Jüdischer Staat: Dichters Gesetz

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„Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!“ riefen 250 000 Demonstranten am Samstag unisono in Tel Aviv. Aber was sie brauchen, ist „mehr arbeitslose Politiker“ – um einen amerikanischen Künstler zu zitieren…

„ha’Am doresch Zedek chewrati“

Glücklicherweise ist die Knesset für drei Monate in verlängerte Ferien gegangen. Denn wie Mark Twain witzelte: „Niemandes Leben und Besitz ist sicher, solange die Legislatur tagt.“  Als wollte er dies belegen, hat Knessetmitglied Avi Dichter noch am letzten Sitzungstag einen so haarsträubenden Gesetzesvorschlag eingereicht, dass dieser leicht die vielen anderen rassistischen Gesetze, die in letzter Zeit von dieser Knesset diskutiert wurden, übertrumpft.

Uri Avnery, 13.8.11

„DICHTER IST ein deutscher Name, und seine Bedeutung ist uns natürlich bekannt. Aber er ist kein Dichter. Er ist der frühere Chef der Nachrichtendienste, die hier unter „Sicherheitsdienst“ (Shin Bet oder Shabak) firmieren.  Stolz verkündete er, dass er anderthalb Jahre gebraucht habe, um dieses besondere Projekt zu „feilen“ und dies zu einem juristischen Meisterwerk zu machen.

Und es ist ein Meisterstück. Nicht mal im gegenwärtigen Iran hat man ein glanzvolleres Stück produziert. Die anderen Knessetmitglieder schienen genau so zu empfinden – nicht weniger als 20 der 28 Kadima-Fraktion wie auch alle anderen durch und durch rassistischen Mitglieder dieser illustren Körperschaft haben ihren Namen unter diese Gesetzesvorlage als Koautoren gesetzt.

Der eigentliche Name –„Das Grundgesetz: Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ – zeigt, dass dieser Dichter weder ein Poet noch ein Intellektueller ist. Unter Geheimpolizeichefs ist das ja sehr selten.

Den Begriffen „Nation“ und „Volk“ liegen zwei verschiedene Vorstellungen zu Grunde. Es wird gewöhnlich akzeptiert, dass ein Volk eine ethnische Entität ist, eine Nation eine politische Gemeinschaft. Sie existieren auf zwei verschiedenen Ebenen. Aber das ist hier egal.

Es ist der Inhalt der Gesetzvorlage, der zählt.

WAS DICHTER vorschlägt, ist, der offiziellen Definition von Israel als „einem jüdischen und demokratischen Staat“ ein Ende zu setzen. Stattdessen schlägt er vor, klare Prioritäten zu setzen: Israel ist vor allem der Nationalstaat des jüdischen Volkes und erst danach ein demokratischer Staat. Wo auch immer die Demokratie mit der Jüdischkeit des Staates kollidiert, siegt die Jüdischkeit und verliert die Demokratie.

Dies macht ihn übrigens zum ersten rechten Zionisten (außer Meir Kahane), der offen zugibt, dass es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen einem „jüdischen“ Staat und einem „demokratischen“ Staat gibt. Seit 1948 ist dies von allen zionistischen Fraktionen, ihrer Phalanx von Intellektuellen und dem Obersten Gericht, entrüstet geleugnet worden.

Die neue Definition bedeutet, dass der Staat Israel allen Juden in der Welt gehört – einschließlich den Senatoren in Washington, den Drogenhändlern in Mexiko, den Oligarchen in Moskau und den Casinobesitzern in Macao, aber nicht den arabischen Bürgern Israels, die seit mindestens 1300 Jahren hier gewesen sind, als die Muslime Jerusalem betraten. Die christlichen Araber verfolgen ihre Herkunft zurück bis zur Kreuzigung Jesu vor 1980 Jahren, die Samaritaner waren seit 2500 Jahren hier und viele Dorfbewohner sind wahrscheinlich Nachkommen der Kanaaniter, die schon vor 5000 Jahren hier lebten.

All diese werden, sobald die Gesetzesvorlage zum Gesetz wird, Bürger zweiter Klasse werden, nicht nur in der Praxis wie jetzt, sondern auch nach der offiziellen Doktrin. Wenn ihre Rechte mit dem zusammenprallen, was die jüdische Mehrheit für die Erhaltung der Interessen des „Nationalstaates des jüdischen Volkes“ für notwendig erachtet – was alles einschließt von Landbesitz bis zu den strafrechtlichen Gesetzen – ihre Rechte werden ignoriert werden.

DIE GESETZESVORLAGE selbst lässt nicht viel Raum für Spekulationen. Sie spricht die Dinge klar und deutlich aus.

