Zwischen den Bedrängnissen (Bejn haMezarim)

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Parascha 389. Ansprache für Freitag, den 22. Juli 2011 (Mattot)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Im jüdischen Kalender gibt es einen Zyklus von vier Fasttagen, die an eine zweieinhalbtausend Jahre zurückliegende Katastrophe erinnern. Am 10. des Wintermonats Tewet im Jahr 588 vor der Zeitrechnung begann der babylonische König Nebukadnezzar mit der Belagerung Jerusalems. Im folgenden Jahr, am 17. des Sommermonats Tamus durchbrachen seine Truppen die Stadtmauer. Drei Wochen später, am 9. Aw, im August des Jahres 587 v., ließ Nebukadnezzar den salomonischen Tempel und die Stadt niederbrennen. Auf den Tag genau ereilte im Jahr 70 der Zeitrechnung das gleiche Schicksal den 2. Tempel von Jerusalem. Bis heute bilden deshalb die drei Wochen zwischen dem 17. Tamus und dem 9. Aw, die letzten Montagabend begonnen haben, eine Trauerperiode, die „Bejn HaMezarim“, „zwischen den Bedrängnissen“ genannt wird. Vom Anfang des Monats Aw, welcher übernächsten Sonntagabend beginnt, bis zum 9. Aw gelten verschärfte Trauer- und Fastenvorschriften.

In dieser Zeit versagen wir uns wie beim Verlust eines Familienmitglieds Festfreuden und Leckerbissen. Der 9. Aw bildet den Höhepunkt dieser Trauerperiode, es ist der jüdische „Volkstrauertag“ und er wird als strenger Fasttag begangen. Danach folgen sieben „Wochen des Trostes“ (Schiwa DeNechemta). Doch der Fastenzyklus endet erst am 3. des Herbstmonats Tischre mit dem „Fasten Gedaljas“. An diesem Tag wurde im Oktober des Jahres 587 v. der von Nebukadnezar eingesetzte Statthalter Gedalja ermordet. Damit ging der letzte Rest jüdischer Unabhängigkeit verloren; es begann das siebzigjährige babylonische Exil. Dieser über das ganze Synagogenjahr verteilte Fastenzyklus ruft jährlich das Trauma der Zerstörung und des Exils ins Gedächtnis. Diese Erinnerung wird aber auch sonst wach gehalten: so wiederholen wir täglich vor dem Tischgebet den Psalm 137: „An den Strömen Babels – dort saßen wir und weinten, da wir Zions Fall gedachten (…). Sollt’ ich deiner vergessen, Jerusalem, so vergesse meine rechte Hand! Kleben soll meine Zunge mir am Gaumen, so ich deiner nicht gedenke“ (1.5.6). Allerdings bildet der Tempel von Jerusalem in der Periode „zwischen den Bedrängnissen mehr als sonst den Mittelpunkt unserer religiösen Gedanken.

Jerusalem wird nach seinem jüdischen Eroberer gelegentlich auch „Davidstadt“ genannt (Ir David, IISam 5,7), ihre Bedeutung hat sie bis heute als Gottesstadt. Denn nach dem Propheten Nathan hat sich Gott Jerusalem zum festen Wohnsitz erkoren. Durch Nathan lässt er David ankündigen: „Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern legst, werde ich deinen leiblichen Sohn (d. i. Salomon) als deinen Nachfolger einsetzen (…). Er wird für meinen Namen ein Haus bauen, und ich werde seinem Königtum ewigen Bestand verleihen“ (IISam 7,12.13.16). Auf die Verheißung Nathans baut die Hoffnung von Juden wie Christen. Die Propheten rühmen Jerusalem bei aller religiösen Kritik als „Sitz Gottes“ (Kise H‘, Jer 3, 17, Sach 14,16-17) und als religiösen Höhe- und Mittelpunkt der Welt (Jes 2,2-3; 56,6-7). Doch dieser Jerusalemozentrismus hat der Stadt auch geschadet, weil sich ihre Bewohner in falscher Sicherheit wiegten. Umso mehr als der besondere Schutz Gottes für die Stadt einmal eine ganz unerwartete Bestätigung erfuhr.

