Zionismus ist eine im Zarenreich des 19. Jahrhunderts entstandene Bewegung des europäischen Judentums. Die Bewegung hatte das Ziel, dem in Europa diskriminierten und verfolgten Judentum durch einen eigenen Staat zu Selbstbestimmung und „Normalität“ zu verhelfen…
A) Zionismus, 1 x pro, 4 x kontra.
Der Name „Zionismus“ sollte die Kontinuität zur jüdischen Tradition ausdrücken: Die alte religiöse Sehnsucht nach Gottes Rückkehr zum Berg Zion (in Jerusalem) sollte durch diese Bewegung ihre reale Erfüllung erhalten.
Jedoch war damals die große Mehrheit der Zionisten (nicht der Juden) unreligiös oder sogar anti-religiös. Denn der Zionismus verstand sich als ein modernisierendes Element innerhalb des Judentums. Die traditionelle jüdische Kultur und Mentalität traf bei vielen Zionisten auf Verachtung. So wandten sie sich gegen die jiddische Sprache, die sie als „Jargon“ und Sklavensprache der Diaspora ansahen, und belebten stattdessen erfolgreich das Hebräisch der heiligen Bücher zu einer im Alltag gesprochenen Sprache wieder.
Als Anti-Zionisten kann man entsprechend solche Leute bezeichnen, die diese Bewegung ablehnen. Viele Juden taten dies, aus guten und schlechten Gründen. Selbstverständlich definierten sie sich nicht negativ – als „Anti-Zionisten“ – , sondern positiv:
– als religiöse traditionelle Juden (so wie die meisten aus der Familie meines Vaters). Ihre Argumentation: Judentum ist eine Religion, deren Gebote und Verbote zu befolgen sind, und mitnichten eine politische Bewegung eines „Volkes“. Emanzipation und Selbstbestimmung liegen in Gottes Hand. Die Zionisten profanisieren unzulässigerweise eine spirituelle Frage.
– als jüdische Bürger ihres Staates (so wie die meisten aus der Familie meiner Mutter). Ihre Argumentation: Judentum ist eine Religion wie andere auch. Man kann nicht loyaler Bürger zweier Staaten sein. Emanzipation ist daher individuell im Rahmen des jeweiligen Staates zu erreichen. Beispielsweise war der einzige Jude im britischen Kabinett 1917, Edwin Montagu, aus diesen Gründen strikt gegen die Deklaration des britischen Außenministers Lord Balfour zur Gründung einer Jüdischen Heimstätte in Palästina (s. Chaim Weizmann: Memoiren, S. 303ff.). Und diese Ansicht war nicht auf Arrivierte wie Montagu beschränkt. Ihr individuelles Glück zu suchen war offensichtlich auch das Lebensmotto der Hundertausende von Juden aus dem Zarenreich, die sich auf die Auswandererschiffe nach Übersee zwängten.
– als jüdische Sozialisten, vor allem im „Bund“ („Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“). Ihre Argumentation: Emanzipation der Juden als nationale Gruppe mit eigener Sprache und Kultur muss im eigenen Land und mit der eigenen Sprache erfolgen: in Litauen, Polen und Russland, und mit der tatsächlich gesprochenen Sprache, dem Jiddischen. Der Bund wurde nach der Oktoberrevolution von den herrschenden Bolschewisten zerschlagen.
– als herkunftsunabhängige Sozialisten und Kommunisten. Ihre Argumentation: Die Unterdrückung der Juden ist nur in einer unfreien, ungleichen Gesellschaft möglich, als eigenes Problem irrelevant und durch die Schaffung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen zu ändern: Marx, Lassalle, Eduard Bernstein, Bronstein (Trotzki), Kaganowitsch, Sinowjew, Kamenew, Rosa Luxemburg, Ernest Mandel, Heinz Brandt, Bruno Kreisky und viele andere.