Die arabische Sprache wird ihren Status als zweite offizielle Sprache verlieren – einen Status, den sie im Ottomanischen Reich, auch unter britischem Mandat und in Israel bis heute besaß. Die einzige offizielle Sprache im Nationalstaat etc. wird Hebräisch sein. Nicht weniger typisch ist der Paragraph, der besagt, dass wann immer es im israelischen Gesetz eine Lücke gibt, das jüdische Gesetz angewandt werde.

„Das jüdische Gesetz“ ist der Talmud und die Halacha, das jüdische Äquivalent zur muslimischen Sharia. Praktisch bedeutet dies, dass rechtliche Normen, die vor 1500 Jahren oder länger angenommen wurden, über die rechtlichen Normen triumphieren, die sich während der letzten Jahrhunderte in England und anderen europäischen Ländern entwickelten. Ähnliche Klauseln gibt es in den Gesetzen von Pakistan und Ägypten. Die Ähnlichkeit zwischen jüdischem und islamischem Gesetz ist nicht zufällig. Arabisch sprechende jüdische Weise wie Moses Maimonides („der Rambam“) und ihre zeitgenössischen muslimischen Rechtsexperten beeinflussten einander.

Die Halacha und die Sharia haben viel gemeinsam. Sie verbieten Schweinefleisch, praktizieren die Beschneidung, halten Frauen in Knechtschaft, verurteilen Homosexuelle und Ehebrecher zum Tode und verweigern den Ungläubigen die Gleichheit. (Praktisch haben beide Religionen viele ihrer harten Strafen modifiziert. In der jüdischen Religion z.B. bedeutet „Auge um Auge“ Kompensation. Sonst würden wir heute alle blind sein, wie Gandhi einmal treffend sagte.)

Nach Inkraftsetzung dieses Gesetzes wird Israel viel näher am Iran sein als an den USA. Die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ wird aufhören, eine Demokratie zu sein, aber in ihrem Wesen sehr nahe an einigen der schlimmsten Regime in dieser Region. „Schließlich und endlich wird sich Israel selbst in diese Region integrieren,“ spottete ein arabischer Schriftsteller, der auf einen Slogan anspielt, den ich vor 65 Jahren prägte: „Integration in die semitische Region“.

DIE MEISTEN Knessetmitglieder, die diese Gesetzesvorlage unterzeichneten, glauben inbrünstig an das „ganze Erez Israel“ und meinen damit die offizielle Annexion der Westbank und des Gazastreifens und Ost-Jerusalems. Sie meinen nicht die „Einstaatenlösung“, von der so viele wohlmeinende Idealisten träumen.

Praktisch ist der einzige „eine Staat“ der machbar wäre, derjenige, der von Dichters Gesetz regiert wird: der „Nationialstaat des jüdischen Volkes“ mit den Arabern, die zu den biblischen „Holzfällern und Wasserträgern“ degradiert werden.

Sicher werden die Araber in diesem Staat die Mehrheit darstellen – aber wen kümmert’s? Da die Jüdischkeit des Staates die Demokratie außer Kraft setzt, wird ihre Anzahl irrelevant sein. Genau wie die Anzahl der Schwarzen in der Apartheid Südafrika.

WERFEN WIR einen Blick auf die Partei, zu der dieser „Poet“ des Rassismus gehört: Kadima.

Als ich in der Armee war, amüsierte ich mich immer über den Befehl : „Die Truppe wird sich nach hinten bewegen – vorwärts marsch!“ Dies mag absurd klingen, aber es ist wirklich logisch. Der erste Teil des Befehls bezieht sich auf die Richtung und der zweite Teil auf die Ausführung. „Kadima“ bedeutet „vorwärts“, aber seine Richtung ist rückwärts gewandt.

Dichter ist ein prominentes Mitglied der Führungsmannschaft bei Kadima. Aber es haben sich ihm in diesem Projekt mehr als 80% der Kadima-Knesset-Fraktion – der größten im gegenwärtigen Parlament – angeschlossen.

Was sagt das über Kadima?

Kadima ist ein trostloser Fehlschlag – praktisch in jeder Hinsicht. Als Oppositionsfraktion im Parlament ist sie tatsächlich ein trauriger Witz. Ich wage zu sagen: als ich eine Ein-Mann-Fraktion in der Knesset war, produzierte ich mehr Oppositionsaktivitäten als dieser 28köpfige Koloss. Sie hat noch keinen bedeutenden Standpunkt über Frieden und die Besatzung formuliert, geschweige denn über soziale Gerechtigkeit.

