Damals – heute

0
36

Vor wenigen Wochen führte ich ein Gespräch im Kreis jüdischer Freunde und Bekannter. Alle gehörten der sogenannten zweiten Generation an. Sie waren nach 1945 geboren und sind von Eltern erzogen worden, die ein Konzentrationslager, ein Getto oder im Versteck überlebten, danach in Deutschland blieben oder später nach Deutschland kamen. Gesprochen wurde über Empfindungen und Wahrnehmungen im deutschen Herbst des Jahres 1992…

Von Peter Finkelgruen (1993)

Die Wahrnehmungen glichen sich alle und betrafen im wesentlichen »Vorfälle«, die von anderen deutschen Menschen ignoriert, von zuständigen Behörden dieses Landes nicht aufgegriffen, die in den Medien nicht vermeldet wurden.

Alle an diesem Gespräch Teilnehmenden hatten zumindest mit dem Gedanken gespielt, Deutschland zu verlassen. Das Gespräch ging hin und her. Man erfuhr mehr voneinander als in der mehr oder weniger kurzen oder langen Zeit, in der man sich zuvor gekannt hatte: Vom Gesundheitszustand der jeweils noch lebenden Eltern oder Elternteile, der Sozialisierung eigener Kinder, soweit vorhanden, ihrem Bildungsweg und dem Stand der psychischen Entwicklung; über die jeweilige Situation mit Partnern, verheirateten oder unverheirateten, jüdischen oder nichtjüdischen; über die eigene berufliche Situation oder die der Partner; die finanzielle Lage, die eigene, die der Eltern oder der Partner – und natürlich die Abhängigkeit der Kinder; die gesundheitliche Situation der Teilnehmer konnten die in dieser Runde Versammelten voneinander ebenso erfahren wie möglicherweise belanglosere Details verschiedener Abhängigkeiten.

All diese Dinge wurden nacheinander aufgeführt, um zu erklären und zu begründen, warum man auf jeden Fall Deutschland jetzt verlassen werde; warum man es nicht verlassen werde; warum man es später verlassen werde; warum man dieses oder jenes noch abwickeln müsse, abwarten werde, wie die Dinge sich entwickeln – die Zahl und Intensität der »Vorfälle«, die Veränderung der Atmosphäre, aber auch die innere Befindlichkeit, die individuelle Situation.

Die Frage, wohin man gehen könne oder solle, wurde ebenso konjunktivisch diskutiert: Amerika, Israel, oder »ganz woanders hin«. Auch hier Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten. Dann die langsam dämmernde Erkenntnis, dass wir eine Diskussion führten, die unsere Eltern und Großeltern bereits geführt hatten. Dass wir vermutlich ähnliche Überlegungen anstellten. Dass wir versuchten, unsere Wahrnehmungen der Umwelt mit der jeweiligen individuellen Situation in ein denkbares Handlungsmuster umzusetzen. Schockiert und gleichzeitig wütend, aber auch ratlos, ging die Runde auseinander.

Wenige Tage später erschien der erste Offene Brief von Ralph Giordano an den Deutschen Bundeskanzler. Eine kleine Genugtuung, denn hier wurde auch unserem wütenden Gefühl des »Nie Wieder« Ausdruck verliehen.

Nie wieder wollen wir uns in der Situation wiederfinden, in der unsere Vorfahren waren. Wir wollen nicht die gleichen Überlegungen anstellen müssen, die sie angestellt haben. Und wenn andere eine Lage schaffen, in der dies geschieht, wollen wir wenigstens gescheiter, geschickter und wehrhafter sein. Und komme mir keiner damit, dass, was geschehen ist, sich nicht wieder ereignen wird oder kann. Was denn: Die Gaskammern oder die Ausbürgerung? Die Deportationen oder die Aussonderung? Kollektive Beleidigungen oder der drohende Unterton eines Kanzlers von kleinbürgerlicher Brutalität, dessen historisches Bewusstsein sich entweder in nekrophilen Verbeugungen in Bitburg oder Sanssouci oder in der Erinnerung an sein Geburtsjahr erschöpft? Wo genau liegt der Punkt, an dem Assoziationen gestattet werden? Versagt sich der nichtjüdische Teil der Deutschen diese Assoziationen?

Immer wiederkehrend die Frage, ob man Teil dieser Gesellschaft ist, und das historische Wissen, dass die Antwort keine einseitige sein kann. Die letzte Aussage, die diese Gesellschaft dazu machte, lautete, »Juden sind nicht Deutsche« und »Wir wollen keine Juden«. Das war 1933. Diese Aussage ist nie wirklich revidiert worden. Die geraubte Staatsbürgerschaft wurde nur einigen der Überlebenden »auf Antrag«, nein, nicht zurückgegeben, sondern neu verliehen. Manchen wurde sie verweigert. Die Vorstellung, in Deutschland könnte es wieder so viele Juden geben wie vor 1933, hat die deutsche Regierung sogar so geschreckt, dass mit dem Aufkommen von Glasnost in Bonn ministerielle Arbeitsstäbe ans Werk gesetzt wurden, um zu verhindern, dass noch mehr Juden aus Russland nach Deutschland kämen.

Als ich 1959 nach Deutschland kam, erlebte ich nach wenigen Monaten des Hierseins den Schock, der durch die an die Kölner Synagoge geschmierten antisemitischen Parolen ausgelöst wurde. Der Aufruhr und die Aufmerksamkeit, die damals, Weihnachten 1959, entstanden, wiederholten sich nicht wieder. Nur die Schmierereien, als Ankündigung weiterer Gewaltakte, wiederholten sich – und nahmen zu. Sie wurden zum Alltag. 1959 befand Bundeskanzler Konrad Adenauer es für richtig, umgehend im Fernsehen zu erscheinen und die »Vorfälle« zu verurteilen. Als 31 Jahre später Menschen in Deutschland verbrannt, erschlagen, deportiert oder schlicht verjagt wurden, weil sie Türken, Linke oder Zigeuner waren – oder weil man sie für Juden hielt, hielt Helmut Kohl es für richtig, sich zur gleichen Zeit in einem Brief an die Aufsichtsgremien einer Fernsehanstalt zu wenden, weil er und seine Familie sich wegen eines Fernsehspiels bedroht fühlten.

Jenen aber, die ihm ankündigten, sie würden »nie wieder« wehrlose Opfer sein, drohte er mit der vollen Härte der Gesetze. Welcher Gesetze denn ?

Vielleicht gar dem, das zur Bekämpfung »krimineller Vereinigungen« geschaffen wurde – damals, als Angehörige krimineller Vereinigungen, die nach Artikel 131 der bundesdeutschen Verfassung ihren Anspruch auf Beamtenplanstellen gesichert hatten, wieder ihre volle Macht entfalten konnten ? In der Politik, im Militär, in der Justiz, in Staatsschutz und Polizei.

Oder einfach dem Gesetz, mit dem die Ohrfeige der Beate Klarsfeld geahndet wurde?

Wieso haben wir jahrelang so wirkungsvoll geschwiegen ?

Weil wir dachten, es würde nicht schlimmer werden ?

Weil wir dachten, es ginge uns gut?

Es würde uns immer besser gehen ?

Weil wir dachten, wir könnten unsere Jedermann- und Jederfrau – Bedürfnisse in dieser Gesellschaft befriedigen?

Weil wir daran glaubten, die Alliierten, die »anderen« würden auf ewig dafür sorgen, dass der Golem nicht außer Kontrolle gerät?

Seit wann merken wir, dass diese Kontrolle nicht funktioniert? Seit deutsche Politiker und Generäle im Geist wieder neue Schlachten schlagen?

Seit deutsche Parteipolitiker Rassismus und Fremdenhass nur unter Gesichtspunkten der Opportunität – entweder im Hinblick auf die nächsten Wahlen oder die nächste Exportstatistik – beurteilen?

Seitdem wir merken, dass nicht nur die Berichterstattung über die »Vorfälle« aus den Schlagzeilen geraten ist; dass die Berichterstattung über den sich etablierenden Faschismus in Ungarn, der Slowakei und anderen Ländern in deutschen Medien nicht zur Kenntnis genommen wird; dass die Unglaubwürdigkeit deutscher Politiker sich hinter Sprachschöpfungen versteckt, die aus dem Wörterbuch des Unmenschen zu stammen scheinen ?

Eines steht fest: Seit der Antwort des Bundeskanzlers und seiner Knappen auf den Brief von Ralph Giordano, seit der Einknickpirouette der Sozialdemokraten in der Asylfrage wissen wir, woher die Gefahr droht, wer Freund und wer Feind ist.

Wir müssen gescheiter, geschickter und wehrhafter sein als damals.

Dieser Beitrag ist zuvor erschienen in dem Buch „Denk ich an Deutschland…“ Stimmen der Befremdung. Hg. Wolfgang Balk & Sebastian Kleinschmidt, Frankfurt/M. (Fischer TB), 1993, S. 52-55.