In meinen Augen sind alle diese Ansichten richtig und falsch – Religiosität, Zionismus, individuelle Emanzipation, Emanzipation als Gruppe, Emanzipation der ganzen Welt. Jede dieser Ansichten habe ich geteilt, jeder dieser Ansichten habe ich widersprochen und beides tue ich immer noch. Irgendeine dieser Ansichten in eine Schublade namens „Anti-Zionismus“ zu stecken ist eigentlich nur möglich, wenn man die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Freund und Feind einteilt – wenn man also nur bis zwei zählen kann.
B) Im Zionismus: pro und kontra Jüdischer Staat
Zionismus hat, wie oben gesagt, das Ziel, den Juden durch einen eigenen Staat zu Selbstbestimmung, „Normalität“, eigener Kultur und Sprache zu verhelfen.
Die Geschichte des Zionismus ist eine Geschichte der Auseinandersetzung über dieses Ziel.
Es mag überraschen: Leute, die den Jüdischen Staat als Ziel ablehnten, bildeten Führung und Rückgrat der Zionistischen Bewegung.
Die Meinekestraße ist vom Bahnhof Zoo aus gesehen die erste Querstraße links zum Kurfürstendamm, bebaut mit schönen Berliner Gründerzeit-Reihenhäusern. Das Haus Nr. 10 gehörte seit 1925 der „Jüdischen Rundschau“, dem Zentralorgan der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Wie es auf der Gedenktafel am Haus heißt (Foto: R.V.), verhalf diese Vereinigung etwa 50.000 Menschen zur Auswanderung. Die meisten werden wohl nach Palästina gegangen sein, in die „Jüdische Heimstätte“ unter britischer Herrschaft.
Chefredakteur der zionistischen Jüdischen Rundschau von 1919 bis 1938 war Robert Weltsch. Unter anderem publizierte er 1933 eine Serie von Artikeln „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ (an die sich beispielsweise meine Mutter noch gut erinnern kann). Er emigrierte 1938 nach Palästina, lebte und arbeitete nach dem Krieg in England und starb 1982 in Israel.
Interessant ist, was dieser Zionist vom jüdischen Staat hielt. Er lehnte ihn ab! Und er schildert in seinem Essay von 1951 „A Tragedy of Leadership“ über die Autobiografie Dr. Chaim Weizmanns, dass dies die entscheidende Frage für die zionistische Bewegung und für ihren Führer war, für Dr. Chaim Weizmann, den Mann, der 1917 erreichte, dass der britische Außenminister, Lord Balfour, im Auftrag seiner britischen Regierung die Erklärung herausgab, dass diese Regierung die Errichtung einer jüdischen Heimstätte auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs anstrebte. (Deutsche Übersetzung der folgenden Zitate aus dem Essay: R.V.)
„Die Geschichte des Zionismus 1917-1948 … wird dominiert von der permanenten Auseinandersetzung zwischen Dr. Weizmann und der von ihm geführten Bewegung … Auf den Kongressen war die Mehrheit gegen seine Politik, wenn nicht sogar gegen ihn als Person, und am Ende hatte man keine Wahl als ihn wiederzuwählen, denn es gab keinen alternativen Kandidaten. Der Konflikt kulminierte 1931, als Weizmann zurücktreten musste; vier Jahre später musste er wiederberufen werden, da die Bewegung in dieser sehr unruhigen Zeit kopflos war … Aber die Beziehung hatte sich nicht sehr verändert. … Nun tauchte ein neuer Gegner aus den Reihen der Partei auf, die immer Weizmanns loyalste Unterstützer war, in der Person von Herrn David Ben-Gurion, der offen Weizmann während des Krieges 1939-1945 und auf dem Kongress 1946 bekämpfte und der seine eigene politische Agenda und den sogenannten „Aktivismus“ organisierte … den Dr. Weizmann niemals guthieß. Bereits 1940 hatte Weizmann praktisch allen Einfluss auf das Geschehen in Palästina verloren und wurde nicht einmal mehr über die Ereignisse informiert.“ (S.212-213).