Die Vorsitzende Zipi Livni hat sich auch als Fehlbesetzung erwiesen. Ihre einzige Leistung bis jetzt ist ihre Fähigkeit gewesen, die Partei zusammenzuhalten – allerdings keine geringe Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass sie aus Flüchtlingen aus anderen Parteien besteht (einige im Likud würden Verräter sagen), die ihren Karren an Ariel Sharons rasende Pferde anhängten, als er den Likud verließ. Die meisten Kadima-Führer verließen den Likud mit ihm, und wie Livni selbst, stecken sie tief in der Likud-Ideologie. Einige andere kamen von der Labor-Partei und folgten Arm in Arm dem politisch sehr flexiblen Shimon Peres.

Diese zufällige Sammlung frustrierter Politiker hat mehrmals versucht, Benjamin Netanyahus Flanke zu überholen. Ihre Mitglieder haben fast alle rassistischen Gesetzesentwürfe während der letzten Monate unterzeichnet, einschließlich des berüchtigten „Boykott-Gesetzes“. (Als die öffentliche Meinung rebellierte, zogen sie ihre Unterschrift zurück, und einige stimmten sogar dagegen.)

Wie ist diese Partei zur größten in der Knesset geworden – mit einem Sitz mehr als der Likud. Für linke Wähler, die von Ehud Baraks Labor-Partei angeekelt waren und die winzige Meretz ignorierten, schien es die einzige Chance zu sein, Netanyahu und Lieberman zu stoppen. Aber das mag sich bald ändern.

DIE RIESIGE Protest-Demonstration vom letzten Samstag war die größte in Israels Geschichte (einschließlich der legendären 400 000-Demo nach dem Sabra- und Shatila-Massaker, deren wirkliche Zahl wohl etwas weniger war). Es mag der Beginn einer neuen Ära sein.

Es ist unmöglich, die reine Energie, die von dieser Menge ausging, zu beschreiben, die vor allem aus 20 bis30-Jährigen bestand. Wie das Flügelschlagen eines riesigen Adlers über uns konnte man die Geschichte spüren. Es war eine jubelnde Masse, die sich ihrer Macht bewusst war.

Die Demonstranten waren eifrig dabei, „Politik“ zu meiden – was mich an Perikles’ Worte von vor 2500 Jahren erinnerte, dass „gerade weil du kein Interesse an Politik hast, dies nicht bedeutet, dass die Politik kein Interesse an dir hat.“

Die Demonstration war natürlich hoch politisch – direkt gegen Netanyahu, die Regierung und die ganze unsoziale Ordnung gerichtet. Während ich in der dichten Menge ging, schaute ich mich um, um nach Kippa-tragenden Demonstranten zu schauen und fand keinen einzigen. Der ganze religiöse Sektor, der rechte Flügel, der die Gruppe der Siedler und Dichters Gesetz unterstützt, war offenkundig abwesend, während der orientalisch-jüdische Sektor, die traditionelle Basis des Likud, reichlich vertreten war.
Der Massenprotest verändert die Agenda Israels. Ich hoffe, dass die Folge davon das Auftauchen einer neuen Partei sein wird, die die Zusammensetzung der Knesset so verändern wird, dass man sie nicht wiedererkennt. Selbst ein neuer Krieg oder eine andere „Sicherheitsmaßnahme“ kann dies nicht verhindern.

Es wird sicher das Ende von Kadima sein, und wenige werden ihr nachtrauern. Es würde auch bye-bye für Dichter bedeuten, den Geheimpolizei-Poeten.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs

4 Kommentare

  1. Wie das Flügelschlagen eines riesigen Adlers über uns konnte man die Geschichte spüren.
     
    – Auch wie Mijnheer Samweis stolpere ich etwas über diese Formulierung Avneris.
    An welchen Adler erinnert er nun mit dieser Metapher, wenn es sich denn überhaupt um eine solche handelt? Den römischen Adler, den des HRR, des Adlers Saladins, des zaristischen Adlers oder des Reichsadlers der bösen 13 Jahre? Alle genannten hatten im Lauf der Geschichte irgendwann ihre Fänge im Fleisch des jüdischen Volkes, was BZ in seinem dritten Absatz zumindest andeutet. 

    Grundsätzlich gebe ich natürlich meinem Vorredner Recht, dass Avneris Artikel etwas äh… schrill ist, auch wenn ich selbst diese Formulierung selbst nie benutzen würde. Ich bitte zu bedenken, dass Avneris Frau, die laut dessen Aussage seine Veröffentlichungen immer gegen gelesen hat, seit diesem Jahr in einer besseren Welt weilt.

    Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.

  2. Während ich in der dichten Menge ging, schaute ich mich um, um nach Kippa-tragenden Demonstranten zu schauen und fand keinen einzigen

    Uri ich hatte dich eigentlich für Fairer gehalten und bin erstaunt, denn ganz oben steht das die Demonstration in 1. Tel Aviv war und 2. am Shabbat.

