Anmerkungen zum geschichtstheologischen Opportunismus bei Rudolf Graber

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„Das dritte Reich als Rettung des Abendlandes vor dem Chaos des Bolschewismus, asiatischer Barbarei“…

Von R.J. Werner

„Das sind die Grundlagen der sog. translatio, d.h. der Übertragung der heilsgeschichtlichen Berufung, die Israel verwirkt hatte und nun den Deutschen zuteil wurde: ausgewähltes Volk Gottes zu sein, civitas Dei, zur Heilighaltung der Ordnung, der Werte, zum Schutz und Förderung der Braut Christi, zur Befriedung des Erdkreises. […] Ich glaube, es liegt in dem Kampf gegen das Judentum die instinktive Abneigung des ganzen Deutschen Volkes, das sich unbewußt als das auserwählte Volk der neutestamentarischen Verheißung betrachtet und nun einmal mit Recht nicht verstehen kann, warum das verworfene Israel die Welt beherrschen soll, und nicht das Volk der Mitte.“
Rudolf Graber auf dem Donaugautag (Juni 1933) des Bund Neudeutschland (abgedruckt in: Werkblätter Heft 9/10, 1933/1934).

„Wie nur ganz wenige hat Bischof Rudolf in allen Wirrnissen der Zeit – zuerst gegen den Ungeist des Dritten Reichs und dann gegen den Falschgeist eines soziologisierten Christentums – standgehalten und uns das wahrhaft Heilende gerade dadurch gegeben, daß er ganz in der Mitte des Glaubens blieb und alles an der Mitte, am Kern des Evangeliums gemessen hat.“
Joseph Kardinal Ratzinger zu Grabers 60-sten Priesterjubiläum (3.8.1986)

Die Deutschen als „ausgewähltes Volk Gottes“ mit heilsgeschichtlicher Berufung im „Kampf gegen das Judentum“, hier spricht der „Ungeist des Dritten Reichs“ in unverhohlener Sprache. Kannte Joseph Ratzinger die offensichtlich judenfeindliche Deutschtums-Theologie seines Kollegen Graber nicht? Wenn Graber zu den ganz wenigen gehörte, die angeblich standgehalten haben, was mag dann der ganz große Rest im „Dritten Reich“ getan haben?

Kardinal Ratzinger ist mit der Bewertung, Rudolf Graber sei ein Nazi-Gegner, allerdings nicht allein, da auch andere Theologen und der jetzige Bischof Müller trotz einer eindeutigen, noch darzustellenden, Quellenlage, die Gegenteiliges anzeigt, ins gleiche Horn blasen. Soweit ich es überblicke, haben sich bislang vor allem solche Autoren mit Graber beschäftigt, die in einem Loyalitäts- oder Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen. Kirchenhistoriker, Archivar und Abteilungsleiter des bischöflichen Ordinariats, alles Personen, die ihrem Bischof bzw. seinen Nachfolgern untergeordnet waren, trugen zu einer geschönten Graber-Biographie bei. Da für Graber, wie bei den meisten (katholischen) Theologen, die im Nationalsozialismus lehrten, bislang keine monographische Studie vorliegt, die Licht in sein Leben und Werk gebracht hätte, soll im Folgenden sein bislang nicht bearbeitetes nationalsozialistisches Engagement dargestellt und zumindest der unzutreffende Ruf, er sei als Gegner des nationalsozialistischen Staates und seiner Ideologien einzuordnen, nachhaltig angekratzt werden.

Geschönter Lebenslauf

Sucht man nach den Ursprüngen der gängigen und, wie noch zu zeigen sein wird, irreführenden Einordnung Grabers als NS-Gegner, gerät bald der Offizialatsrat Emmeram Ritter ins Blickfeld. Der Bischöflich Geistliche Rat Ritter (geb. 1927) war unter Bischof Graber der Leiter der Abteilung Selig- und Heiligsprechungsverfahren und dazu auserwählt, eine Bibliographie (über 1206 Nummern) ((Emmeram Ritter, Bibliographie Bischof Dr. theol. Dr. h.c. Rudolf Graber 1927 – 1983; veröffentlicht vom Institutum Marianum Regensburg e.V. als Ehrengabe zum 80. Geburtstag seines Gründers und Vorsitzenden, 1983.)) und einen 35-seitigen Nachruf ((Emmeram Ritter, Berufen und auserwählt zum Gedenken an Bischof Dr. theol. Dr. h.c. Rudolf Graber, 1992.)) für seinen 1992 verstorbenen Diözesanbischof zu verfassen, aus dem die nun folgenden biographischen Angaben größtenteils entnommen wurden.

Rudolf Graber wurde am 13. September 1903 in Bayreuth geboren, besuchte in Nürnberg, sein Vater diente dort als Gefängniswärter, das Neue Gymnasium und schloss sich noch als Schüler der Marianischen Congregation „Latina Maior“ an. Im Jahr 1922 trat er in das Priesterseminar Eichstätt ein, studierte an der dortigen bischöflichen Hochschule Philosophie, um danach das darauf folgende Theologiestudium als Alumne des Collegium Canisianum an der Universität Innsbruck zu absolvieren. Nach der Priesterweihe am 1.August 1926 wurde er für ein Weiterstudium in Rom beurlaubt, wo er im Frühjahr 1929 zum Doktor der Theologie promovierte.

Nach seiner Rückkehr unterrichtete er Religion und Latein an der Realschule in Neumarkt in der Oberpfalz und betätigte sich zugleich beim Bund Neudeutschland, einer katholischen Organisation für Schüler höherer Schulen, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. In der Zeit von Februar 1931 bis Dezember 1933 bekleidete er im Bund Neudeutschland die Führungsstelle des Geistlichen Leiters für den Donaugau, der aus den Bistümern Eichstätt, Regensburg und Passau bestand.

Aus der Neumarkter Zeit stammt auch der einzige und stets bemühte Beleg für „Grabers eindeutige Ablehnung des Nationalsozialismus“, als er am „Tag der Nationalen Einheit“ (21.3.1933) den staatlichen Feierlichkeiten seiner Schule fernblieb und dies in der örtlichen Neumarkter Zeitung tadelnd angemerkt wurde: „Herr Dr. Graber, ein Romschüler, fehlte!“ ((Emmeram Ritter, 1992, S. 11-12. Alle weiteren Zitate und Seitenangaben stammen aus diesem Werk.)) Gerade weil dieses Verhalten für Graber selbst offenbar folgenlos blieb, musste Emmeram Ritter in seinem Nachruf zusammenhangslos eine Gefährdung konstruieren und darauf hinweisen, dass einen Tag später „auf Veranlassung Heinrich Himmlers das Konzentrationslager Dachau mit all seinen Schrecken eröffnete“ wurde. Mit diesem folgenlosen Fernbleiben von einer Schulfeier hat sich Grabers Standhalten gegen den Ungeist des Dritten Reichs auch schon erschöpft, weiteres widerständisches Handeln oder dezidiert antinationalsozialistische Statements sind nicht überliefert.

Im September 1933 wird Graber vom Eichstätter Bischof Konrad von Preysing, „der aus seiner Abneigung gegen den Nationalsozialismus keinen Hehl machte“ (S.12), als Religionslehrer ans dortige Gymnasium und Lehrerseminar berufen. Dort sollte er – Ritter zufolge – dazu beitragen, Schüler, Priesteramtskandidaten und Theologiestudenten „vor der Beeinflussung durch NS-Organisationen zu bewahren bzw. sie zu immunisieren“. (S.12) Wieso sich gerade Rudolf Graber für diese ehrenwerte Aufgabe ausgezeichnet haben soll, bleibt unbenannt. Ebenso wenig kann Ritter für Graber beispielsweise Verbindungen zu den Kreisen um den Eichstätter Dompfarrer Kraus, der durch seine Kritik am NS-Regime überregional bekannt wurde, anführen.

Ein Jahr später (1.9.1934) trat Graber in die NSV (die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt war eine NSDAP-Unterorganisation) ((Ludwig Brandl, Die Bischöflich Philosophisch-Theologische Hochschule Eichstätt, in: Dominik Burkhard, Katholische Theologie im Nationalsozialismus, 2007, S. 582.)) ein, die nach dem Verbot der weit verbreitet agierenden Arbeiterwohlfahrt versuchte, die noch bestehenden Wohlfahrtsverbände, wie das Deutsche Rote Kreuz, die evangelische Diakonie oder die katholische Caritas, zurückzudrängen. Es ist davon auszugehen, dass Grabers Mitgliedschaft in der NSV auch als formale Zugangsberechtigung für die Reichsschriftumskammer, die im Herbst 1933 zur Bekämpfung und „Überwachung des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ ((Hilde Kammer, Nationalsozialismus, 1992, S. 170.)) eingerichtet wurde, diente.

Anfang des Jahres 1937 bekam Graber einen Lehrauftrag für Aszetik und Mystik am Eichstätter Priesterseminar, zwei Jahre später wurde er zum Domprediger berufen und 1941 zum außerordentlichen Professor für Kirchengeschichte, Fundamentaltheologie, Aszetik und Mystik an der Bischöflichen Hochschule ernannt. Aus dem Jahr 1940 (April – Oktober) sind mehrere, mit „Heil Hitler“ unterzeichnete Schreiben Grabers überliefert, mit denen er um eine Verlängerung der Mitgliedschaft in der Reichsschriftumskammer bat. ((Ludwig Brandl, 2007, S. 582.)) Das Ersuchen des Eichstätter Dozenten muss erfolgreich gewesen sein, da er im selben Jahr fünf eigene Werke bzw. im Zeitraum zwischen den Jahren 1935 und 1941 insgesamt zwölf Titel publizieren konnte, was in etwa dem Durchschnitt seiner Veröffentlichungen bei gewerblichen Verlagen für die Jahre 1962-1983 entspricht (ca. 1,7 p.a.). Da eine Bearbeitung der Publikationen, Vorlesungen und Predigten aus der Eichstätter Zeit noch weitestgehend aussteht, können darüber nur eingeschränkte Aussagen getroffen werden.

Nach der Zerschlagung des NS-Staates durfte die Bischöfliche Hochschule im Oktober 1945 mit Erlaubnis der Militärregierung wieder eröffnet werden. Graber musste kein Spruchkammerverfahren zur ‚Entnazifizierung‘ durchlaufen und Ende 1946 wurde er vom außerordentlichen Professor zum Ordinarius berufen. Diese Stelle besetzte er bis zu seiner Ernennung zum Regensburger Bischof durch Papst Johannes XXIII. am 28. März 1962. Als Diözesanbischof nahm er am Zweiten Vatikanischen Konzil teil, dessen weitreichende Aufbruchsstimmung er anfangs teilte, wenige Jahre später jedoch glaubte er darin, einen Plan Luzifers zur Zerstörung der Kirche zu erkennen. ((Rudolf Graber, Athanasius, 1973, S. 77. Lt. Graber ist „der Teufel in die Kirche eingebrochen“, Freimauerer und Atheisten und andere Geheimgesellschaften hätten sich demnach das II. Vatikanische Konzil herbeigewünscht. Zu dem „luziferischen Plan“ gehören laut Graber weiterhin, „der Humanismus der Renaissance“, „die Aufklärung“ und, wie nicht anders zu erwarten, „die Französische Revolution“. Er tritt in seiner aggressiv-abstrusen Streitschrift, Athanasius, als Wortführer der Verehrer des Antimodernisten-Papstes Pius X. und der konservativen Konzilsgegner um Lefebvre auf, ohne diesen zu nennen. Als Lefebvre im Oktober 1978 im Bistum Regensburg (Zaitzkofen) ein Priesterseminar der Piusbruderschaft eröffnete, bedauerte er, dass Graber, für den er „eine große Verehrung und Zuneigung“ empfände, sein Anliegen nicht unterstütze, sondern der Ablehnung der Piusbruderschaft als katholische Organisation durch den Vatikan, die im Jahr 1975 ausgesprochen wurde, folge.)) Im Jahr 1966 gründete er das Institutum Marianum e.V., das die wissenschaftliche Erforschung der Marienverehrung bzw. der Mariologie fördern soll und die Monatszeitschrift der Bote von Fatima herausgibt.

Im Sommer 1968, als sich die Aufbruchsstimmung des Konzils wieder gelegt hatte, verordnete Bischof Graber, dass der Laien-Orden „Militia Sanctae Mariae, gewöhnlich Orden der Ritter Unserer Lieben Frau genannt, in unserer Diözese anerkannt, in Empfang genommen und als genehmigt betrachtet wird mit all seinen Rechten und Privilegien.“ ((Siehe: http://www.militia-sanctae-mariae.de/html/regensburger_akte.html (Stand Mai 2011). Die Alte Kapelle in Regensburg wurde zur Kapitelkirche ernannt. Graber übernahm auch das Protektorat für das Deutsche Priorat.)) Der Orden war eine französische Modeerscheinung, wurde  in Chartres gegründet und sollte der Verteidigung der Kirche und zur Förderung der christlichen Ordnung dienen. Seinen Lebensabend verbrachte der emeritierte Bischof in Aufhausen, in der Nähe des „Marienheiligtum“, der Kirche Maria Schnee. Er verstarb am 31.1.1992.