„Weizmann war der einzige in den Reihen der Zionisten der mit britischen Ministern auf Augenhöhe umgehen konnte, und instinktiv wusste das die zionistische Bewegung. Es gab niemanden, der so mutig und effektiv für die jüdische Sache auftreten konnte.“ (S. 217)
„Bereits 1919 beunruhigte ihn die Frage, die ihn nach seinen Worten den Rest seines Lebens beschäftigen würde, nämlich: ‚Warum mussten wir von Anfang an Feindschaft, oder bestenfalls frostige Neutralität, der britischen Vertreter vor Ort [d.h. im britischen Mandatsgebiet Palästina, R.V.] erleben? … Warum war es eine fast universelle Regel, dass Verwaltungsbeamte, die bei ihrer Ankunft uns günstig zugeneigt waren, sich nach wenigen Monaten gegen uns stellten?‘ Die Antwort ist relativ einfach. Die Offiziellen vor Ort glaubten – zu Recht oder Unrecht – dass es das zionistische Ziel war, die Araber ihres Landes zu berauben, oder sie zu dominieren, und sie lehnten den Gedanken ab, dass eine Minderheit eine Mehrheit dominieren sollte. …
Während all dieser Jahre wurde die zionistische Bewegung nicht müde zu betonen, dass die Juden nicht nach Palästina kämen, um die Araber zu dominieren; und sie erklärten feierlichst zu vielen Anlässen, dass kein Araber aus dem Land vertrieben werden sollte. Nur Jabotinsky sagte offen schon auf dem Kongress von 1921, dass Palästina nicht mit dem Einverständnis der Araber zu besiedeln sei und dass Amerika eine Wildnis geblieben wäre, wenn die weiße Besiedlung vom Einverständnis der Indianer abhängig gewesen wäre. Der Kongress war über diesen Vergleich schockiert. Niemand akzeptierte Jabotinskys Argumentation, dass das ganze Unternehmen letztlich militärisch sein würde … Weizmanns Formel war in den Jahren des scharfen Konflikts in der Folge des arabischen Aufstands von 1929 …, dass ‚die Juden nicht dominieren wollen und nicht dominiert werden wollen‚. Praktisch, wenn nicht sogar wörtlich, bedeutete dies … [das] Programm eines bi-nationalen Staats, wo beide Gemeinschaften gleiche Rechte und innere Autonomie haben würden. Die offizielle zionistische Position … wurde aus den zionistischen Reihen bestritten … besonders … von den Revisionisten, die unter Führung Jabotinskys ‚einen jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordan‘ als das Ziel des Zionismus proklamierten, ohne zu erläutern, was mit der nicht-jüdischen Bevölkerungsmehrheit Palästinas geschehen solle.
Die Sache kulminierte auf dem schicksalhaften Treffen des zionistischen Generalrats in Berlin im August 1930 … Weizmann, provoziert durch die Tiraden der Revisionisten, erklärte unverblümt, dass die Umwandlung Palästinas in einen Jüdischen Staat … unmöglich sei, da wir die Araber nicht vertreiben könnten und wollten. … Die Araber, sagte er, seien ’so gute Zionisten wie wir‘: auch sie liebten ihr Land und könnten nicht überredet werden, es jemand anderem zu überlassen. … Weizmanns Rede in Berlin wirkte als Bombe, obwohl diese Dinge schon lange debattiert worden waren. Niemals zuvor war dieser Aufruf zum Realismus mit solcher Autorität und so klar formuliert worden; es gab kein logisches Argument dagegen … [Trotzdem] protestierten die meisten Diskussionsteilnehmer sofort gegen Weizmanns Worte. „(S. 219-221)
Am Vorabend des 17. Kongresses in Basel 1931 gab Weizmann der Jüdischen Telegraphen-Agentur (JTA) ein Interview, in dem er sich offen gegen die Idee wandte, einen Jüdischen Staat als das Ziel des Zionismus zu proklamieren. Laut JTA sagte er, ‚die Welt wird diese Forderung nur in eine Richtung deuten: dass wir eine Mehrheit erlangen wollen, um die Araber zu vertreiben.‘ Das Interview verursachte einen Sturm, und ein Misstrauensantrag wurde gestellt. Kurioserweise waren die zionistischen Parteien auf zweifache, durch und durch widersprüchliche Weise schockiert. Sie lehnten Weizmanns Implikation ab, dass ihr Programm als ein Wunsch zur Vertreibung der Araber interpretiert werden könnte. Auf der anderen Seite waren sie strikt gegen jede Politik, die irgendwelche Restriktionen beinhalten würde, die darauf ausgerichtet wären, eine Vertreibung der Araber zu vermeiden.“ (S. 223f.)
„Als er 1944 [nach Palästina] zurückkam, fand er eine völlig andere Atmosphäre vor. [in seinen Worten] ‚ … das tragische, vergebliche, un-jüdische Zurückgreifen auf Terrorismus, eine Perversion der reinen Verteidigungsfunktion der Haganah‘ … Die neue Generation militanter und selbstaufopfernder Nationalisten in Palästina hatte keine Spur übrig von dem humanistischen Zionismus, mit dem Weizmann identifiziert war.“ (S. 225).
„Die Wahrheit war, dass ein Kapitel zionistischer Geschichte zu Ende war. Neue Kräfte waren an die Oberfläche gekommen, und alle außer einer kleinen Gruppe von Old-Timern – waren überzeugt, dass eine neue Zeit – das barbarische post-Hitler-Zeitalter des 20. Jahrhunderts – neue Methoden benötigte, sehr verschieden von dem, was Dr. Weizmann und seine Freunde befürwortet hatten.“ (S. 226).
Was Robert Weltsch resigniert als „Old-Timer“ bezeichnete, waren meiner Meinung nach die besten Köpfe des Judentums innerhalb der zionistischen Bewegung: Chaim Weizmann selbst, sein Mentor Ascher Ginsberg (Achad ha’Am), Martin Buber, Hannah Arendt, später Mosche Scharett, Nachum Goldmann, Uri Avnery und viele andere – aber gewisslich die Minderheit.
Sollte ich eine Rangreihe der übelsten Typen innerhalb der zionistischen Bewegung aufstellen müssen, so ist Nr.1 nicht der von Weltsch erwähnte Wladimir Se’ev Jabotinsky. Dieser Mann hatte Format, er sprach das aus, was andere nicht zu denken wagten. Er war ein Ultra-Nationalist und viele seiner Sprüche und Gedanken klingen faschistisch, aber er war wenigstens ehrlich. Nein, Nr.1 ist David Ben-Gurion: Weizmanns Gegner ab 1935, der Mann, der Jabotinskys gewalttätiges Programm umsetzte, ihn aber bis über seinen Tod hinaus als Konkurrenten fürchtete (als dieser 1940 auf einer USA-Reise starb, verbot er die Bestattung der Leiche in Palästina), der ohne jede Skrupel bereits 1938 die Pläne zur Vertreibung und Enteignung der Araber ausarbeiten ließ und sie ab 1947 umsetzte, der in der von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung einen demokratischen Rechtsstaat mit gleichen Rechten für jedermann proklamierte, aber die arabischen Vertriebenen ihres Besitzes beraubte, ihre Rückkehr mit Gewalt verhinderte und die Verbliebenen unter Militärrecht stellte.
Es ist eine Schande, dass nach diesem Mann eine Straße in Berlin benannt ist. Konsequenterweise sollte man die Tiergartenstraße, die die Ben-Gurion-Straße kreuzt, in Slobodan-Milosevic-Straße umbenennen und die Lennéstraße in Karadzic- Mladic-Boulevard.
C) Die deutschen Befindlichkeiten
Konrad Adenauer wusste: Er bekommt Deutschland nur wieder in die Weltgemeinschaft, wenn er sich mit den USA gut stellt. Das Eintrittsticket dafür war Unterstützung des Staats Israel: 1952 unterzeichnete Deutschland das Luxemburger Abkommen, in dem als „Wiedergutmachungsleistung“ die Lieferung von Waren im Werte von 3 Milliarden DM an Israel vereinbart wurde. Deutschland wurde pro-zionistisch. Und so ist es geblieben bis heute: „Sie wissen ja, wir können nicht anders als Deutsche, die Vergangenheit …“.