    Am Shabbat sitzen die die ein Kippa tragen in der Synagoge und mal ganz ehrlich wieviel Religiöse gibt es in Tel Aviv.

    Der Massenprotest verändert die Agenda Israels. Ich hoffe, dass die Folge davon das Auftauchen einer neuen Partei sein wird, die die Zusammensetzung der Knesset so verändern wird, dass man sie nicht wiedererkennt.“

    Demokratie bedeutet den Wettstreit der Parteien um die gunst der Wähler.
    Da hilft es nicht im Nachgang zu jammern oder zu meckern sondern man sollte Kräfte sammeln und um die Gunst der Wähler kämpfen wenn man denn wirklich will.

  3. Israel ist vor allem der Nationalstaat des jüdischen Volkes und erst danach ein demokratischer Staat. Wo auch immer die Demokratie mit der Jüdischkeit des Staates kollidiert, siegt die Jüdischkeit und verliert die Demokratie.“

    Was war eigentlich die Motivation und der Grund von linken und sozialistischen Juden nach Palästina zu gehen wenn sie nicht Jüdisch sein wollen in Eretz Israel ?

    „Das jüdische Gesetz“ ist der Talmud und die Halacha, das jüdische Äquivalent zur muslimischen Sharia

    Oh das tut weh Uri sowenig wissen über die eigene Kultur und Religion.

    Praktisch bedeutet dies, dass rechtliche Normen, die vor 1500 Jahren oder länger angenommen wurden, über die rechtlichen Normen triumphieren, die sich während der letzten Jahrhunderte in England und anderen europäischen Ländern entwickelten

    Uri will die Gesetze und die rechtlichen Normen der Europäer ? Angefangen mit der Vertreibung aus Spanien über die Russischen Progrome bis hin zum dritten Reich mit 6000.000 Millionen ermordeten Juden ?
    Uri trauert den Goyischen Moralgesetzen und Normen nach die Krieg und Armut zulassen ?
    Uri trauert den Englischen Kolonialrecht nach und zieht es der Torah und dem Talmud vor ?

    Die Halacha und die Sharia haben viel gemeinsam ?

    Uri wenn man keine Ahnung hat dann Finger weg von solchen Themen.

    Die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ wird aufhören, eine Demokratie zu sein, aber in ihrem Wesen sehr nahe an einigen der schlimmsten Regime in dieser Region. „Schließlich und endlich wird sich Israel selbst in diese Region integrieren,“ spottete ein arabischer Schriftsteller, der auf einen Slogan anspielt, den ich vor 65 Jahren prägte: „Integration in die semitische Region“.

    Wenn das so ist dann gibt es endlich Frieden zwischen Arabern  und Juden.

    Fragt sich nur wo dann die Nicht Religiösen Juden leben wollen ?
    Vieleicht in deutschland die lieben ja die liberalen Juden so sehr.

  4. Naja, bei allem Respekt für diesen altgedienten, integeren und unabhängigen Zeitgenossen Uri Avnery: die Tonlage von einigem was er sagt, scheint mir hier an einigen Stellen arg  schrill zu sein. Z.B. ein Satz wie dieser „Die Halacha und die Sharia haben viel gemeinsam. Sie verbieten Schweinefleisch, praktizieren die Beschneidung, halten Frauen in Knechtschaft, verurteilen Homosexuelle und Ehebrecher zum Tode und verweigern den Ungläubigen die Gleichheit.“ — ob die Halacha im orthodoxen Sinne Frauen „in Knechtschaft“ hält, könnte man ja vielleicht diskutieren, aber sie verurteilt keine Homosexuellen und Ehebrecher zu Tode, das stimmt so nicht. Das Problem ist doch eher die Trennung von Staat und Religion.
    Auch ein paar andere Sätze sind ein bißchen schrill. Schade, weil es auch viele überaus richtige Sätze gibt und das Anliegen insgesamt wichtig und richtig ist- aber so, in dieser vielleicht etwas übertrieben provokativen Machart bewirkt so ein Text glaube ich weniger, als möglich wäre.  Ich verstehe durchaus, daß in Israel eine andere Form der öffentlichen Kommunikation herrscht als im sehr ängstlichen und auf Korrektheit bedachten Deutschland, und daß natürlich bestimmte Sachen vor Ort mit großer Leidenschaftlichkeit diskutiert werden – ohne daß Leidenschaft der Auseinandersetzung gleichbedeutend mit „extrem“ oder „extremistisch“ ist.
    „Das Flügelschlagen eines riesigen Adlers“ – nun denn. Es wäre schön, wenn sich etwas neues entwickelt in Israel.
     

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