Zur Abrundung noch eine Bemerkung zum Verfasser des Nachrufs, Emmeram Ritter, der im Jahr 1957 zum Priester geweiht wurde. Er übte viele Jahre die Funktion des geistlichen Schriftleiters der Monatszeitschrift Bote von Fatima aus (herausgegeben von Rudolf Graber von 1957-1962) und bekämpfte in unzähligen Bote-Artikeln u. a. den „Sexunterricht“ in staatlichen Schulen, die Unterordnung Bayerns unter Deutschland bzw. Europa, den Schwund der Marienverehrung und den Hochverrat bzw. die Folgen der Revolution von 1918, die zum Sturz der Wittelsbacher führte. Seinen Bericht zum 27.3.1990, als ihn „Seine Königliche Hoheit (S.H.K.) Herzog Albrecht von Bayern“ zu Tisch und Gespräch geladen hatte, schließt Ritter mit folgendem programmatischen Statement:

„Den Weg zu und mit Christus zeigt die Königin des Himmels und der Erde. Nicht ohne sie, nur mit ihr können die grundlegenden Probleme im eigenen Land gemeistert werden, damit Bayern, wie in der Vergangenheit schon oft, wieder zum Sauerteig der abendländischen Völkerfamilie werde und mitzuwirken vermag, damit das Europa der Zukunft vom Atlantik bis zum Ural vom Kreuz Christi und seiner Heilsbotschaft geprägt wird.“ ((Emmeram Ritter, Fest Patrona Bavariae als Krönung bayerischer Marienverehrung, in: Georg F.X. Schwager, Maria Schutzfrau Bayerns, 2002, S. 87.))

So weit zu Prälat Ritter, der seinem Statement zu Folge von einem bayerisch-antimodernistischen Sendungsgedanken erfasst ist. Eine erste historiographische Verdrehung und Beschönigung der NS-Zeit Grabers ist bei Ritter im Jahr 1981 zum ersten Mal greifbar, als er seinem Bischof „niemals falsche Nachgiebigkeit gegenüber gewissen Zeitströmungen“ attestierte. ((Emmeram Ritter, Verkündigung des Wortes Gottes, in: Paul Mai, Dienen in Liebe, 1981, S. 11. Ritter spiegelt darin auch die zeitgenössische Kritik an Graber wieder, wenn er von wiederholten, lügenhaften Angriffen mancher Massenmedien spricht, seinem Bischof jedoch die klare Gabe zuschreibt, zwischen „Wahrheit und Lüge“, „Recht und Unrecht“ unterscheiden zu können. (S.13)))Ritter hat die ihm folgenden Bewertungen Grabers stark beeinflusst, allerdings konnte er hierbei schon auf den damaligen Kirchenhistoriker Josef Staber zurückgreifen.

Gefällige Bewertungen des Wirken Grabers im „Dritten Reich“

Der im Jahr 1968 an die Regensburger Universität berufene Kirchenhistoriker Dr. Josef Staber (emeritiert 1979) beschönigte in seiner Kirchengeschichte des Bistums Regensburg  als erster Historiker die Tätigkeit seines Diözesanbischofes. Graber habe demnach im „Dritten Reich“ die oberpfälzer Gruppen des Bundes Neudeutschland  („in einem zuchtvollen christlichen Leben“) zusammen gehalten, was „damals den Tatbestand einer staatsfeindlichen Tätigkeit“ erfüllt habe. ((Josef Staber, Kirchengeschichte des Bistums Regensburg, 1966, S. 205.)) Einen Beleg für diesen „staatsfeindlichen“ Akt kann Staber, der 1936 zum Priester geweiht und bereits 1958 an die Philosophisch-Theologische Hochschule nach Regensburg berufen wurde, nicht angeben und somit überrascht es nicht, dass diese Mär vom NS-feindlichen Graber von anderen Autoren nicht weiter übernommen wurde.

Folgt man der Einschätzung des seinerzeitigen Münchener Erzbischofs, Joseph Ratzinger, zeichnet sich Grabers Werk unter anderem durch einen „starken geschichtstheologischen Akzent“ und eine „Offenheit für das Marianische“ bzw. für die „weitergehende Heilsgeschichte“ aus. Es sei getragen von einer Sorge um das ‚Abendländische‘, wie der Kardinal anlässlich dessen Rücktrittsgesuchs im Jahr 1980 betonte. Als langjähriger Professor der Regensburger Universität weiß Ratzinger, der dem Diözesanbischof Graber seinerzeit als Theologe lehramtlich untergeordnet war, zu berichten, wie sehr dessen „Initiativen unsere theologische Arbeit befruchtet und sich zugleich in das Konzept einer Universität eingefügt haben“. ((Joseph Ratzinger, Worte der Widmung – Lieber Bischof Rudolf, in: Johann Auer (Hg.), Gottesherrschaft – Weltherrschaft, 1980, S. 9.)) Hier bei ist anzumerken, dass Graber in jahrelangen Verhandlungen die Ausgestaltung der Theologischen Fakultät der Regensburger Universität (Eröffnung im Jahr 1967) entscheidend mitprägte. Schon ein Jahr nach der Uni-Gründung wurde unter seiner lehramtlichen Führung als Bischof anstelle des eigentlich geplanten Lehrstuhls für Judaistik ein zweiter für Dogmatik eingerichtet und dieser schon im Vorfeld Joseph Ratzinger angeboten. ((Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998, S. 153. Ratzinger betont darin den Wunsch, nach Regensburg zu gehen.)) Seit dieser Zeit ist Ratzinger Graber zu Dank und Gefälligkeit verpflichtet und im Jahr 1986, zu dessen 60. Priesterjubiläum, trug er als Präfekt der Glaubenskongregation (seit 25. November 1981) das bereits zitierte schmeichelhafte Statement vor, das die große Mehrheit der damaligen Christen implizit verurteilt. „Wie nur ganz wenige“ habe, nach Ratzingers sicherlich wohl gewählten Worten, „Bischof Rudolf in allen Wirrnissen der Zeit – zuerst gegen den Ungeist des Dritten Reichs und dann gegen den Falschgeist eines soziologisierten Christentums – standgehalten“. Dies sei dem Jubilar, so Ratzinger, Dank „seiner prophetischen Kraft der Unterscheidung der Geister, des Widerstands gegen den Falschgeist, gegen den Wind der Zeit, der sich als Hauch des Heiligen Geistes ausgibt und in Wahrheit Wind des Satans ist“, gelungen. ((Joseph Ratzinger, Festpredigt aus Anlass des 60jährigen Priesterjubiläums von Rudolf Graber, 3.8.1986, S. 2-3. Es bleibt unklar, ob Ratzinger hier auf Grabers Ideen vom Plan Luzifers auf dem Vaticanum bzw. auf den satanischen Hass und die Gaskammern in Auschwitz anspielt (siehe Unterpunkt: Woche der Brüderlichkeit)))

Aufgrund weiterer Verbindlichkeiten beteiligte sich gerade Kardinal Ratzinger darüber hinaus und keinesfalls uneigennützig an der Schönfärberei des teilweise braunen Lebenslaufs von Rudolf Graber. Es geht hierbei um die Bischofsweihe, die Ratzinger in München (Mai 1977) auch vom Regensburger Bischof, als Mitkonsekrator, erhalten hat und seitdem mit Graber in sakramentaler Weise, über die Weihe, verbunden ist. Da dem bischöflichen Selbstverständnis nach der „Ungeist des Dritten Reichs“ in einer Bischofsweihe nichts zu suchen hat, bzw. nicht anwesend sein darf, wird er von Ratzinger verleugnet und entgegen seines Wahlspruchs, der „Mitarbeiter der Wahrheit“ lautet, wird ein Standhalten Grabers im „Dritten Reich“ dreist behauptet.

Der Leiter des Regensburger Bischöflichen Archivs, Paul Mai, bescheinigt Graber in seinem Nachruf ebenso eine antinationalsozialistische Einstellung. Dies geschieht in Anlehnung an den Bischöflich Geistlichen Rat Ritter und ohne Beleg und zwar nach der bereits zitierten Formel, Graber habe nach dem Ruf nach Eichstätt, die „Jugend gegen die schädlichen Einflüsse der Nazi-Propaganda“ immunisieren sollen. ((Paul Mai, In memoriam Prof. Dr. Dr. h. c. Rudolf Graber, in: Von VHVO Band 132 (1992), S. 256.))

Der Regensburger Kirchenhistoriker Karl Hausberger, ein Nachfolger Stabers, hält sich eher bedeckt und attestiert Bischof Graber, via der „Eichstätter Hochschule, die wie eine geistliche Zitadelle auch während der Kriegszeit“ ((Karl Hausberger, Bf. Graber, in: Erwin Gatz, Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder: 1945 – 2001, 2002, S. 457. In seinen anderen Werken wird Grabers Wirken um 1933 gar nicht thematisiert. Vgl. ders., Die Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. II, 1989, S. 248- 257; ders., Die Geschichte des Bistums Regensburg, 2004.)) bestanden habe bzw. Grabers erste akademische Wirkstätte war, einen vorbildlichen Leumund und betont vor allem sein Wirken auf und nach dem II. Vaticanum. Auffällig ist, dass der im Jahr 2010 emeritierte Hausberger die NS-Zeit Grabers nur andeutungsweise bespricht und es somit vermeidet, direkt Stellung zu beziehen. Hier wird Grabers Wirken um 1933 durch ein Nichtthematisieren ausgeblendet.

Der Eichstätter Diözesanhistoriker Ludwig Brandl konnte aufgrund der „bislang ausgewerteten Quellen“ bei Graber in Eichstätt keine NS-Affinität, nur „Konzessionen“ erkennen. ((Ludwig Brandl, 2007, S. 582.)) Brandl ist ein Kenner der Eichstätter NS-Geschichte, hat zum Dompfarrer Kraus promoviert, ((Ludwig Brandl, Widerspruch und Gehorsam – Der gerade Weg des Eichstätter Dompfarrers Johann Kraus im Dritten Reich, 1995.)) zur Geschichte der dortigen Philosophisch-Theologischen Hochschule im Nationalsozialismus gearbeitet und bezüglich Grabers Eichstätter Wirken im „Dritten Reich“ schlicht nicht alle Quellen ausgewertet, namentlich die eingangs zitierte „Ungeist“-Rede von 1933 einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Für den derzeitigen Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller war sein Vor-Vorgänger ein hellsichtiger und vorbildlicher Hirte, denn Dank Graber seien „in unserem Bistum viele Verfallserscheinungen nicht in dieser gravierenden Weise hervorgetreten.“ (Predigt zum 100jährigen Geburtstag 13.9.2003)

Weiter hebt der derzeitige Ortsbischof (in seiner Predigt zum 18. Todestag am 31.1.2010) eine Eigenschaft Grabers hervor, „die zu allen Zeiten, gerade aber auch in der Gegenwart aktuell“ sei „und besonders einen Hirten der Kirche und Nachfolger der Apostel auszeichnet: die Nichtverführbarkeit oder Unbestechlichkeit“. Als Jugendseelsorger, Domprediger und Theologieprofessor sei er „im weltanschaulichen Kampf um die Würde des Menschen in Gegensatz zum triumphierenden Nationalsozialismus“ geraten. Müller weiter zu seinem Vorgänger und dessen zweiter Wirkungsstätte in der Zeit von 1933-1945:

„Eichstätt, der Ort des akademischen Wirkens von Rudolf Graber, mit seinem mutigen Bischof Konrad Graf von Preysing, dem späteren Bischof und Kardinal in Berlin, war mit einem klaren katholischen Bekenntnis eine uneinnehmbare Bastion der Humanität für den Nationalsozialismus.“

 Ein katholischer Bischof wie Rudolf Graber könne, „nur die Wahrheit wählen, die zwar nicht den Ohren schmeichelt, die aber den Menschen frei macht vom Druck der Gleichschaltung des Denkens, von der Diktatur der Ideologie eines ‚Menschseins ohne Gott‘ und damit des Zweifels an der Vollendung des Menschen im Leben und in der Liebe Gottes.“

Rudolf Graber sei, so G. L. Müller weiter, Prophet und Vorbild, „weil er die gottfeindlichen und menschenverachtenden politischen und weltanschaulichen Ideologien seiner Zeit durchschaut“ habe. Ob sich Bischof Müller all der Implikationen der Verklärung Grabers zum Propheten und Vorbild bewusst ist und bedenkt, dass er gerade mit diesen Aussagen ein den Ohren schmeichelndes, quasi gleichgeschaltetes Denken reproduziert? Ein Bischof kann und braucht in einer Predigt keine Nachweise für die Richtigkeit seiner Aussagen liefern, überprüfbar und belegbar sollten sie allerdings schon sein. Ich werde auf die Gemeinsamkeiten der Bischöfe Müller und Graber noch zurück kommen.

Doch zunächst gilt es, die Zeitschrift der Neudeutschen, die Werkblätter, in der Graber den o. g. Vortrag im Herbst 1933 publizieren konnte, und ihren zeitgenössischen Kontext in einer kurzen Skizze darzustellen.