Dass das bei Adenauer nichts mit moralischer Umkehr von der Nazizeit zu tun hatte, sieht man leicht daran, dass der pro-zionistische Adenauer den antisemitischen Bürokraten Dr. Hans Globke zu seinem wichtigsten Mitarbeiter machte und Kritik daran an sich abperlen ließ. Ebenso mag es ein Zufall sein, aber ist symptomatisch für die Adenauer-Zeit, dass der erste große Prozess über die Verbrechen in Auschwitz erst im Jahr des Endes von Adenauers Kanzlerschaft begann, 1963. Pro-Zionismus und völlige Nonchalance gegenüber Antisemitismus gingen bei Adenauer trefflich zusammen.
Dass Pro-Zionismus und Antisemitismus zusammengehen, war keine Ausnahme von der Regel, sondern ist logisch. Denn wenn heutzutage die kleinen neonazistischen Gruppierungen „Ausländer raus“ fordern – was bedeutet das? Es heißt: Raus aus Deutschland, „zurück“ in die Türkei, in den Irak, nach Albanien etc. Würden sie es wagen, offen „Juden raus“ zu fordern, dann hieße das: Raus aus Deutschland, „zurück“ nach Palästina! Das ist das Wesen von Fremdenhass: Die „Fremden“ sollen aus „unserem“ Land in „ihre Heimat“ verschwinden. Genau so war es in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft: Zynische Sympathie für den Zionismus war die logische Kehrseite des Antisemitismus.
Dies änderte sich bei den Nazis erst 1939, als sich Hitler im totalen Krieg mit dem Weltjudentum wähnte. Nun ging es nicht mehr um die Reinhaltung des deutschen Volkskörpers durch Verdrängung der Juden, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod: Juden mussten vernichtet werden, wo immer man sie antraf. Auch in Palästina hatten sie kein Lebensrecht, sonst würden sie Deutschland vernichten. Hitler weitete seinen Fremdenhass gegen Juden von seinem Deutschland auf sein Europa aus und auf die ganze Welt, denn die Welt sollte ihm gehören: Seinem Deutschland oder dem Weltjudentum, so sah er das. Mit Gegnerschaft speziell gegen das zionistische Projekt hatte dieser Verfolgungswahn nichts zu tun. Im harten Ringen gegen das Weltjudentum ließ er sie alle umbringen: meine Urgroßeltern Emma, Leopold, Hedwig, meinen Großvater Arnold, meinen Stief-Großvater Bruno, meine Großmütter Hanna und Miriam, meine Onkel Jonas, Heinrich, Pinchas, meine Tanten Berta, Paula, Laura, meine Halbbrüder Heinrich, Me’ir, Zwi und viele andere.
Wie sollten sich in den 60er-Jahren Deutsche gegenüber dem atemberaubenden Adenauer’schen Pragmatismus verhalten, wenn sie sich an moralischen Leitlinien orientieren wollten? Alles erschien richtiger als Adenauers kalte Distanzierung und kühle Berechnung: Aktion Sühnezeichen versuchte die echte Wiedergutmachung der Sünden der Eltern gegenüber Judentum und Israel auf einer persönlichen Ebene. Eine sich öffentlich immer weniger artikulierende nostalgische Grundstimmung trauerte dem „gesunden“ Hitler’schen Nationalismus der frühen 30er Jahre nach. Und Teile der Linken und insbesondere die ML-Bewegung, die für alle, die in den 70er-Jahren studierten, einflussreich war, verbanden den Zorn gegen diese „Ewig-Gestrigen“ mit einer bedingungslosen Solidarität für die von unserem westlichen Bündnis Unterdrückten von Heute – und das waren die nationalen oder sozialistischen Bewegungen nicht nur in Vietnam, Südafrika, Kambodscha, Zimbabwe, Guinea-Bissao, Angola, Mozambique, El Salvador, Nicaragua, Guatemala, Chile, Kurdistan, Nord-Irland, Portugal, Baskenland, sondern auch in Palästina. Das war konsequent. Es war gespeist von dem richtigen Gefühl, dass ein radikaler Bruch mit der Nazi-Vergangenheit nötig war. Insbesondere wenn weiterhin große Teile der deutschen Politiker in den 70er Jahren, besonders aus der CDU/CSU, sich in Solidarität mit den Schlächtern Franco und Pinochet, dem Südafrikanischen Apartheid-Regime und anderen USA-freundlichen Diktaturen übten.
