nation“ würden den Amtsinhaber in den Umfragen schnell aufsteigen lassen: In der Sonntagszeitung JDD (Ausgabe vom 25. März) wurden Mitarbeiter Sarkozys mit der Erwartung zitiere, er werde schnell „2 bis 3 Prozent“ in den Umfragen hinzu gewinnen. Zu Wochenanfang in der letzten Märzwoche blieb ein solcher stärkerer Anstieg der Umfragewerte Sarkozys jedoch aus, auch wenn Sarkozy ohnehin seit Mitte März gegenüber seinem sozialdemokratischen Herausforderer François Hollande – dessen Wahlkampfführung schwammig und passiv bleibt – an Boden gewonnen hat. Daraufhin berichtete am Mittwoch, 28. März die linksliberale Tageszeitung ,Libération’ in einer Reportage aus einer Mittelklassestadt in der Nähe von Paris – Bussy-Saint-Georges -, welche im Jahr 2007 zu glatten 60 Prozent für Nicolas Sarkozy stimmte, dort habe sein Auftreten nach den Morden von Toulouse keineswegs Zustimmung gefunden. (Sicherlich auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Enttäuschung vieler früherer Sarkozy-Wähler/innen über seine Bilanz.) Dabei wird dem Staatsoberhaupt demnach vorgeworfen, sein Versuch einer „Vereinnahmung“ – récupération – der schlimmen Ereignisse für seine politischen Zwecke sei gar zu offensichtlich. Kritisiert wird aber auch ein Auftritt Nicolas Sarkozys in einer Pariser Grundschule kurz nach den tödlichen Schüssen auf jüdische Schüler in Toulouse. Dabei hatte Sarkozy seine circa achtjährigen  Zuhörer/innen dramatisierend beschworen, es hätte auch sie selbst treffen können – dadurch flößte er den Kindern allerdings viel eher Angst, denn irgendeine Erkenntnis oder gar Vertrauen ein…

Allerdings sind Umfragen zufolge dennoch, je nach Institut, zwischen 74 % und knapp 80 % (vgl. ,Le Monde’ vom selben Datum) der Auffassung, Präsident Sarkozy habe im Umgang mit den Ereignissen tendenziell „den richtigen Ton getroffen“. Umfragespezialisten glauben dennoch nicht, dass diese Stimmungslage in anscheinend relevanten Teilen der Gesellschaften einen wichtigen Einfluss auf das Wahlergebnis ausüben könne. Dafür seien die Ereignisse für die überwältigende Mehrheit der französischen Gesellschaft zu stark örtlich konzentriert – und damit von den meisten Betrachter/inne/n aus „weit weg“ -, und sie würden nicht als „auf das eigene Leben Einfluss nehmend“ betrachtet (vgl. oben zitierte Ausgabe von ,Libération’).

Die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen hatte kurz vor den Morden von Toulouse ihrerseits an Boden verloren. In den letzten Umfragen stand sie zwischen 13 und 16 Prozent, während sie vor einem halben Jahr noch in Reichweite der zwanzig Prozent gehandelt wurde. Dazu trug unter anderem bei, dass ihr Bemühen um eine „seriöse“ wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik als nicht besonders glaubwürdig ankam. Zudem macht ihr ein Kandidat erfolgreich Konkurrenz um die sozial unzufriedenen „Protestwähler“: Der gemeinsame Kandidat linker Sozialdemokraten und der französischen KP, Jean-Luc Mélenchon, besetzt eine ähnliche Position im politischen Spektrum wie in Deutschland Oskar Lafontaine. Im Gegensatz zu jenem sind von Mélenchon allerdings keinerlei rassistische Sprüche über „Fremdarbeiter“ (wie Lafontaine in Chemnitz im Juni 2005) und keine Folterbefürwortung (wie Lafontaine im Falle des Frankfurter Kindesentführers von 2003), sondern – trotz eines Ausrutschers gegen osteuropäische Arbeitsmigranten im Abstimmungskampf um den EU-Verfassungsvertrag 2005 – insgesamt ein klares antirassistisches Profil bekannt. Nach einer erfolgreichen Mobilisierung von 100.000 Menschen für eine Großveranstaltung in Paris am Sonntag, den 18. März auf dem Bastille-Platz konnte Mélenchon in ersten Umfragen (wo er erstmals bei 14 Prozent und darüber landete) Marine Le Pen überholen.

Le Pen versucht nun, die Morde von Toulouse politisch für sich zu nutzen, muss dabei aber aufpassen, es nicht allzu gierig und gar zu offensichtlich zu tun. So legte sie in ersten Stellungnahmen immer auch Wert darauf, die Dinge so darzustellen, dass sie keineswegs alle in Frankreich lebenden Muslime angreife – es gebe auch die Guten, die Assimilierten -, nur müsse die moslemische Minderheit sich eben entscheiden. Von Übel seien jene Strömungen, die „das Moslem- über das Franzose-Sein stellen“. Denn das Problem am Salafismus – welcher tatsächlich das Nationalstaatskonzept als „unislamisch“ verwirft – sei dessen sozusagen a-nationaler, internationalistischer Charakter, betonte Marine Le Pen. Auch Mohamed Merah sei sozusagen ein vaterlandsloser Geselle gewesen, da er, so Marine Le Pen wörtlich, „sich zuerst als Moslem und nicht zuerst als Franzose fühlte“. Die Nation sei dagegen eine Schutz- und Schicksalsgemeinschaft, die auch jene anständigen Muslime einbeziehe, die dies wünschten.

Am Sonntag, den 25. März verschärfte Marine Le Pen allerdings ihre Gangart und agitierte auf einer Veranstaltung in einem Zelt in der Nähe von Nantes vor 1.500 Menschen: „Wie viele Mohammed Merahs befinden sich in den Booten, in den Flugzeugen, die jeden Tag voll mit Zuwanderern in Frankreich ankommen?“

Dem widersprach zunächst sogar Nicolas Sarkozy, der in den Wochen vor den Morden von Toulouse noch zum Teil versucht hatte, ihren Front National rhetorisch von rechts zu überholen: „Es ist unsinnig, einen Gleichheitsstrich zwischen Mohamed Merah und Einwanderung zu setzen.“ Allerdings existiert dabei ein großes Aber – auch Sarkozy selbst schlug nämlich 48 Stunden später, bei einer Veranstaltung in Nantes (in derselben westfranzösischen Region wie Marine Le Pen am Sonntag), in dieselbe Kerbe und appellierte explizit ans Ressentiment: „Wie sollen wir integrieren, wie sollen wir assimilieren, wenn eine unkontrollierte Flutwelle an Zuwanderung ohne Ende alle Anstrengungen der Republik zunichte macht? (…) Das für Einwanderung wie ein Sieb offene Europa – das ist vorbei!“ ((Vgl. http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2012/article/2012/03/28/a-nantes-nicolas-sarkozy-redonne-un-coup-de-barre-a-droite_1676637_1471069.html ))  Am Mittwoch Abend in der Nähe von Versailles wiederholte Nicolas Sarkozy scharfe Angriffe auf das angebliche Phänomen einer, von ihm behaupteten, unkontrollierten Masseneinwanderung. ((vgl. http://www.liberation.fr/depeches/01012399048-violente-charge-de-sarkozy-contre-l-immigration-qui-menace-le-modele-social-francais))

Solcherlei Angriffe auf die Immigration, weil dieselbe „schuldig“ an den Verbrechen eines Mohamed Merah sei, ist manifester Unsinn. Umso unsinniger übrigens, als Merah in Frankreich geboren und französischer Staatsbürger war. Und bereits seine beiden Eltern waren ihrerseits auf französischem Boden geboren worden. Offenkundig ist der Amokläufer Mohamed Merah also, jedenfalls in wesentlichen Teilen, ein Produkt der französischen Gesellschaft.