Der „Bund Neudeutschland“

Der Bund Neudeutschland (ND) wurde nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1919 zur Erneuerung des Katholizismus als Verband zur außerschulisch-kirchlichen Betreuung männlicher katholischer Schüler an höheren Lehranstalten gegründet. In Anlehnung an die damaligen Ideen der (bündischen) Jugendbewegung gestaltete man u.a. auch gemeinsame Heimabende, Fahrten und Lager. Die Mitglieder des Bundes verpflichteten sich allerdings „zu einer an Jesus Christus orientierten Lebensgestaltung und zur Verantwortung für ihre schulische Umwelt“.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bot das Reichskonkordat (20.7.1933) den katholischen Organisationen nur vorübergehend Schutz, die katholischen Jugendverbände wurden von der Hitler-Jugend bedrängt und ein öffentliches Auftreten des ND wurde schon ab 1934 verboten. Die Zahl der Mitglieder, im Jahr 1933 betrug sie etwa 21.000, nahm daraufhin stetig ab und am 27.6. 1939 erfolgte die Auflösung durch das Reichsinnenministerium. ((Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich die Katholische Studierende Jugend (KSJ) aus dem ND.))

Neben dem Verband für Schüler gab es im ND auch einen für Studenten und Dozenten, den Älterenbund (Äbu). Die Mitgliederzahl für den Bund der Älteren Neudeutschen betrug im Jahr 1933 etwa 2000 und seine Existenz war mit der bald einsetzenden antikirchlichen Politik nach dem März 1933 ungesichert, erst der Schutz durch das Reichkonkordat brachte eine gewisse, jedoch vorübergehende Sicherheit.

So weit die Auszüge aus Selbstdarstellungen des Bund Neudeutschland, ((Siehe Homepage des ND: http://www.kath.de/nd/hist/eilers.htm (Stand Mai 2011).)) in denen, ähnlich unkritisch wie bei den Arbeiten zu Rudolf Graber, hauptsächlich die angebliche Gegnerschaft zum NS-Staat bzw. die Verfolgung durch diesen betont wird. ((Für Ostbayern und seinem Geistlichen Gauleiter Graber vgl. Hans Fleischmann, Der Bund Neudeutschland in Ostbayern während der NS-Zeit. Ein Bericht, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Band 21, 1987, S. 487-552.)) Folgt man jedoch neueren kritischen Detailstudien ergibt sich ein anderes Bild. Der katholische Bund Neudeutschland habe, so der Politologe Clemens Heni, „den Nationalsozialismus bejaht und aktiv unterstützt.“ Antiliberalismus und Antisemitismus seien „zentrale Bestandteile neudeutscher Ideologie. Bis in die jüngste Vergangenheit konnten Neudeutsche ihre Geschichte selbst schreiben und Apologien verfassen ohne substantiell gerügt zu werden.“ ((Clemens Heni, Antisemitismus und Deutschland, 2009, S. 177.)) Diese Einschätzung trifft ebenso auf die Neudeutschland-Aktivitäten Grabers zu.

Der Theologe Graber prägte als führendes Mitglied den Äbu maßgeblich mit. In der Zeit von 1932 bis September 1933 hatte er als Geistlicher Bundesleiter eine exponierte Führungsstelle  inne ((Siehe Werkblätter Herbst 1935, S. 294 und Ritter, 1992, S.11. Zum 23.9.1933 übernahm Adalbert O.S.B. (Abtei Neuburg) die Stelle des Geistlichen Bundesleiters. Siehe Werkblätter 7/8, 1933, S. 157.)) (S. 294), er schrieb seinerzeit neben programmatischen Erklärungen und Buchbesprechungen auch den oben genannten Vortrag, der in der eigenen Zeitschrift, den Werkblättern, publiziert wurde. Herausgegeben wurden diese vom Älterenbund (Äbu) unter wechselnder Schriftleitung. ((Ebd., S.160.)) Es gab mehrere Umgestaltungen und Veränderungen in Struktur und Führung der Werkblätter, bis sie im Mai 1939 durch die Reichspressekammer (durch den Entzug des Verlagsrechts) eingestellt wurden. Eine umfassende Analyse der Zeitschrift des Äbu kann hier nicht geleistet, sondern nur die Entwicklung bis zum Rückzug Grabers (Ende September 1993) skizziert werden.

Beschäftigten sich die Autoren der ersten Werkblätter mit eher religiös-deutschnationalen Themen, wie Die Auslandsdeutschen und Wir (Februar 1932), Unser Glauben; Christlicher Pazifismus und Kriegsethik; Deutscher Geist in Gefahr (Juni 1932), oder mit Leitgedanken zur religiösen Weiterbildung im Bund (R. Graber im Dez. 1932, S.143) kreisten die Aufsätze im ersten Heft 1933 eher uns Staatliche, wie etwa Die Frage nach dem ‚Christlichen Staat‘, oder Mythos und Tradition und Zur Ablösung des Kapitalismus.

Nachdem die NSDAP die Reichsparteitagswahlen vom 5. März 1933 als stärkste Kraft gewann, mit der DNVP die Regierung stellte und in der Folge Hitler ab dem 23.3.1933 mit den Stimmen des Zentrums per „Ermächtigungsgesetz“ ohne Mitwirkung des Parlaments Gesetze erlassen konnte, stand bei den Neudeutschen eine Entscheidung an, worüber eine Beilage in den Werkblättern Auskunft gibt.

In der Grundsatzerklärung Die politische Haltung von „Neudeutschland Älterenbund“ im neuen Staat, unterzeichnet vom Bundesleiter Hans Hien am 1.5.1933, heißt es, „daß wir zum neuen Staat Ja sagen wollen! [Herv. i. O.]“ ((Vgl. Vierseitige Beilage in Werkblätter Nr.1/2, April/Mai 1933, Ohne Seitenangaben.))

Die Entscheidung sei „auf gereifter Überzeugung“ gefallen, aber nicht bedingungslos, zumal verschiedene Gefahren und Fehlentwicklungen drohen könnten, wie z.B.: „ein vielfach geübter Macchiavellismus“, oder „eine gefährliche militärische Verzerrung der Staatskonzeption durch die Kriegsgeneration“ und vor allem aber durch

„die Verabsolutierung der Nation im ‚totalen Staat‘, damit auch der drohende Rückfall in die geistig seit dem Eintritt des Christentums in die Menschheitsgeschichte überwundene Staatsomnipotenz, die letztlich die Würde und Freiheit der Persönlichkeit bedroht.“

Es gelte zu verhindern, dass die

„weitere Entwicklung in dem noch so ungeklärten Nationalsozialismus unter Umständen so sehr in die Irre gehen kann, daß es einem Katholiken einfach unmöglich wird, mitzuarbeiten. So weit sind wir aber nach den eindeutigen Erklärungen der Bischöfe nicht.“

Die Katholiken dürften ihre Wertordnung nie und nimmer preisgeben, zumal gerade im deutschen Volke „die ‚ganzen Christen‘ in der Minderheit sind.“ Eine Mitgliedschaft in der NSDAP käme – „von äußeren Zwangslagen abgesehen“ – für einen Neudeutschen, trotz der Freigabe durch die Bischöfe, nur in Frage, „wenn er reale Möglichkeiten sieht, in dieser Partei an seiner Stelle konkret im Sinne der Neudeutschen Idee fruchtbar und aktiv zu arbeiten.“

Die Entscheidung ist also sehenden Auges gefallen, die Erklärung von herausragender Klarheit, jedoch unter Verkennung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten geschrieben. Hans Hien beendete sie bezeichnender Weise mit einer Anrufung des Schutzherren der Deutschen, dem siegreichen Erzengels Michael:

„Oh unbesiegter Gottesheld, Sankt Michael, komm uns zu Hilf, zieh mit ins Feld!“.

Im Heft vom April/Mai 1933 handelten die Aufsätze von Reich und Nation oder von Das Reich als unsere Aufgabe. In der Ausgabe von Juni/Juli 1933 kann man dann neben Titeln wie Das Leben im Geiste oder Der Laie und die Kirchliche Autorität konkrete Arbeiten Zur Theologie des Reichsgedanken lesen. Vom vormaligen Bundesleiter Hans Hien jedoch war keine Rede mehr, er wurde um diese Zeit unter dem Vorwurf „Hochverrat“ verhaftet, bis Ende 1933 in „Schutzhaft“ gehalten und später aus dem Staatsdienst entlassen.

Als Autoren treten 1935 auch Gestalten wie Karl Schmitt (Zur Unfruchtbarmachung (Sterilisation)) und Hanns Filbinger (Nationalsozialistisches Strafrecht) auf, die im weiteren Verlauf der NS-Herrschaft als Jurist bzw. zum Richter aufstiegen.

Am Ende der jeweiligen Ausgaben der Werkblätter gab es regelmäßig Mitteilung Aus der Familie der Neudeutschen, es wurden Briefe veröffentlich, Publikationen angekündigt oder besprochen. So wird z. B. im Sommer 1934 die Arbeit „unseres Bundesbruders Willi Grau (Straubing) über ‚Antisemitismus im späten Mittelalter‘ mit einem Geleitwort von Prof. K. A. v. Müller“ angekündigt und Anfang 1935 von Dr. Wilhelm Wühr besprochen. Der Arbeit Graus sei, so Wühr, anzumerken, „daß sie jenseits aller aktuellen Tageliteratur über die Judenfrage hier einen gründlichen Beitrag zur uralten und ewig gleichen Problematik der Rasse“ liefere. (( W. Wühr lehrte nach 1945 Geschichte an der Freisinger Hochschule und war wie Grau Schüler von K.A. v. Müller. Zu Grau („als staatlich bestallter Spiritus rector der Nazifizierung jüdischer Geschichte Berufsantisemit“) siehe Patricia Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung: Die Habilitation des Geschäftsführers der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau, an der Universität München, in: Hans-Michael Körner (Hg.), Beiträge zur Geschichte der LMU München, 2008, S. 209-264, hier S. 215. ))

Bis zum Sommer 1933 ist eine offene judenfeindliche Ausrichtung der Werkblätter nicht festzustellen, eine solche kam erst im Herbst desselben Jahres auf. Dem Geistlichen Reichsleiter Graber blieb es vorenthalten, als erster in den Werkblättern eine unverkennbar antisemitische Ideologie zu vertreten, indem er ‚Theologie‘ und nationalsozialistische Deutschtums-Ideologie zu einer Art judenfeindlicher Reichs-Theologie verschmilzt, die sich durch einen „starken geschichtstheologischen Akzent“ (Ratzinger) auszeichnet und nun dargestellt wird.

Rudolf Graber: Deutsche Sendung – Zur Idee und Geschichte des Sacrum Imperium

Den hier besprochenen Aufsatz Deutsche Sendung – Zu Idee und Geschichte des Sacrum Imperium trug Graber als Geistlicher Reichsleiter des Äbu bereits anlässlich der Reichstagung der Neudeutschen zu Pfingsten 1933 auf der Burg Kastl vor. ((Werkblätter, Oktober/November 1993, S. 207. Dort ist die Rede von der „Reichstagung auf Burg Kast[l]“. Die schriftliche Ausfertigung erfolgte offensichtlich später, da sich der Text auf eine „Führerrede“ vom 14.10.1933 bezieht (s. S. 242) bzw. bereits mit der neuen Wirkungsstätte Grabers, „Wasserzell (Eichstätt)“, unterzeichnet wurde.)) Der Abdruck in den Werkblättern wurde daraufhin in zwei Teilen vorgenommen, der erste erschien im Herbst 1933 und der zweite im darauf folgenden Heft von Dezember 1933/Januar 1934. ((Der Vortrag aus den Werkblätter wurde bereits erwähnt in: Bischöfliches Domkapitel Regensburg (Hg.), Verkünde das Wort – Predigten Ansprachen Vorträge, 1968, S. 286. Ohne weitere Bemerkung nennt Ritter (1983) den Text in seiner Graber-Biographie.))

Im Heft vom Oktober/November 1933 beginnt der neue Bundesführer (Paul Meffert) mit einer freudigen Nachricht: die Zeit der Unsicherheit des Bundes Neudeutschland sei vorbei, „der Älteren-Bund ist im Konkordat anerkannt und damit nach menschlichem Ermessen in seinem äußeren Bestand gesichert.“ Vom Schicksal des noch inhaftierten ehemaligen Bundesleiter Hien ist weiterhin keine Rede. Neben der „Vertiefung des religiösen Lebens eines jeden“ sei angesichts der aktuellen Situation vordringlich die „politische Schulung“ als Aufgabe gesetzt. „Die Besinnung auf die letzten Wurzeln des Volkstums, auf Blut und Boden, auf Rasse und Volk will nicht nachgesagt und nur bejaht, sie will erarbeitet und erlebt sein.“ ((Werkblätter Oktober/November 1993, S. 159.))

Lässt man die spekulativen und mystischen Anteile aus dem darauf folgenden Vortrag Grabers weg und versucht einen sachlichen Strang zu extrahieren, ergibt sich folgendes Bild: der Autor geht anhand theologisch exegetischer, dogmatisch-spekulativer, philosophischer und historischer Überlegungen davon aus, dass das deutsche Volk auserwählt ist, das seit 1806 ruhende, aber nicht tote Heilige Reich Deutscher Nation zu seiner heilsgeschichtlichen Vollendung zu führen. Das Deutsche Reich sei kein imperialistischer Staat wie England, es sei mehr als ein Nationalstaat, „der ein gewisses durch Blut Rasse und Geschichte geformtes Volkstum in sich zusammenschließt“. ((Ebd., S. 171. Die folgenden Zitate und Seitenangaben stammen aus dieser Ausgabe.))