Der mächtige assyrische König Sanherib, der die Weltstadt Ninive erbauen und die Weltstadt Babylon bis auf die Grundmauern zerstören ließ, war mit einem riesigen Heer vor den Toren Jerusalems erschienen, um seinen abtrünnigen judäischen Vasallen auf dem Davidsthron zu züchtigen. Der Prophet Jesaja, der sonst immer zur außenpolitischen Vorsicht riet, weissagte diesmal kategorisch: „in diese Stadt wird der König von Assyrien nicht eindringen“ (IIKön 19,33) – und so war es auch! Sanherib musste aus irgendeinem Grund unverrichteter Dinge abziehen (II Kön 19,35-7; Jes 37,36-38). Als nun hundert Jahre später der Bezwinger des assyrischen Weltreiches, Nebukadnezzar, wieder vor Jerusalem stand, glaubte man sich auf das alte Wunder und die Weissagung Jesajas verlassen zu können (Jer 21,2). König Zedekja, der untreue jüdische Vasall Nebukadnezzars auf dem Davidsthron, bat den Propheten Jeremia um Rat. Jeremia, der auch sonst vor dem blinden Vertrauen auf den Tempel des Herrn gewarnt hatte (7), riet eindringlich zur Kapitulation (8-10), andernfalls, so weissagte er, werde Jerusalem untergehen. Um seinen defätistischen Rat allen unmissverständlich vor Augen zu führen, legte er sich ein Joch auf dem Nacken (27). Optimistischere Propheten hielten dagegen, Gott werde das Joch des babylonischen Königs zerbrechen. Um das vor aller Augen zu demonstrieren, nahmen sie das Joch vom Nacken des Propheten und zerbrachen es. Leider behielt Jeremia Recht. Noch Josephus predigte den Gotteskriegern während der römischen Belagerung 70 n., dass sie sich nicht auf ein Wunder wie zur Zeit Sanheribs verlassen dürften (Bel. Jud. V, 9,4).

Warum ließ Gott seine Stadt fallen? Gewiss, es war wie in jeder Stadt viel Sünde in ihr und die Propheten zögerten nicht, sie mit Sodom und Gomorrha zu vergleichen (Jes 1, 9). Doch Jerusalem fiel nicht wegen Glaubensschwäche. Die Nachfolger Davids glaubten vielmehr fest an jene Nathansprophezeiung ewigen Königtums und zögerten keinen Augenblick Verträge zu brechen, wenn es ihrer Ansicht nach dem nationalen Interesse des Gottesvolkes diente (Ez 17, 12ff). Dreimal hatte Jerusalem sein Wort gegenüber Babel gebrochen, ehe es dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Dem Sittenverfall in der Außenpolitik entsprach der Sittenverfall im Inneren. Längst war das Gottesvolk nicht mehr jene Gesellschaft aus Freien und Gleichen, die Gott aus der Sklaverei geführt hatte, sondern eine unverbesserliche Sklavenhaltergesellschaft (Jer 34). Sie verließ sich auf den Sündenablass im Tempel und machte ihn, mit dem Wort des Propheten, zu einer „Räuberhöhle“ (Mearat Parzim, Jer 7, 11). Diese Gesellschaft war der festen Überzeugung, dass Gott das auserwählte Volk und das verheißene Land Israel trotzdem nicht fallen lassen werde. So kann man mit dem großen deutsch-jüdischen Rabbiner und Märtyrer, Joseph Carlebach, sagen: „Das Israel des Untergangs war von sich überzeugt“, es ist nicht wegen seines Unglaubens, sondern wegen seines Glaubens untergegangen.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr