„Saloniki“ im Jüdischen Lexikon von 1927

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In Ergänzung früherer Beiträge zu verschiedenen Aspekten jüdischen Lebens in der südosteuropäischen Metropole Saloniki sollen hier Informationen aus einem angesehenen deutsch-jüdischen Lexikon der Jahre vor dem „Dritten Reich“ wiedergegeben werden…

Von Robert Schlickewitz

Das aus fünf Teilbänden bestehende und vollständig erschienene Jüdische Lexikon(„Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet von Dr. Georg Herlitz und Dr. Bruno Kirschner. Unter Mitarbeit von über 250 jüdischen Gelehrten und Schriftstellern“) bestand unabhängig neben der noch wesentlich umfangreicheren „Encyclopaedia Judaica“, deren erste Bände ebenfalls ab den 1920er Jahren in der Reichshauptstadt Berlin erschienen, die jedoch durch die politischen Umstände nicht weiter als bis zum Buchstaben „L“ geführt werden konnte und die somit ein Fragment blieb.

Das Mitarbeiterregister des „Jüdischen Lexikons“ enthält neben der Angabe des Namens, knappe Informationen zu akademischem Grad, Beruf, Zugehörigkeit zu einer Schule, Universität oder anderer Einrichtung des jeweiligen Autors. Der hier interessierende „Saloniki“-Artikel stammt von dem Philologen David F. Markus, dem, zum Zeitpunkt der Drucklegung des Lexikons, Oberrabbiner der aschkenasischen Gemeinde von Istanbul. Markus war bereits zuvor mit Veröffentlichungen zur Philosophie, seinem Fachgebiet, hervorgetreten, so u.a. mit „Die Associationstheorieen im XVIII. Jahrhundert“  (1901), oder mit dem kürzlich wieder neuaufgelegten „Die Giltigkeit Unserer Erkenntnis Der Objektiven Welt“ (ISBN-13: 9781142103279).

In seinem Saloniki-Beitrag stützte sich Markus, wie seinem Verzeichnis zu entnehmen ist,  auf erfreulich viel nicht-deutsche, in erster Linie französisch- und italienischsprachige, Literatur.

Unsere besondere Beachtung verdienen in seinem Lexikonartikel u. a. der damalige (1927) allgemeine Kenntnisstand um das jüdische Leben Salonikis vor der Ankunft der Sefarden aus Spanien und Portugal, ferner die Bayernbezüge, die hier mit einer ganz bestimmten Herrscherpersönlichkeit namentlich verbunden werden, sodann die von Markus genannte Zahl der nach der Episode Sabbatai Zewi zum Islam übergetretenen Juden und schließlich das, was wir über den Anteil der Juden aus Saloniki an der Politik der Türkei und Griechenlands im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts erfahren.

Zu manchen Angaben des Artikelautors aus dem fernen Istanbul hätte man heute  gern mehr gewusst: Was, zum Beispiel, war das für ein Komitee, das sich um eine Annäherung von Juden und Griechen bemühte? Wie wir heute wissen, kann dessen Tätigkeit nicht sehr erfolgreich gewesen sein, denn die Lebensbedingungen der Juden in Saloniki verschlechterten sich ab dem Zuzug der Griechen kontinuierlich bis in die 1930er Jahre hinein. Oder – was ist über die frühe Zeitungskultur der Juden von Saloniki bekannt geworden, wo lagen dessen Vorbilder, welche Richtungen vertraten die Blätter, etc.

Saloniki

(von den Griechen Thessalonik, von den Slaven Solun genannt), alte berühmte Hafenstadt in Mazedonien mit 60 000 J. (=Juden) unter ca. 237 000 Einwohnern (1926). Wann sich in S. die ersten J. angesiedelt haben, ist unbekannt.

Als der Apostel Paulus i. J. 53 nach S. kam, fand er bereits eine große j. Gemeinde vor (…). Über das Los der J. in S. während der folgenden Jhdte. ist nichts überliefert. Im 9. Jhdt. findet man überall auf der Balkanhalbinsel Juden aus S. verbreitet. In S. selbst hatten sich die J. zu dieser Zeit hohe Verdienste um die Entwicklung des Handels und des Handwerks erworben; sie wurden daher auch in Anerkennung ihrer Verdienste zur Zeit des ersten Kreuzzuges von jeder Steuer befreit.  Doch betrug die Zahl der J. in S. 1173 nach Angabe Benjamins von Tudela nur 500. Infolge der häufigen Vertreibungen der J. aus Frankreich, Italien, Sizilien, Kalabrien und Polen im 13. und 14. Jhdt. nahm die Zahl der J. in S., die entsprechend ihren Ursprungsländern , in mehreren Gemeinden organisiert waren, bedeutend zu. Zu einer wirklichen Blüte gelangten die J. der Stadt freilich erst unter türkischer Herrschaft. Die ersten türkischen Sultane räumten ihnen große Vorrechte ein, die ihnen weite Entwicklungsmöglichkeiten eröffneten. Um 1470 bildete sich in S. eine neue j. Gemeinde unter dem Namen „Frank“ oder „Frankfourt“; sie vereinigte j. Flüchtlinge aus Bayern, die unter Ludwig IX. dem Reichen von Bayern-Landshut aus dem Lande geflohen waren. Daß S. schon während dieser Periode ein Zentrum j. Wissens und j. Bildung gewesen ist, bezeugen die großen Gelehrten, die damals dort lebten, so der Astronom Salomo ben Elia, Vf. (=Verfasser) von „Scharwit hasahaw“, und Sabbataj hakohen, dessen tiefe Gedanken Schule machten.

 

Eine wesentliche Änderung im j. Leben der Stadt trat mit der großen Judeneinwanderung aus Spanien und Portugal in den Jahren 1493 und 1496 ein. Der Zuzug der sefardischen Juden brachte neue Kräfte und schuf eine neue Gemeindeorganisation. Die älteren j. Einwohner paßten sich bald den neuen Verhältnissen an und nahmen bald die Sprache und die Sitten ihrer sefardischen Brüder an und gingen mit der Zeit völlig in ihnen auf. Unter den bedeutendsten sefardischen Flüchtlingen, die sich in dieser Zeit in S. niederließen, sind besonders zu nennen: Efraim Karo und sein Sohn Josef der Vf. des Schulchan Aruch, der Arzt Salomon ben Chabib, Abraham Chazan, Don Juda Benveniste, der der Stadt S. seine reiche Bibliothek schenkte, Jakob ibn Habib, der Vf. des En Jakob, und viele andere. S. wies unter solchen Verhältnissen  bald große Jeschiwot sowie Schulen für Wissenschaft und Mystik auf. Einer der bedeutendsten Vertreter der Kabbala zu dieser Zeit war Josef Taytasak, dessen Schüler u.a. Salomon Molcho war. Das reiche Leben der J. Salonikis drohte aber bald unter dem Drucke der übermäßigen Steuern, die die Sultane den J. auferlegten, zusammenzubrechen. Nicht weniger als 19 Steuerarten hatten die J., besonders die Kaufleute, zu zahlen, sodaß eine große Auswanderung erfolgte. Außerdem vernichteten ausgedehnte Brände 1545 und 1620 die j. Stadtviertel. Die Geschichte weiß auch von großen inneren Streitigkeiten innerhalb der J.-heit S.‘s zu erzählen, die ein starkes Hindernis für die Entwicklung der Gemeinde bildeten. Insbesondere teilte der Aufenthalt Sabbtaj Zewis in Saloniki (1659) die dortige Judenheit in zwei Lager. S. war neben Smyrna das bedeutendste Zentrum dieser Bewegung, deren Seele in S. bis 1740 Berachja war. Auch Jakob Frank hielt sich in S. auf. Mehr als 3000 Juden schlossen sich damals dem Islam an (…). Im 18. Jhdt. standen bereits wieder bedeutende Männer an der Spitze der dortigen J.-heit.

 

Die Gemeinde S. hat in den letzten 50 Jahren, insbesondere seit der jungtürkischen Bewegung, einen hohen Aufschwung genommen, und die Aufwärtsentwicklung dauert auch unter den Griechen fort, unter deren Herrschaft die Stadt seit dem ersten Balkankriege steht. Unter der Herrschaft der Türken bildeten die J. die Majorität der städtischen Bevölkerung, sodaß der Sabbat als allgemeiner Ruhetag galt, an dem die Banken geschlossen waren und alle Arbeit im Hafen ruhte. Gegenwärtig ist hierin eine völlige Änderung eingetreten. Infolge des Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland sind viele Balkangriechen (Byzantiner) in S. eingewandert, und es scheint, daß diese Zuzügler den Antisemitismus (…) mitgebracht haben.

 

S. zählt über 30 Synagogen, die alle der Großgemeinde unterstellt sind; diese weist auch ein vorbildliches j. Krankenhaus (Hospital Baron Hirsch), mehrere j. Apotheken usw. auf. Verdienstvoll ist auch die Waisenfürsorge der Gemeinde, für die mehrere Vereine tätig sind.

 

Tiefe Wurzeln hat unter der heutigen j. Bevölkerung S.‘s der j. Nationalismus geschlagen, der u. a. großes Interesse für die moderne hebr. Sprache wachgerufen hat. In der letzten Zeit entfaltet auch die Bne Briss-Loge sowie das Komitee für Annäherung zwischen dem j. und griechischem Element eine segensreiche Tätigkeit. Das j. Schulwesen ist in S. besonders entwickelt. Neben der „Talmud-Tora hagadol“, der großen Gemeindeschule, die 1633 gegründet, rund 1500 Schüler zählt, der Gemeindeschule zu Vardar und der kleinen Talmud-Tora („Talmud tora hakatan“ in Calamaria) besteht eine ganze Reihe jüdischer Volksschulen, die teils Gründungen der Alliance Israelite Universelle, teils des Hilfsvereins der deutschen Juden sind. Das 1515 in S. gegründete j. Druckereiwesen hat zahlreiche Werke hervorgebracht, auch das Zeitungswesen war schon früh entwickelt. Saloniki besitzt ferner eine große j. Bibliothek und eine Reihe von Jeschiwot. Für die Erhaltung des Sabbats kämpfen in S. alle J. ohne Unterschied der religiösen Richtung, insb. seitdem der Sonntagsruhezwang in der Zeit nach dem Weltkriege zu eine wirtschaftlichen Schädigung der J. geführt hat.

 

Die Juden S.‘s sind wegen ihrer Geschäftstüchtigkeit weithin bekannt. Sie sind noch heute führend im Handel und in der Industrie, aber auch am Handwerk und an den freien Berufen stark beteiligt. Bes. bekannt sind die j. Lastträger im Hafen von S. Politisch sind die J. in S. bes. in der jungtürkischen Bewegung, die in S. ihren Hauptstützpunkt hatte hervorgetreten. Unter den 4 im Jahre 1908 ins türkische Parlament gewählten J. war auch ein Vertreter von S.

 

Aber auch unter griechischer Herrschaft  nahmen die J. S.‘s am öffentlichen politischen Leben regen Anteil. So zählt das griechische Parlament vier jüdische Deputierte aus S. und in der letzten Zeit König Konstantins war der J. Peppo Malach Finanzminister (…).

Anmerkung:

Der Text wurde wörtlich und unverändert vom Original übernommen, lexikoninterne Verweise sowie das Literaturverzeichnis hingegen nicht berücksichtigt; Erklärungen zu den Abkürzungen der Lexikonredaktion stehen kursiv in Klammern.

Literatur:

Michael Heymann, The Uganda Controversy: Minutes oft he Zionist General Council, Transaction Publishers 1970, S. 37
David F. Markus, Die Associationstheorieen im XVIII. Jahrhundert, Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, 15. Heft, Halle a.S., M. Niemeyer, 1901

–> Das verborgene „Jerusalem des Balkans“

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