„Der Nur-Staat ist säkular, das Reich ist sakramental, und so kann diese Reichsidee nur geahnt werden von einem gläubigen Gemüt; und weil diese Idee so unendlich religiös ist, darum entflieht sie der Sphäre verstandesmäßiger, historischer Deutung, und gehört letztendlich zugeordnet den Kräften von Glaube, Hoffnung und Liebe. Weimar war eine mathematische, gedankliche Konstruktion, an die wir nicht glaubten, die wir nicht liebten und die in uns keine Sehnsucht weckte.“ (S. 176)

Das hl. Reich sei zwar noch nicht da – dies zu behaupten sei blasphemisch – aber in der Ferne sichtbar.

„Es ist gleichsam der Gral, an dem einstmals erglühend wieder der Name seines Hüters und Königs strahlend erscheinen wird. Wessen Name??? Dein Name: Deutsches Volk!?!“ (S. 176)

Im darauf folgenden Heft posaunt Schriftleiter Max Müller eingangs zum Geleit:

„Wer heute nicht innerlichst gepackt ist von dem Geschehen revolutionärer Neugestaltung deutschen nationalen und staatlichen Lebens […]: der ist kein Neudeutscher.“ ((Werkblätter Dezember 1993 / Januar 1934, S. 209.))

In dieser Ausgabe, die laut Schriftleiter wiederum einen „durch und durch national-politischen Charakter“ trage,  vertieft Graber im zweiten Teil des Vortrages „Deutsche Sendung“ seine Reichs-Theologie und spekuliert über die Frage warum „das Deutsche Volk Träger des Reiches“ wurde? ((Ebd. S. 232. Die folgenden Zitate und Seitenangaben stammen aus dieser Ausgabe.)) Es handle sich hier um kein historisches Anrecht auf das Sacrum Imperium, denn ‚Berufung‘ und ‚Sendung‘ sei immer eine Gnade, aber äußere und innere Gründe kämen für die Erwählung des Deutschen Volks in Betracht. Dieses sei als „Volk der Mitte“ für das Sacrum Imperium für den „Neuen Bund“ ausgewählt worden – ähnlich Israel, das seinerzeit für den Alten Bund auserkoren worden sei. Hinzu komme ein „biologischer Faktor“, denn die germanische Rasse sei „nicht angekränkelt von der sittlichen Fäulnis der ausgehenden Antike“ und habe eine „fast unheimliche Fruchtbarkeit an differenziertem Volkstumskräften in sich.“ (S. 234)

In einem Durcheinander von Andeutungen und Spekulationen, unter Verweisen und Bezügen auf den Nazi-Germanisten Josef Nagler, den berüchtigten NS-Hof-Theologen Karl Adam, der an einem katholisch-theologischen Brückenschlag zum nationalsozialistischen Ideologie arbeitete, ((Vgl. Denzler, 2003, S. 56-59.)) und anderen völkischen Traditionssträngen kommt Graber zu der eingangs zitierten Zwischenbilanz:

„Das sind die Grundlagen der sog. translatio, d.h. der Übertragung der heilsgeschichtlichen Berufung, die Israel verwirkt hatte und nun den Deutschen zuteil wurde: ausgewähltes Volk Gottes zu sein, civitas Dei, zur Heilighaltung der Ordnung, der Werte, zum Schutz und Förderung der Braut Christi, zur Befriedung des Erdkreises.“ ((Werkblätter Dezember 1993 / Januar 1934, S. 237. Die folgenden Zitate und Seitenangaben stammen aus dieser Ausgabe.))

Nach der rhetorischen Frage, „Hat das Deutsche Volk die Berufung zum Reich verloren?“, weil das ganze Abendland sich vom Christentum entfernt habe, wie der bereits angeführte NS-Theologe Karl Adam meint, bemüht Graber die theologische Begründung von der Auserwählung, um die deutsche Großmachtpolitik zu legitimieren. Auch im Zusammenhang mit den Folgen der Kriegsniederlage von 1918 kommt er auf das angeblich abgelöste Gottesvolk der hebräischen Bibel zu sprechen. Seiner völkischen Begründung zufolge, die nebenbei eine gewisse Differenz zur späteren staatlichen NS-Vernichtungspolitik markiert, lasse sich ein „Volk, das auf seiner Stirn einstmals das Zeichen der Auserwählung trug“ nicht ignorieren,

„ebensowenig, als man das jüdische Volk vernichten kann. Die Völker der Auserwählung sind wandelnde Zeugen eines ewigen göttlichen Ratschlusses. Sie gereichen den Völkers der Welt zum Segen oder zum Fluch; entweder leben sie oder sterben sie an ihnen. – Entweder stirbt die Welt am deutschen Wesen – und Deutschland hat der Welt in kantischer und hegelianischer Ideologie mehr als einen Selbstmordstahl geschliffen – oder ‚am deutschen Wesen wird die Welt genesen‘, aber in einem anderen, höheren Sinn als die protestantischen Pastoren und säbelrasselnden Leutnants meinen.“ (S. 239)

Die deutsche Vernichtungspolitik folgte jedoch schon wenige Jahre darauf weder einem göttlichen Ratschluss noch Grabers geschichtstheologischem Auserwählungsideologem, sondern plante im Zuge des angestrebten Zweiten Weltkriegs die weltweite Ausrottung der Juden.

Indem er auf die nationalsozialistische Gegenwart zu sprechen kommt, möchte Graber nicht den Anschein erwecken, er „würde alles bejahen, was im letzten halben Jahr in Deutschland geschehen ist.“ Es gehe ihm vielmehr darum, auf die Zeichen der Zeit und die großen Linien hinzuweisen. Der aktuelle Aufbruch des deutschen Volkes beginne schon mit der Ära Brünning,

„die als Übergang von der Weimarer Formaldemokratie zum faschistischen Staat angesehen werden kann, und zweitens beschränkt sich der Aufbruch nicht auf Deutschland sondern erfaßt auch Österreich, das ebenfalls den Boden der Demokratie verlassen hat und neue Wege beschreitet“.

Der Aufbruch habe eine „tiefe innere Notwendigkeit auch über die nationalsozialistische Bewegung hinaus“ und „der Bann des Rationalismus“ sei gebrochen.

„Hieß es bei der Entstehung des hl. Reiches: Rettung des Imperium Romanum vor Chaos-Antichrist oder Islam, so heißt es heute: Das dritte Reich als Rettung des Abendlandes vor dem Chaos des Bolschewismus, asiatischer Barbarei.“ (S. 241)

Auf die Entwicklung der letzten Jahre zurückblickend stellt Graber fest, Deutschland besinne „sich wieder darauf, dass sein geschichtliches Thema ein religiöses“ sei. Die „Politik aus dem Glauben“ habe – so Graber überschwänglich – „dem Nationalsozialismus einen unverkennbaren messianischen Schwung gegeben, der immer wieder alle lächelnden Skeptiker Lügen strafte“.

Mit Blick auf und zur Besänftigung von kirchenfeindlichen Stimmen, wie er sie im Magazin Der Stürmer ausmacht, positioniert sich Graber im Folgenden eindeutig, indem er judenfeindliche Verwerfungstheologie mit antisemitischem Verschwörungswahn verbindet:

„Ich glaube, es liegt in dem Kampf gegen das Judentum die instinktive Abneigung des ganzen Deutschen Volkes, das sich unbewußt als das auserwählte Volk der neutestamentarischen Verheißung betrachtet und nun einmal mit Recht nicht verstehen kann, warum das verworfene Israel die Welt beherrschen soll, und nicht das Volk der Mitte.“ (S. 240)

Graber versäumt es nicht, eine aktuelle Gefahr eines übersteigerten „Rassenwahns“ zu artikulieren, er problematisiert die Wertung „in vielen maßgebenden Kreisen die Religion nur als Magd des Staates, als Helferin der allgemeinen Moralerziehung“ zu sehen und kritisiert „wilhelminischen Imperialismus“ in Teilen der NS-Bewegung, „der mit dem echten Sendungsgedanken unseres Volkes nicht zu tun“ habe. Jedoch sei es seine Aufgabe „positive Ansatzpunkte für die Idee des Reiches als hl. Reiches [!] aufzuweisen; über das andere braucht nicht geschrieben zu werden“, weil es jeder selbst sehe. Er wolle mit diesen Anmerkungen nicht den Eindruck von „böswilliger Destruktion“ aufkommen lassen. (S.242)

In einer selbstbetrügerischen Verkennung seiner Rede als ‚unpolitisch‘, die nebenbei bemerkt auch den explizit politischen Charakter des erwähnten Geleitwortes ad absurdum führt, kommt Graber zum Schluss, er habe „die konkrete Politik bewußt aus diesen Ausführung ausgeschaltet“ und deshalb nicht „vom polnischen Korridor, von Südtirol, von Aufrüstung und Abrüstung, von Völkerbund und Viererpakt oder überhaupt irgendwie ‚zur politischen Lage‘ “ gesprochen. Denn, „wie die Heilsgeschichte zu politischer Geschichte steht und wie eines sich im anderen befindet“, all das sei tief und geheimnisvoll.

Hier scheint ‚entpolitisierender‘ Selbstbetrug zu einer starren Lebenshaltung geronnen zu sein, was sich schon wenige Sätze später deutlich zeigt, wo Graber über die Zusammenhänge von göttlicher Offenbarung in Christus und abendländischer Geschichte fantasiert und erneut die Formel von „Politik aus Glauben“ bemüht.

„Das deutsche Volk hat die Sendung zum Reich, oder aber es hat überhaupt keine. Sendung zum Reich aber ist Sendung zum heiligen Reich, zum sacrum imperium.“

Zusammenfassend kann man nach der Darstellung und Analyse von Grabers Wirken im Bund Neudeutschland fest- halten, dass er an seiner bewussten Entscheidung für den NS-Staat, an der Umsetzung und Ausformung dieses Schrittes in der NS-Bewegung tatkräftig und herausragend mitgearbeitet hat. Als zweifacher Geistlicher Leiter im Bund Neudeutschland, für den Donaugau und für das Reich, hat er in seinen entscheidenden Führungspostionen eine katholische Reichs-Theologie erarbeitet und verbreitet, in der christliche Judenfeindschaft mit antisemitischer Volkstums-Ideologie verschmolzen wird. Zentrale Kategorie ist hierbei das Ideologem von der neuen Auserwählung bzw. Sendung des deutschen Volkes zum sacrum imperium, für das Heilige Deutsche Reich. Das deutsche, auserwählte Volk soll in dieser Ideologie an die Stelle des verworfenen Volkes, Israel, treten. Graber vertritt eine Art aktive antisemitische Reichs-Theologie, die das Dritte Reich als Heiliges Reich begründen und gestalten möchte. Wer, wie die eingangs zitierten Autoren, zu positiv-gefälligen Bewertungen von Grabers Wirken im NS-Staat kommt, hat an den Quellen vorbei gearbeitet oder geht außerwissenschaftlichen Interessen nach.

Grabers stark ausgeprägtes politisches Engagement im Bund Neudeutschland, seine ausgesprochene Bejahung des NS-Staates und seine antisemitische Reichs-Theologie befanden sich jenseits des teilweise ohnehin problematischen Spektrums von Haltungen, die z. B. von der bayerischen Bischofskonferenz gegenüber dem NS-Staat noch mitgetragen wurden. So gesehen dürften seine extremen Aktivitäten als Geistlicher Leiter beim Bund Neudeutschland nicht – wie der Nachruf Ritters meint – zum Ruf nach Eichstätt qualifiziert, sondern für Bischof Preysing, der im bayerischen Episkopat eine gegenüber dem NS-Staat tendenziell ablehnende Haltung vertrat, eher ein Problem dargestellt haben. Jedenfalls erfolgte die Niederlegung seiner Funktion als Geistlicher Reichleiter mit der Berufung nach Eichstätt im September 1933. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP-Unterorganisation NSV wäre Graber als Priester gemäß Art. 32 des Reichs-Konkordat (1933) zwar verboten gewesen, sie steht aber mutmaßlich im Zusammenhang mit seinem Ersuchen um Aufnahme in die Reichsschriftumskammer, die als Voraussetzung für jegliches Publizieren obligat war.

Wie sehr der Theologe Graber tatsächlich davon entfernt war, der „gottesfeindlichen und menschenverachtenden politischen und weltanschaulichen Ideologien“ (G. L. Müller) der Nazis entgegenzutreten, ergibt sich auch mit Hilfe eines Perspektivenwechsels, der den Blick auf den Kampf um die hebräische Bibel lange vor der Machtergreifung 1933 lenkt. Demnach agierte Graber mit seinem judenfeindlichen Ideologem faktisch im Sinne der völkischen Rassenlehre, die seinerzeit zur  Ausschaltung des Alten Testaments als heilige Schrift drängte. Diese judenfeindlich-theologische Tendenz, gegen die hebräische Bibel vorzugehen, wurde von jüdischen Gelehrten, wie Max Dienemann, bereits Ende der 1920-er Jahre mit großer Sorge und in der Hoffnung benannt, dass „die katholische Kirche die Bestrebungen aufs schärfste verurteilt“, und an der Erkenntnis festhält, „daß das Alte Testament der Grund ist, aus dem das Christentum emporgewachsen ist“. ((Max Dienemann, Entlehnungen der christlichen Religionen vom Judentum, in: Verband der Deutschen Juden (Hg.), Die Lehren des Judentums nach den Quellen, Band III, 1930, S. 413. Ebenso hoffte Dienemann auf Unterstützung durch den deutschen und außerdeutschen Protestantismus.))

Nach dem derzeitigen Recherchestand, hat erstmals das Magazin Der Spiegel (unter dem Titel: „Graber – Blond und Blau“ in der Nr. 24/1969) versucht, die politische Haltung Grabers bzw. die nationalsozialistischen Ideologieversatzstücke in seiner Rede als Bundesleiter mit einschlägigen Zitaten („die germanische Rasse“) öffentlich zu skandalisieren, auf eine noch frühere interne Auseinandersetzung werde ich noch zu sprechen kommen. Man kann also davon ausgehen, dass der Text spätestens seit Mitte 1969 auch im Bistum Regensburg und somit auch dem zu jener Zeit dorthin wechselnden Joseph Ratzinger bekannt ist. Darüber hinaus wurde Grabers Vortrag in kommentierten Auszügen bzw. als abschreckendes Beispiel bereits 1971 in der bedeutsamen Reihe Theologisches Forum, dokumentiert, ((Werner Trutwin (Hg.), Theologisches Forum, Juden und Christen Bd. 7 – Quellentexte, ausgewählt und bearbeitet vom Herausgeber, 1971. Vgl. Eintrag bei Ernst Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, 2008, S. 195.)) die im Auftrag des Bundes Katholischer Religionslehrervereinigungen Material und Quellentexte für den Religionsunterricht  editierte  und unter anderem die Theologen Hans Küng und Joseph Ratzinger als Autoren gewinnen konnte. Anlässlich des Berichtes in Der Spiegel bzw. im Kontext der teilweisen Veröffentlichung seines Vortrags im Theologischen Forum sah sich ein anscheinend beleidigter Graber gegenüber dem Bund Neudeutschland  zum Handeln aufgefordert. In einem Brief an den ND sprach er im März 1971 davon, dass „im Spiegel und anderen Presseveröffentlichungen“ ((Zitiert nach Pipeline Heft Juli 1971, S.15. Die Zeitschrift Pipeline ist das Mitteilungsblatt des Aktionskreises Regensburg (AKR), der Ende der 1960-er Jahre von einem Kreis zumeist junger, reformfreudiger, am II. Vaticanum orientierter Seminaristen und Kapläne gegründet wurde. Anfang des Jahres 1971 verwies Bischof Graber einen der Wortführer des AKRs, Pfarrer Alfred Heuberger, des Bistums.)) gegen ihn wegen seiner Gautag-Rede zu Pfingsten „polemisiert“ worden sei. Da ihm der ND zur Abwehr der Polemik keinerlei öffentliche Schützenhilfe geleistet habe, trete er hiermit als Mitglied aus, die Kosten für das Bischofskreuz, ein Geschenk zu seiner Weihe, habe er bereits zurücküberwiesen.

Weitere bischöfliche Erklärungen zu diesem Themenkomplex sind nicht überliefert, die erwünschte Schützenhilfe kam wenige Jahre später bezeichnender Weise erneut von der Regensburger Theologischen Fakultät, die dem Diözesanbischof lehramtlich und über die Regelungen im Konkordat auch rechtlich unterstellt ist.

Rudolf Graber nach 1945 – ein Normalfall im deutschen Verdrängungszusammenhang?

Was geschah mit Grabers Deutschtums-Theologie nach dem Zusammenbruch des NS-Staates? Hat er, der Ende 1946 zum ordentlichen Professor aufgestiegen ist, sein antisemitisches Wirken im NS-Staat überdacht, oder gar verworfen?

Nein, zu seinem eigenen Handeln und Unterlassen im nationalsozialistischen Zusammenhang, zu einer biographischen Verantwortung hat sich Graber, soweit ersichtlich, öffentlich nicht, bzw.  bestenfalls verklausuliert, geäußert. Hierin unterschied sich der Theologe, der am 2.6.1962 zum Regensburger Bischof geweiht wurde, nicht von den allermeisten anderen  Mitläufern, Ideologen und Tätern des NS-Staates, seien sie nun weltlicher oder geistlicher Herkunft. Nach dem Krieg waren jedoch insbesondere Bischöfe und Theologen der Ansicht,

„den christlichen Glauben und die Rechte der Kirche stets tapfer verteidigt zu haben, und fühlten sich deshalb eher als Widerstandskämpfer, vielleicht sogar Märtyrer für den Glauben, obwohl keinem von ihnen auch nur ein Haar gekrümmt worden war“. ((Georg Denzler, Widerstand ist nicht das richtige Wort – Katholische Priester, Bischöfe und Theologen im Dritten Reich, 2003, S.210.))

So formuliert der emeritierte Bamberger Kirchenhistoriker Georg Denzler in seiner grundlegenden Untersuchung über Katholische Priester, Bischöfe und Theologen im Dritten Reich ein Untersuchungsergebnis. Folgt man Denzler weiter, blieben „Bischöfe und Theologen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von der vor der Spruchkammer durchgeführten Entnazifizierung ausgenommen.“ Der Eichstätter Domkapitular Johannes Kraus, der selber wegen öffentlich geäußerter Regimekritik während der NS-Zeit inhaftiert worden war, „bewertete die ganze Entnazifizierungsaktion als einen Fehlschlag, weil nach dem Krieg plötzlich keiner mehr habe wissen wollen, dass er einmal Nationalsozialist gewesen sei.“ ((Ebd., S.210.)) So auch Graber, der von seinem Engagement für die nationalsozialistische Bewegung nach 1945 nichts mehr wissen wollte, bis ihn unvorhersehbare gesellschaftliche Entwicklungen zur Reaktion zwangen.

Noch während der NS-Zeit, Anfang der 1940-er Jahre, wandte sich er sich als Eichstätter Dozent der Marienkunde, bzw. vielmehr der Marienverehrung, und den Ostkirchen-Studien zu. Nach der Zerschlagung des NS-Regimes sind von ihm nur eine Hand voll Predigten, Schriften oder Vorträge greifbar, die im engeren Sinn mit dem Themenkomplex Drittes Reich – Heiliges Reich, Shoah und Verfolgung im NS-Staat zu tun haben. Einige davon sollen im Folgenden besprochen werden.

„Deggendorfer Gnad“

Schon drei Monate nach der Übernahme des Regensburger Bistums musste Graber im Konflikt um die berüchtigte Deggendorfer Gnad Stellung beziehen. Bei der „Gnad“ handelte es sich um eine alljährliche Wallfahrt in der gleichnamigen niederbayerischen Stadt, die auf einer judenfeindlichen „Hostienfrevel“-Legende beruht und Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts verstärkt in internationale Kritik geriet, die auf Einstellung der Kundgebung drängte. ((Im Herbst 1338 wurden die Deggendorfer Juden von Christen ermordet, die offenkundig bei den Mordopfern verschuldetet gewesen waren. Erst eine Generation später wurde zur Rechtfertigung des Pogroms die Legende vom Deggendorfer Hostienfrevel (für das Jahr 1337!) nachgeschoben und diese im Folgenden bis ins 20. Jahrhundert u. a. mit Wallfahrten gepflegt. Vgl. Manfred Eder, „Die Deggendorfer Gnad“, 1992.))

Zur Wallfahrtseröffnung im Jahr 1962 sprach Graber als zuständiger Diözesanbischof vor 5000 Menschen in der „Grabeskirche“ und versuchte den Kritikern, „Artikelschreibern, die Anlass und Wesen einer Sache nicht auseinander halten können“, den Wind aus den Segeln zu nehmen, in dem er die „Gnad“ kurzer Hand zu einer „eucharistischen Wallfahrt“ erklärte. ((Rudolf Graber, Predigt vom 3.10.1962, in: Bischöfliches Domkapitel Regensburg (Hg.), Verkünde das Wort – Predigten Ansprachen Vorträge, 1968, S. 108-111. Alle folgenden Zitate und Seitenangaben stammen daraus.)) Deggendorf werde „vor solchen Artikelschreibern nicht kapitulieren“, meinte der Wallfahrtsprediger, den Juden in Deutschland aber seien „grauenhafte Dinge“ geschehen,

„nicht bloß in jüngster Zeit, wo man sechs Millionen Juden durch Genickschuß oder in Gaskammern erledigte [sic !] sondern auch im Mittelalter. Und hier ist das Jahr 1337 für Deggendorf ein düsteres Jahr.“ (S. 108)

Diese Verbrechen seien nicht durch „gewisse Untaten der Juden“ oder „durch den Hinweis auf Gottesmord von Golgotha“ zu entschuldigen, es müsse vielmehr gesagt werden, „daß es nur eine Minderheit des jüdischen Volkes war, die Jesus ans Kreuz brachte.“ Da sie einer Religion angehören würden, die als Hauptgebot die Liebe habe, dürften Christen – so der christliche Prediger, der hier nebenbei das angeblich nicht auf Liebe basierende jüdische Auge-um-Auge-Prinzip verwirft – nicht Rache nehmen, nicht „Gleiches mit Gleichem“, nicht „Blut mit Blut“ (S.109) vergelten. Sühne hingegen müsse „geleistet werden, für all das, was geschehen ist“, für alles, „was die heilige Ordnung Gottes und seiner Gebote verletzt hat“. Einiges sei inzwischen schon geschehen, da sich z.B. in Dachau, in Flossenbürg, in Bergen-Belsen und anderswo sich solche Sühnekirchen erheben würden. Und damit kommt Graber

„zu einer neuen, ganz wichtigen Feststellung: Die Deggendorfer Gnad war bisher schon eine solche sühnende, eucharistische Veranstaltung. Unser Volk hat hier gleichsam unausgesprochen begriffen, daß die Eucharistie das große Sühneopfer für die Menschheit ist.“ (S. 110)

Die „Deggendorfer Gnad“ sei keine

„Verherrlichung des Judenmordes […] und deshalb werden wir nie und nimmer einigen Artikel- und Briefschreibern zulieb die Deggendorfer Gnad einstellen. Im Gegenteil, wir wollen ihre Zielsetzung noch ausweiten und in unsere eucharistische Verehrung in diesen Tagen gerade all die Verbrechen hereinnehmen, die unser Volk begangen hat, im frühen Mittelalter, im späten Mittelalter und hier 1337 und vor allem in der jüngsten Vergangenheit.“ (S. 110)

Zum Schluss kommt Graber auf die erste Kirchenspaltung zu sprechen und versäumt es nicht darauf hinzuweisen, dass Paulus gelitten habe, „als die neutestamentliche Kirche sich von der Synagoge trennte“, und die „Verstockung“ des Volkes Israel am Ende der Tage aufgehoben werde, wenn „Gott sich seines Volkes erbarmen und die Hülle von ihren Augen nehmen“ werde. Israel und die Kirche sei das eine Volk Gottes. Graber zitiert hierbei den französischer Schriftsteller Léon Bloy (gestorben 1917), der ein selbsternannter apokalyptischer Prophet war und bereits in den 1930-ern im Bund Neudeutschland stark rezipiert wurde. In Anlehnung an ihn spekuliert Graber über den andauernden Antisemitismus, den „schrecklichste(n) Schlag ins Gesicht, den unser Herr während seiner Passion […] auf dem Antlitz seiner Mutter“ erhalten habe. Dies sei „ganz tief gesehen. Aber es ist so. ‚Auf dem Antlitz seiner Mutter, der edelsten Blüte der jüdischen Rasse‘. “ Hier habe L. Bloy etwas angerührt, so Graber, „was uns zum Nachdenken stimmen sollte: Der innere Zusammenhang von mangelnder Marienliebe und Antisemitismus.“ (S. 111)

Die Predigt beendete Graber mit einem Gebet aus der Osternacht.

Grabers Vorgehen in der Predigt war offenbar ein taktisches Manöver, räumte er doch nur unbestreitbare historische Verbrechen ein, um die „Gnad“ dann, nach der taschenspielerartigen Umdeutung zu einer sühnenden, eucharistischen Veranstaltung, zu verteidigen und persönlich daran teilzunehmen. Wie schon Ende 1933 in den Werksblättern spekuliert Graber in seiner Predigt erneut darüber, was das deutsche Volk gleichsam unausgesprochen begriffen haben könnte. War es im Jahr 1933 das Konstrukt vom neutestamentarisch auserwählten Deutschen Volk, so ist es im Jahr 1962 das Begreifen des Sühnegedankens, worüber er sinniert. Und wie schon 1933 bemühte der neue Bischof in Deggendorf die Heilige Ordnung, hier und jetzt sei allerdings Sühne zu leisten, auch wegen den Verstößen gegen die Heilige Ordnung bzw. den Verbrechen der „jüngsten Zeit“.

Die Deggendorfer Predigt Grabers stellt ein Lehrbeispiel für eine oberflächliche und exkulpierende Theologie der Sühne dar, die ohne jede Einsicht, Reue und Buße auskommen und die eigene Biographie ausgeblendet lassen möchte. Christliche Judenfeindschaft oder Antisemitismus existiert in Grabers Wahrnehmung nur in unberechtigten Vorwürfen von „Artikelschreibern“.

Grabers Auftritt in Deggendorf war grandios und dreist gleichermaßen: mit der propagandistischen Umdeutung einer eindeutig judenfeindlich ausgeprägten Wallfahrt in ein Sühnegeschehen, angereichert mit einer antisemitisch konnotierten Presseschelte („Artikelschreiber“), unter der Wiederholung des (leicht abgeschwächten) Gottesmordvorwurfes, unter erneuten Verhöhnung des Judentum als blind und verstockt, gelangt der Regensburger Bischof zu seinem damaligen Lieblingsthema, der mangelnden Marienliebe. Seine vorgebliche Abwehr von Antisemitismus gerät zur Funktionalisierung desselben für rassisch-marianische Spekulationen, die ihrerseits judenfeindliche Ideologeme bemühen und an ältere anschließen.

Doch auch nach Grabers Umdeutung der „Gnad“ blieb die Kritik an der antisemitischen Tendenz der Wallfahrt nicht aus. So protestierte z. B. im Oktober 1966 die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) aus Unterfranken beim Bischof und forderte diesbezüglich Abhilfe. Im Januar 1967 schlug die Dachorganisation der  GCJZ, der Deutsche Koordinierungsrat (DKR) in die gleiche Kerbe und verlangte „die Beseitigung der ‚Antisemitica‘ in Deggendorf“. Graber ignorierte diese Aufforderung, drohte im Gegenzug mit seinem Austritt aus der GCJZ und wurde darin sogar von den Vorständen der süddeutschen Gesellschaften (München Augsburg und Regensburg) unterstützt. ((Andreas Angerstorfer, Der lange Streit, in: Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. München (Hg.), reden lernen erinnern – 50 Jahre GCJZ, 1998, S. 66.)) In einer scharf formulierten Reaktion zitierte der DKR daraufhin in einem Schreiben vom Mai 1967 aus Grabers oben genannten Vortrag, Deutsche Sendung von 1933, und forderte ihrerseits zudem den Ausschluss Grabers aus der GCJZ , woraufhin er sich empört als ein Opfer des NS-Regimes darstellte und eine Entschuldigung forderte. Er sei „wegen diese Artikels seines Amtes als Religionslehrer enthoben worden“. ((Ebd. S. 69.)) Noch im darauf folgenden Jahr, im Mai 1968, erwartete Graber eine Entschuldigung für die angeblich verleumderische Unterstellung des Deutschen Koordinierungsrates, als ob er „Anhänger des Nazi-Regimes gewesen sei.“ ((Ebd. S. 72.)) Dabei blieb es dann auch. Die intern geführte christlich-jüdische Debatte gelangte erst mit der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit an die Öffentlichkeit.

Ausweislich dieses Briefverkehrs verleugnete Graber erstmals im damaligen Mai 1967 sein Engagement für die nationalsozialistische Sache, als Feind des NS-Staats jedoch, wie ihn der Kirchenhistoriker Staber erst 1966 angesprochen hatte, wollte er sich schon zu dieser Zeit nicht mehr inszenieren. Die damalige Rückzugslinie der Graberschen ‚NS-Vergangenheitsbewältigung‘ lautet nun: er sei kein Anhänger des Nazi-Regimes gewesen.

Die tatsächliche Einstellung der „Gnad“ erfolgte erst nach Grabers Tod im März 1992 und zwar auf Anordnung von Bischof Manfred Müller, der aufgrund der von Manfred Eder in einer kirchengeschichtlichen Studie erarbeiteten „geschichtlichen und theologischen Hintergründe und Zusammenhänge“ feststellte, es sei „ausgeschlossen, die ‚Degendorfer Gnad‘ […] weiter zu begehen. Als Kirche Jesu Christi sind wir der Wahrheit und Aufrichtigkeit verpflichtet.“ ((Zitiert nach Eder, 1992, S. 700.))

Angesichts der scheinbar frommen Gnad-Legende, die als böswillige Unterstellung entlarvt worden ist, müsse ein aufrichtiges Schuldbekenntnis gesprochen werden, was dann auch geschah.

Regensburg im Jahr 1963: Die Woche der Brüderlichkeit

Eine Woche der Brüderlichkeit, die seit 1951 jährlich von den jeweiligen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit  veranstaltet werden, fand 1963 auch in Regensburg statt. Graber hielt als GCJZ-Mitglied und bischöfliche Führungsperson einen Eröffnungsvortrag, der in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist, jedoch in allen Bibliographien fehlt. ((Graber, Eröffnungstext zu 10.3.1963, abgedruckt in: Freiburger Rundbrief, Beiträge zur Förderung der Freundschaft zwischen dem Älteren und dem Neuen Gottesvolk im Geister beider Testamente, 1964, S. 3 – 4. Zitiert nach: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7042/pdf/Freiburger_Rundbrief_1964_57_60.pdf. Alle folgenden Zitate stammen daraus. (Stand Juni 2011))) Der Vortrag wurde vom Regensburger Hirten kurz nach seiner Teilnahme an der ersten Tagungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (Oktober – Dezember 1962) gehalten, zu einer Zeit also, als Papst Johannes XXIII. die Karfreitagsfürbitte bereits etwas entschärft, aber weiterhin für die Bekehrung der Juden zu Jesus Christus gebetet hatte. Dies ist zur kontextuellen Einordnung der Rede Graber zu beachten. Würde man den Vortrag als das Werk eines verstörten Exegeten betrachten können, der die Zeit vor, während und nach des NS-Regimes in absoluter innerer Emigration verbrachte, beispielsweise in einem unbehelligt belassenen Schweigekloster, so könnte man Teile seines Vortrags als zukunftsweisende katholische Reflexion betrachten. Ich versuche den Vortrag unter diesen unhistorischen Annahmen darzustellen.

Es sei ihm die „hohe Ehre zuteil geworden“, so der damals 60jährige Regensburger Bischof, die diesjährige Woche der Brüderlichkeit eröffnen zu dürfen, insbesondere weil „der Kirche das Gebot der Brüderlichkeit aufgegeben“ sei und das „Christentum mit der Bruderliebe“ stehe und falle. Davon abgeleitet, aber nicht näher spezifiziert, müssten, so Graber, „wir ein ehrliches ‚mea culpa‘ sprechen“, es läge ihm „sehr viel daran, daß dieses ‚mea culpa‘ zu Beginn dieser Woche der Brüderlichkeit klar ausgesprochen“ werde. Offenbar bezog sich der Vortragende in dieses Schuldgeständnis mit ein. Das ‚Wir‘, die Adresse und der Gegenstand des Eingeständnisses bleiben unspezifisch oder unbenannt.

Graber fragt im Anschluss daran nach dem eigenartigen Anlass des christlich-jüdischen Gespräches, „nach dem Entsetzlichen was da geschehen ist, nach dieser kaltblütigen systematisch organisierten Ermordung von sechs Millionen Unschuldigen“, das nach 1900 Jahren Schweigen plötzlich wieder aufgenommen werde. Die Grundlage dafür sei, so seine Antwort, in der „nazistischen Ausrottungsmaschinerie gelegt worden“, die u. a. auf „Hitler als dem leiblichen Dämon, dem satanischen Genie“, zurück gehe. Dies weiter gedacht, spüre man, „wie hier ein theologisches Problem sich meldet, nämlich das der Auserwählung.“ Hinter dem satanischen Hass sei – so der Eröffnungsredner, dem hier vielleicht seine eigene Hetzrede über das auserwählte deutsche Volk vom Herbst 1933 aufgestoßen ist – die Frage gestanden: „Ist die nordisch-germanische Rasse auserwählt oder soll es das jüdische Volk sein.“ In Gaskammern von Auschwitz und anderswo habe, so Graber diesen Passus abschließend, „sich Genesis 4 wiederholt. Kain ergrimmte sich über die Auserwählung seines Bruders und erschlug ihn.“

An dieser Stelle setze „das theologische Gespräch an“ und es sei „wirklich ein geistiges Wunder“, dass dies „trotz Auschwitz oder vielleicht sogar wegen Auschwitz“ wieder aufgenommen werde, „der Kairos“ sei günstig wie nie zuvor. An dieser Stelle führt Graber das zu jener Zeit pausierende Vatikanische Konzil und jene Stimmen ein, die das (übliche) Bild von der Kirche, als mystischer Leib Christi, ergänzen wollen „durch das umfassendere vom ‚Volke Gottes‘ “. Mit dieser Sicht sei „der Anknüpfungspunkt für Israel gegeben“ und, heilsgeschichtlich gesehen, sei die Unzerstörbarkeit, die der Kirche zugrunde liege, „auch der Synagoge verheißen“. Man komme um die Antwort aus der „Eingangsfrage des 11. Römerbriefkapitels nicht herum: ‚Ich frage nun: Hat etwa Gott sein Volk verworfen? Keineswegs.‘ “ Hier nimmt Graber den Gedanken aus der dritten Tagungsperiode des Konzil (September-Dezember 1964; dem Lumen gentium) vorweg, wonach nicht mehr von der Verwerfung des Judentums, sondern vielmehr von der Gottestreue der Juden auszugehen ist.

In einem christologischen Einschub kommt Graber kurz auf Antisemitismus zu sprechen und orientiert sich hierfür erneut an Léon Bloy (allerdings ohne von der „jüdischen Rasse“ zu sprechen, wie im Vorjahr in Deggendorf) und an Klara (Basilea) Schlink, der Mitbegründerin der Evangelischen Marienschwesternschaft. Es gehöre, „wirklich zum Erschütterndsten, sich vorzustellen, daß in den Millionen unschuldig Ermordeter im Letzten Christus selbst von neuem gekreuzigt wurde. Der Schleier über den Herzen der Juden, von dem die Karfreitagsliturgie spricht, lag auch über unseren Augen. Wenn jene den Messias nicht erkannten, so haben wir in den jüdischen Opfern Christus nicht erkannt.“

Hiermit werden auch Christen in Analogie zu den Juden durch das Bild vom Schleier als ‚blind‘ gekennzeichnet und Juden als Opfer benannt – ‚sehende‘ und aktive Täter gibt es in dieser Darstellung bezeichnender Weise nicht.

In einem letzten Gedanken kommt Graber auf das nicht von Erfolg gezeichnete ökumenische Zeitalter zu sprechen und plädiert in Frageform für die radikale Ausweitung der Ökumene. Demnach gelte es an die Wurzel des Spaltungsübels zu gehen, „wo Kirche und Synagoge sich trennten“. In einem verwinkelten Anschluss an den Römer Brief (11) des Paulus verspricht sich Graber, dass das derzeitige christlich-jüdische Gespräch, die „ausgestreckte versöhnliche Hand“ der jüdischen Brüder, „der Welt zum Heile sein“ werde. Desweiteren hoffe er: „Vielleicht würden wir durch das christlich-jüdische Gespräch der Einheit unter uns Christen näher kommen.“

Es ginge ihm nicht um so Selbstverständliches wie die „Zurückweisung antisemitischer Tendenzen“, „sondern um Tieferes, um die Bewältigung einer 1900jährigen Vergangenheit, um die Beendigung eines 1900jährigen Kriegszustandes einer traurigen Geschichte von Geschichte von Blut und Tränen“. Es ginge um die Verwirklichung des Hauptgebotes, „das im Alten und neuen Testament völlig gleich lautet. Du sollst deinen Herren, deinen Gott, lieben aus ganzen Herzen“. Es geht, so Graber im Schlusssatz auf das Motto der Woche bezugnehmend, auch um Bruderliebe: „Du sollst deinen Nächsten, den Bruder, lieben wie dich selbst.“

Graber war vor, während und nach der Zeit zwischen 1933-1945 bekanntlich in keinem Schweigekloster. Vielmehr war er anscheinend durch seine eigene Biographie so stark in einem christlichen Schuldkomplex verstrickt, dass er die zeitgenössischen Umbrüche und eine Hinterfragung seiner judenfeindlichen Verwerfungs-Theologie, die sich durch das angehende II. Vaticanum andeuteten, nur mit der hebräischen Bibel selbst glaubte ausdeuten und ‚bewältigen‘ zu können. Daraus speisen sich seine Überlegungen, welche die Massenmorde in den Gaskammern von Auschwitz als eine satanische Wiederholung der Genesis begreifen. Wenn nicht alles täuscht, begreift Graber in seiner mea culpa-Rede zur Woche der Brüderlichkeit sein eigenes Handeln als vormaliger geistlicher Reichsleiter – als er z. B. davon sprach, dass es nicht hinzunehmen sei, wenn das verworfene Israel die Welt beherrscht und nicht sein auserwähltes Volk der Deutschen – als Teil bzw. Folge des satanischen Hasses. Schon Kardinal Ratzinger zählte die angebliche prophetische Kraft Grabers, das Wirken des Satans wahrhaft zu erkennen, zu dessen Kernkompetenzen, wie aus der oben erwähnten Festpredigt zum Priesterjubiläum überliefert ist.

Wie sich die Reichs-Theologie Grabers weiter entwickelte, soll im Folgenden an drei Beispielen untersucht werden.

Idee und Gestalt des Heiligen Reichs – eine Neuauflage unter europäischer Flagge

Die bereits zitierten Spekulationen um die Bedeutung von mangelnder Marienliebe hat Graber nicht erst in Deggendorf entwickelt, vielmehr drücken sich seine marianisch-mariologischen Studien bereits in 1940er Jahren in ersten einschlägigen Publikationen aus. Seit dieser Zeit befasst er sich in seinen Arbeiten bevorzugt mit dem Abendland. Soweit ersichtlich hat Grabers Theologie in den 1950er Jahren einen Wandel vollzogen und sich von dem Gedanken einer ‚Deutschen Sendung‘ für das ‚Heilige Reich‘ verabschiedet. Den auserwählten Platz der Deutschen hat nun das Abendland (wieder) eingenommen, die Notwendigkeit eines Heiligen Reiches blieb jedoch erhalten. In dem im Jahr 1957 gehaltenen Vortrag, Maria und der Untergang des Abendlandes, der sich als Weiterentwicklung der Arbeit von Oswald Sprengler (Der Untergang des Abendlandes) versteht, meinte Graber, man müsse

„aber auch dann schon vom Untergang des Abendlandes sprechen, wenn seine geistige Kraft erschlafft und erlahmt und es biologisch, blutmäßig, von neuen unverbrauchten Völkern durchsetzt und in Besitz genommen wird. […] Es ist kein Zweifel, daß die Größe des Abendlandes auf seiner christlichen Sendung beruht.“ ((R. Graber, Maria und der Untergang des Abendlandes, 1957, in: ders., MARIA, Königin Himmels [sic!] und der Erde, ca. 1970, S. 16. Alle weiteren Zitate und Seitenangaben aus dieser Publikation, die erst 1970 heraus gegeben wurde.))

Gott selbst, so Graber in seiner eigenwilligen Ausdeutung der Apostelgeschichte (Apg. 16,7-10), habe das Abendland bzw. Europa auserwählt und „während die Juden die Frohbotschaft ablehnen, ist das Abendland bereit, sie aufzunehmen“ (S.17), was seinen symbolischen Ausdruck „in der Übertragung des Heiligen Hauses von Nazareth nach Loreto“ gefunden habe. (S. 18) Der „marianische Charakter des Abendlandes“ hänge damit zusammen und von daher sei es auch verständlich „warum Maria diesem ihrem Land immer zu Hilfe gekommen“ sei. In weiteren Bezugnahmen, u.a. bei dem bereits genannten glühenden Marienverehrer Léon Bloy, referiert Graber diverse Marienerscheinungen: Paris (1830), La Salette (1846), Lourdes (1858), Fatima (1917), die alle eine existenziellen Bedrohung Europas (Bolschewismus, Atheismus, etc.) und zugleich den Schutz Mariens fürs Abendland angezeigt hätten.

Grabers schnöder Wechsel in der Besetzung der Rolle der heilsgeschichtlich Ausgewählten, vom Deutschen Volk zum Abendland allgemein, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass er sein eschatologisch-völkisches Denken den neuen politischen Gegebenheit angepasst und mit Marienverehrung nur verfeinert hat. Dieser Wechsel ist auch in späteren Aktivitäten erkenntlich und ignoriert die vielfältigen und ernst zunehmenden Versuche, die Shoah als Massenverbrechen ohne Präzedenz zu verstehen oder zu bearbeiten.

Im Jahr 1967 trat Rudolf Graber als Herausgeber einer Publikation von Werner Henneke auf, deren Titel wahrscheinlich auf Graber selbst zurückgeht: Idee und Gestalt des Heiligen Reichs. Im Vorwort des Werkes, untertitelt mit „Formwandel und Probleme des Abendlandes“, sprach Graber erneut vom eschatologischen Charakter des Heiligen Römischen Reichs und lobte den Mut des Verlegers ein solches Werk zu vertreiben, „da es Mode geworden ist, nur mehr von der ‚Tragödie des Hl. Reiches‘ zu reden und sogar für das Dritte Reich das alte Sacrum Imperium verantwortlich zu machen.“ ((R. Graber (Hg.), Werner Henneke , Idee und Gestalt des Heiligen Reichs, Eugen Hauchler Verlag, Stuttgart, 1967, S. 6.)) Graber schwadronierte also weiter vom ‚eschatologischen heiligen Reich‘. Erneut fällt auf, dass er nicht mehr vom ‚Deutschen Reich‘ redet, sondern von einem europäischen Reich. Nur „ein Heiliges Reich in Europa“ sei die Bürgschaft für Frieden, „entweder doch ein heiliges Reich, oder die Anarchie des Antichrists“. (S. 7)

Ein bemerkenswerter Befund, wo doch seine ihm eigene Deutsche-Reichs-Theologie das „Dritte Reich“ aus eben einem obligaten „Heiligen Reich“ ableiten wollte. Ins Auge sticht auch die Derealisierung seines eigenen Mittuns im NS-Staat, das er seinerzeit mit großem Elan ausführte und während der Woche der Brüderlichkeit, also nur vier Jahre zuvor, zumindest schuldbewusst andeutete.

Am 23.6.1976 verlieh die Katholisch-Theologische Fakultät unter dem Uni-Vizepräsidenten Joseph Ratzinger  ihrem Diözesanbischof die Ehrendoktorwürde. In der damaligen Laudatio wurden seine Verdienste für die Einrichtung der Fakultät gewürdigt und der Theologe Graber, dessen Schrifttum unter anderem „vom ‚sakramentalen und ekklesiologischen Denken der Zwischenkriegszeit‘ “ inspiriert sei, als herausragender Gelehrter herausgestellt. ((Zitiert nach: Edmund Staufer, Bistum und Universität, in: Paul Mai, Dienen in Liebe, 1981, S.179. Eine Überprüfung des Akts der Ehrenpromotion Grabers war nicht möglich, da das Archivgut der betreffenden Jahre „sich derzeit in einem nicht aufgearbeiteten Zustand“ befinde – so die Auskunft des zuständigen Dekanats vom Juli 2011.)) Anlässlich der Verleihung hielt der geehrte Theologe selbst eine Gastvorlesung an der Regensburger Universität, in der er seinerseits das Leben und Werk eines Kollegen, des ‚NS-Theologen‘ Karl Adam (1876-1966) würdigte und ihn als „Wegbereiter des 2. Vatikanischen Konzils und seiner Theologie“ darstellte. ((R. Graber, Karl Adam, 1967, S. 6.)) Das Vaticanum habe zwar Bewegung in die Kirche gebracht, es sei aber auch die Gefahr entstanden, dass alle  vorkonziliare Theologie einer Art damnatio memoriae unterworfen werde, insbesondere die Adams. In einem gekonnten Abriss stellte der Festredner die angeblichen Verdienste und vielfältigen Publikationen Adams heraus, allerdings ohne in irgendeiner Form auf das eifriges Mittun des Tübinger Dogmatikers (emeritiert 1948) im nationalsozialistischen Deutschland einzugehen. Dass Adam im Jahr 1933 die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland enthusiastisch begrüßte und daraufhin unter anderem vom Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg, der bereits 1933 gegen die Verfolgung der Juden Partei ergriff, scharf kritisiert wurde, ist dem Dr. h.c. Graber kein Gedanke der Reflexion wert. Ebenso wenig  Adams tatkräftige Versuche, zur Nazi-Ideologie eine Brücke zu schlagen, die er auch in den Jahren nach 1933 nicht veränderte, wie seine Biographin Lucia Scherzberg resümiert. ((Lucia Scherzberg, Eintrag zu Karl Adam in BBKL, (http://www.bautz.de/bbkl/a/adam_k_b.shtml, Stand 2009).))

Vielmehr kommt Graber im Vortrag auf Adams Werk Jesus Christus (1933), das ihn zutiefst ergriffen habe, zu sprechen und gerät, über vierzig Jahre nach dem Erscheinen der Publikation, darüber in vorkriegszeitliches Schwärmen. Folgt man hingegen dem Kirchenhistoriker Denzler, ist die Publikation Jesus Christus, das Hauptwerk Adams, „voll von antijüdischen Klischees der Christologie und problematischen Assoziationen seiner ‚völkisch-nationalen‘ Anthropologie.“ ((Denzler, 2003, S. 57.)) Wie schon im Vortrag Deutsche Sendung  von 1933 bezieht sich Graber im Abschluss seines Festvortrags auf Adams Vorarbeiten und thematisiert ein weiteres Mal den drohenden Untergang Europas. Aber: noch sei „das Abendland die bevorzugte Stätte des göttlichen Segens“. ((Graber, 1967, S. 32.))

Das Szenario mutet aus heutiger Sicht Nazi-gespenstisch an: ein Bischof, der in Schulbüchern für Religionsunterricht beispielhaft als nationalsozialistischer Theologe/Ideologe benannt wurde, bekommt von seinen, ihm untertänigen, Theologieprofessoren den Ehrendoktorhut aufgesetzt, was er als Gelegenheit nutzt, den berüchtigten NS-Theologen Adam zu rehabilitieren, indem er ihn, nichts zuletzt aus Eigeninteresse, durch eine überschwängliche Würdigung und Anknüpfung an die gemeinsame, am Abendland orientierte Vorkriegstheologie aus der Damnatio memoriae , der Verdammung des Andenkens, reißt. Die universitäre h.c.-Festgemeinde Regensburgs hat sich, soweit bekannt, daran nicht gestört und Prof. Joseph Ratzinger, der auch in schwieriger Zeit immer in herzlichen Kontakt mit Graber stand, ((Vgl. Joseph Ratzinger, Worte der Widmung, in: Johann Auer (Hg.), 1980, S. 10.)) lies sich das Jahr darauf von Graber zum Erzbischof von München weihen.

Graber und die „KZ-Priester“

Das letzte Beispiel für Grabers ‚Theologie nach Auschwitz‘ stammt aus dem Jahr 1982. Damals trafen sich die „ehemaligen Dachauer KZ-Priester“ in Regensburg zum Jahrestreffen und Rudolf Graber, der bereits 1981 vom Bischofsamt und Mitte September 1982 als apostolischer Administrator entpflichtet worden war, durfte eine Predigt halten.

Er freue sich, dass es ihm „vergönnt ist, einmal mit Ihnen gemeinsam Eucharistie zu feiern“ und er Stellung zu dem nehmen könne, was die Priester „in jenen furchtbaren Jahren erlitten haben“ und allmählich der Vergessenheit anheim falle. ((Rudolf Graber, Verfolgt um Christi Willen (Predigt 22.10.1982), in: Bischöfliches Domkapitel Regensburg (Hg.), Dienst am Wort, 1983, S. 258-261. Hier S. 258, alle weiteren Seitenangaben aus dieser Publikation.)) Die Menschen von heute würden nämlich nicht an jene 12 Jahre erinnert werden wollen.

Bereits nach Lektüre der Einleitung fragt man sich unwillkürlich, was Worte wie vergönnt und vergessen bzw. nicht erinnern wollen in diesem Zusammenhang bedeuten sollen und ob der ehemalige Administrator sein eigenes Verhalten im Nazi-Regime wohl je reflektiert hat.

Im weiteren Verlauf der Predigt meint Graber, die alte Kirche hingegen habe – anders als heute – ihrer Märtyrer gedacht, sie habe ein „aera martyrum“ gekannt. Gewiss spreche man „viel über Delp, Edith Stein und Maximilian Kolbe; Auschwitz ist beinahe zu einem Wallfahrtsort geworden, an dem man sich auf die Knie niederläßt.“ An den noch Lebenden, „die doch auch Zeugnis abgelegt haben“, gehe man jedoch vorbei. (S. 259)

Bedenkt man, dass Maximilian Kolbe von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1971 selig- und drei Wochen nach dem Jahrestreffen der vormals im KZ Dachau inhaftierten Priester heiliggesprochen (10.10.1982) und seit langem als Märtyrer von Auschwitz verehrt wurde, erscheint Grabers abschätzige, sachlich falsche und unlogische Rede umso befremdlicher.

Graber fährt, Auschwitz nivellierend, fort mit einem fast „entschwundenen Gedanken“, wonach die „ganze Welt- und Heilsgeschichte […] eigentlich eine aera martyrum“ sei. Es scheint so, „als ob Verfolgung, Gefängnis und Tod so etwas wie eine Existenzform des Christlichen“ sei und nicht die Kathedrale uns zu stehe, sondern die Katakombe. Dies sei eine schuldlose Haft, die jeden Christen treffen könne. Hier gelte es, so der Mahner Graber unter anderem an die „KZ-Priester“ gerichtet, „zu einer Gewissenserforschung“ überzugehen, zu fragen, „ob unser christliches Lebensgefühl sich zu stark dem Angenehmen, dem Auskömmlichen, der Bedürfnisbefriedigung zugewandt“ habe. ((Hier wird deutlich wie sehr sich Graber Lebensgefühl von dem eines „KZ-Priesters“ unterschieden hat.)) (S. 260)

Das Furchtbarste sei jedoch, so Graber auf den verharmlosenden Punkt kommend, „die Leiden und Opfer der KZ haben mit ihrem Ende bei uns 1945 die anderen KZ in der Welt nicht aufgelöst, sie sind immer mehr geworden.“ Die Gefangenschaft des Teufels aber, sei schlimmer „als jedes irdische KZ“, denn diese seien im Gegensatz zu der teuflischen Haft nicht ewig. Es gelte das Gewissen zu prüfen: „Bist du nicht mitschuldig an den Gewalttaten in der Welt, weil du nicht heilig bist? […] Oder sind wir im geistigen Sinn rückfällig und Gefangene des Bösen geworden?“

War Graber mitschuldig oder vom satanischen Hass getrieben, diese Fragen drängen sich hier auf – sie werden von ihm aber nicht weiter beantwortet.

Mit einem Dank und Lobpreis an Gott, der „Ihnen [den Priestern] die Kraft für die Martyria verliehen hat“, schließt die Predigt. (261)

Das Bezeichnende an dieser Predigt ist ihr Zwang, alles zu einem Brei zu nivellieren: die KZs, die Christen, das Böse, die Zuhörer, die Schuld, die NS-Verfolgung, etc. Die Abspaltung und Verdrängung des eigenen biographischen Handelns geht dem voraus. Mehr als skandalös ist es, dass Graber die Gedenkstätte Auschwitz als (fast) Wallfahrtsort in die Nähe des Götzendienstes, an dem man sich niederkniet, rückt und die von ihm namentlich genannten „Märtyrer des NS-Regimes“ nur despektierlich, anscheinend von einem gewissen Neid und Missgunst getragen, unter die Rubrik Es-wird-viel-davon-gesprochen einordnet. Bemerkenswerterweise befindet sich darunter auch sein Neudeutschland-Bundesbruder, der Priester und Jesuit Alfred Delp (Graber nennt ihn nur „Delp“), dem 1941 die Druckerlaubnis entzogen wurde, als Graber sich kurz zuvor wegen einer Publikationserlaubnis mittels „Heil Hitler“-Schreiben dem NS-Regime unterwarf. Als Mitglied des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke wurde Delp wenige Tage nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 verhaftet, vom Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten Blutrichters Freisler zum Tode verurteilt und im Februar 1945 ermordet. Ein Angebot der GeStaPo, „Freilassung gegen Ordensaustritt“, schlug Delp aus.

Ob sich welche der ehemals in Dachau inhaftierten Priester aus der Zuhörerschaft über Grabers Vortrag beschwerten, ist nicht überliefert. Anlass und Grund hätten sie genug gehabt, da Graber vormals als Neudeutscher Geistlicher Reichsleiter mit seiner judenfeindlichen Reichs-Theologie das „Dritte Reich“ als Teil der Heilsgeschichte dargestellt und angepriesen hatte. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden katholische Priester in nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert; für die gesamte NS-Zeit waren es insgesamt 417 deutsche Priester, 183 davon überlebten die Haft nicht. ((Karl-Joseph Hummel, Deutsche Geschichte 1933-1945, 1998, S. 194.)) Verfolgung, Gefängnis und Tod in der NS-Zeit waren für Christen nicht, wie Graber theologisch-spekulativ behauptet, „so etwas wie eine Existenzform des Christlichen“, sondern die Folge einer persönlichen, unangepasst-widerständischen Haltung gegenüber dem NS-Regime. Anders als bei Sinti, Roma, Juden und „Behinderten“, die einer staatlichen bzw. „rassischen“ Vernichtungspolitik ausgesetzt waren, lag der Verfolgung von Christen, die nicht deckungsgleich ist mit der strukturell anti-kirchlichen Politik des NS-Regimes, eine persönliche Haltung zu Grunde. Eine politische Haltung, der sich gerade der Theologe Graber wohlfeil enthalten hatte. Dies ergibt sich auch aus den Erinnerungen des bereits genannten Eichstätter Dompfarrers Kraus, der in einer europaweit bekannt gewordenen Predigt (31. Januar 1937) gegen die „Verlogenheit der NS-Presseberichterstattung über die vermeintliche Sittenlosigkeit im deutschen Klerus“ Stellung bezog. Folgt man Kraus, bewegte sich der damalige Domkaplan Graber nicht innerhalb der Kreise, die sich gegen das NS-Regime politisch positionierten. ((Ludwig Brandl, BBKL Eintrag zu Johannes Kraus (Verlag Traugott Bautz), (Stand 9.4.2011); ders., 1995, S.80.))

„Wahrheit und Aufrichtigkeit“

Rudolf Graber hat dem Nationalsozialismus in seiner Frühphase eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben und diese an exponierter geistlicher Führungsposition vielfach vertreten und engagiert verbreitet. Er entwickelte eine katholische Reichs-Theologie, in der christliche Judenfeindschaft mit antisemitischer NS-Ideologie verschmolzen wird. Zentrale Kategorie ist hierbei das Ideologem von der Auserwählung bzw. Sendung des deutschen Volkes zum sacrum imperium, für das Dritte Reich. Es ist deutlich geworden, dass Graber dem berüchtigten NS-Theologen Karl Adam im völkischen Bestreben, zwischen der Katholischen Kirche und dem rassistischen NS-Staat eine theologisch begründete Brücke zu schlagen, nur in der Dauer seines aktiven Engagements nachsteht.

Die Untersuchung eines aussagekräftigen Ausschnitts seiner Publikationen, Predigten und Vorträge seit den 1950-er Jahren ergab, dass Graber seiner geschichtstheologischen Suche nach dem sacrum imperium treu geblieben ist, sie zur Modifikation mit marianischen Thesen angereichert und in der Kategorie „ausgewähltes Volk“ nur Deutschland durch Abendland/Europa ersetzt hat. Die Rede von Israel als „verworfenes Volk“ jedoch, taucht noch in den Publikationen der 1970-er Jahre und gepaart mit marianischen Spekulationen auf.

Als singuläres Ereignis ist Grabers Ansprache zur Woche der Brüderlichkeit von 1963 zu werten, als er in seinem Vortrag zu diesem Anlass ein verklausuliertes Schuldeingeständnis formulierte und sich den weitreichenden Überlegungen öffnete, die mit dem II. Vaticanum aufkamen und christliche Judenfeindschaft wie nie zuvor problematisierten. In dieser Rede, und nur da, begriff Graber sein Handeln während der NS-Zeit implizit als schuldbeladen und Teil des satanischen Hasses, der zur Vernichtung der europäischen Juden führen sollte.

Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Staats stand Graber, wie viele andere auch, nicht zu seiner persönlichen Vergangenheit. Nachdem er (1967) intern damit konfrontiert wurde, stilisierte er sich anfangs zum Opfer des NS-Regimes und schon ein Jahr später (1968) wollte er nur noch kein Nazi-Anhänger gewesen sein.

Nachdem manche Massenmedien, wie etwa im Juni 1969 Der Spiegel, Grabers Wirken in der NS-Zeit öffentlich thematisierten, sprach er schlicht und dreist von einer Polemik gegen seine Person und erwartete er von seinen Getreuen Schützenhilfe. Solche fand er freundlicher Weise in den Publikationen und Ehrungen der Katholischen Fakultät der Regensburger Universität, insbesondere beim damaligen Vizepräsidenten Joseph Ratzinger, der ihm als Professor lehramtlich untergeordnet war. Ratzinger blieb seinem Mitkonsekranten Graber auch nach seiner Bischofsweihe bzw. seinen Wechseln nach München und Rom treu, indem er ihm z. B. im August 1986 schönrednerisch ein Standhalten-wie-nur-ganz-wenige „gegen den Ungeist des Dritten Reichs“ attestierte. Andere Autoren aus dem bischöflichen Umfeld haben diese gefällige bzw. sachlich falsche Bewertung aufgenommen und ohne Substanz weiter ausgeschmückt.

Diesem Untersuchungsergebnis steht unter anderem die schöngefärbte Würdigung des derzeitigen Regensburger Bischofs G. L. Müller diametral gegenüber. Müller scheint darüber hinaus, an Grabers geschichtstheologische Nachkriegsideologie anknüpfen zu wollen, so z.B. als er im März 2010, kurz nach seiner anfangs genannten Predigt zu dessen Todestag, in einer Ansprache zum 100-jährigen Bestehen des Katholischen Deutschen Frauenbundes meinte, die katholische Kirche sei heute – wie damals 1941 – existenziellen Angriffen und Vernichtungsversuchen ausgesetzt. „Brandsätze“ werden Müller zu Folge in diesen Tagen auf das Haus Gottes geworfen, um es angeblich zu vernichten. Zu dieser Ansicht gelangte Müller durch seinen Vergleich von einerseits, der anti-kirchlichen Politik des NS-Regimes und andererseits, den Presseberichten, die im Jahr 2010 zu den Vorfällen von körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch durch katholische Priester veröffentlicht wurden. Müllers Vorgehen zeigt ein banalisierendes Funktionalisieren der NS-Zeit an, weshalb er damit seinerzeit nur auf Unverständnis und landesweite Proteste stieß.

Da es sich Bischof G.L. Müller (auch) im Zusammenhang mit der schöngefärbten Bewertung seines Vorgängers Graber nicht verkneifen konnte, darauf hinzuweisen, ein katholischer Bischof könne „nur die Wahrheit wählen“, hat er sich und der katholischen Kirche (erneut) einen Bärendienst erwiesen. Insbesondere deshalb, weil er sich mit seiner unhistorischen und dogmatisch vorgetragenen Paarung aus ‚Bischof und Wahrheit‘ in offensichtlichem Widerspruch zu der Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz stellt, wie z. B. der aus dem Jahr 1988, die anlässlich des 50. Jahrestag der November-Pogrome auch von der Schuld „unserer Vorgänger im Bischofsamt“ spricht, bzw. davon „daß die Kirche, die wir als heilig bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige und der Umkehr bedürftige Kirche“ sei. ((Zitiert nach Denzler, 2003, S. 222.)) Oder auch im offenen Widerspruch steht zu jener Erklärung zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, die von der antijüdischen Einstellung im kirchlichen Bereich handelt und von Versagen und Schuld spricht.

„Nicht wenige haben sich von der Ideologie des Nationalsozialismus einnehmen lassen und sind bei den Verbrechen gegen jüdisches Eigentum und Leben gleichgültig geblieben. Andere haben den Verbrechen Vorschub geleistet oder sind gar selber Verbrecher geworden“. ((Ebd. S 223.))

Vieles davon trifft auch auf den Theologen Rudolf Graber zu. Wer entgegen der historischen Wahrheit und unter offenkundiger Ausblendung einer eindeutigen Quellenlage in der Person Rudolf Graber bzw. in dessen Arbeiten nur einen weltanschaulichen Gegensatz zum Nationalsozialismus sehen will, macht sich mehr als unglaubwürdig. Insbesondere wenn man den eigenen Angaben zufolge, als Teil der Kirche Jesu Christi handelt und demnach „der Wahrheit und Aufrichtigkeit verpflichtet“ sein möchte.

© R. J. Werner , Juli 2011

3 Kommentare

  1. Puuh .. der Artikel war mir zu lang .. ab der Hälfte hab ich heftig ‘geblättert’.“

    Ganz und gar kein Ausspruch, der von Weisheit, Reife, gar Interesse an Zeitgeschichte zeugte. Geschrieben hat ihn ein hier einschlägig bekannter, nicht ernst zu nehmender Schwafler, ein unseriöser Plauderer, ein selbstherrlicher Schwätzer, ein Niemand.

    Herzlichen Dank an den Autor für den wertvollen und hochinteressanten Beitrag, der uns am Beispiel eines in weiten Kreisen bis in die Gegenwart in hohem Ansehen stehenden bayerischen Kirchenfunktionärs belegte, wie sehr doch der alte Hass auch weit über das magische Jahr ’45 hinaus noch in Hirnen und Herzen unserer katholischen Mitbrüder und Mitschwestern weiterwirkte und noch weiterwirkt. 

    Wünschenswert wäre nun noch ein Aufsatz, der uns die ganze elende Wahrheit über jenen anderen bayerischen Bischof, über Michael Buchberger (1874-1961), bescherte. Die ausgesprochene und durch nichts zu entschuldigende Feigheit dieses Kirchenoberen kostete immerhin einst den Domprediger Johann Maier das Leben.
    Von größtem Interesse wären  ferner Untersuchungen zahlreicher Lexikoneinträge in den von Buchberger verantworteten kirchlichen Nachschlagewerken, besonders jene die Juden, Judentum, Judas usw. Betreffenden. Da seine Exzellenz auch in anderen Bereichen publizistisch hochaktiv war, fänden sich gewiss auch dort so manche Hinweise auf den wahren Geist, von dem dieser ‚heilige‘ Mann einst umweht war.

    Es wäre schön, wenn sich noch mehr befähigte Zeitgenossen bereit fänden, besonders die Zeitgeschichte sowie Kleriker- und Politiker-Biografien unseres Bundeslandes einer kritischen und nötigen historischen Revision zu unterziehen.    

  2. Puuh .. der Artikel war mir zu lang .. ab der Hälfte hab ich heftig ‚geblättert‘.

    Als ‚zahlender Katholik‘ und einziges Kind meiner Eltern, dass NICHT auf der Gehaltsliste der katholischen Kirche steht .. sozusagen schwarzes Schaf .. obwohl ’schwarz‘ doch eigentlich auf katholische Zugehörigkeit verweist .. 😀 ..

    Jedenfalls – dass Papa Ratzi ziemlich borniert und engstirnig ist, dem stimme ich zu. Und vor allen Dingen kritisiere ich, dass ihm eine kirchenkadavertreue Einstellung wichtiger ist als jede Distanz zu menschenverachtenden Idiologien.

  3. Die wahnhafte Ãœberzeugung das „christliche Abendland“ gegen Moderne, Marxismus, Islam, etc. ritterhaft verteidigen zu müssen, hat  Anders Behring Breivik nicht erfunden – den Plan, Dutzende von Menschen auf einer Fjord-Insel zu ermorden, jedoch schon.
    In Rudolf Grabers Naziideologie lautet dieser Wahn 1933 so:
    „Hieß es bei der Entstehung des hl. Reiches: Rettung des Imperium Romanum vor Chaos-Antichrist oder Islam, so heißt es heute: Das dritte Reich als Rettung des Abendlandes vor dem Chaos des Bolschewismus, asiatischer Barbarei.“
    Allerdings konnte schon der Regensburger Bischof Graber aus einer langen antidemokratischen, rassistischen, antisemitischen Tradition schöpfen, die Europa bzw. Deutschland als Nabel der Welt sieht.

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