Die Kehrseite der Konsequenz der deutschen Linken der 70er Jahre war, dass diejenigen Teile der Realität verleugnet wurden, die diese Konsequenz störten. Am drastischsten geschah dies in Bezug auf Kambodscha. Auch der Autor dieser Zeilen hielt die Berichte über den Massenmord des Pol-Pot-Regimes an seinen kambodschaner Bürgern – 30 Jahre nach Auschwitz und in gleicher Quantität und Brutalität wie der NS-Massenmord an den Juden Europas – zunächst für imperialistische Greuelpropaganda.
Darüber redet heute keiner mehr. Alles vergessen. Alle haben, 66 Jahre nach den deutschen Verbrechen an den Juden Europas, 59 Jahre nachdem Adenauer es kaltschnäuzig vorgemacht hat, die „richtige Linie“ entdeckt: „Solidarität mit Israel als deutsche Staatsräson“, denn „wir Deutschen können ja nicht anders“.
Peinlich in seinem Scheuklappendenken.
Zur Veranschaulichung eine kleine Tabelle.
für Juden | indifferent oder sowohl für als auch gegen Juden | gegen Juden | |
für jüdischen Staat | Jabotinsky | Stalin (bis ca. 1950) Adenauer |
Hitler (bis 1939) |
sowohl für als auch gegen jüdischen Staat | Weizmann, Scharet, Goldmann | ||
gegen jüdischen Staat | Buber, Arendt | Hitler (ab 1939) Stalin (ab ca. 1950) |
Da kann sich nun jede(r) mit seiner Biografie in seinen verschiedenen Lebensabschnitten selbst verorten. Zur heutzutage „politisch korrekten“ Einstellung (Jabotinsky) siehe oben, in Teil (B).
D) Zusammenfassung und eigene heutige Meinung
Es gab und gibt eine Menge guter Gründe gegen das Projekt eines „Jüdischen Staats“. Weder historisch noch logisch hat die Gegnerschaft gegen dieses Projekt etwas mit Antisemitismus zu tun.
Der Staat Israel wird sich in Frieden nur halten können, wenn er den Ausgleich mit der nichtjüdischen Bevölkerung im Staat und in seiner Nachbarschaft sucht und wenn er von einem ethnokratischen Besatzerstaat in eine gerechtere politische Form übergeht.
Es gibt dazu zwei Alternativen. Die eine Alternative ist der Untergang Israels. Die andere Alternative ist das Andauern des gegenwärtigen Unrechtszustands; den unmittelbaren Preis für diese Alternative werden weiterhin die Palästinenser zu zahlen haben, aber mittelbar auch die Unterstützer dieses Unrechtszustands, besonders die westlichen Länder und die jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels, in Form der Verachtung der Weltgemeinschaft und in Form von „terroristischen“ Akten aus Empörung über diese Unterstützung.
Zitierte Quellen:
- Chaim Weizmann: Memoiren – Das Werden des Staats Israel. Horovitz Publishing Company, London 1951
- Robert Weltsch: A Tragedy of Leadership. In: Jewish Social Studies, Bd. 13 (3). Juli 1951.
Meine Hochachtung gilt den wenigen deutschen Politikern, die sich für die friedliche Lösung einsetzen, indem sie den Blick auf das Unrecht lenken, so wie Norman Paech, Inge Höger, Wolfgang Thierse, Ruprecht Polenz, Hermann Dierkes.
Mein Beileid gilt den vielen deutschen Politikern, die mit „wir können ja nichts tun als Deutsche …“ den Unrechtszustand unterstützen; eingehüllt in einen Kokon der wohlfeilen Betroffenheit über die Vergangenheit glauben sie, sie könnten nichts tun gegen Unrecht und Leiden in der Gegenwart.
[1] veröffentlicht in: Semit, Sondernr. 1/2011. © Rolf Verleger, verleger@onLuebeck.de