Die Meinhardts (II)

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Diese Schrift ist dem Andenken unserer Großeltern Franz Meinhardt und Margarethe Meinhardt, geb. Löwenthal gewidmet, die 1942 im Holocaust umgekommen sind. Sie ist auch unseren Eltern Gerd Meinhardt und Käte Meinhardt, geb. Luft gewidmet, die 1939 Nazi Deutschland verlassen konnten und in Chile Aufnahme und Schutz fanden, um dort ein neues Leben beginnen zu können. Sei ihr Andenken selig. (Z.L.)…

Von Albert Michael Meinhardt und Dr. Yehuda (Franki) Meinhardt
[1. Teil]

Die „Reichskristallnacht“ in Schwedt

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 ereignete das reichsweite Pogrom, der als die „Kristallnacht“ bekannt wurde, weil so viele Scherben und zerbrochene Glasscheiben liegen blieben. In Schwedt drangen einige SA- Männer in jüdische Häuser ein, plünderten und zerstörten Mobiliar. Auch die kleine Synagoge in Schwedt wurde geplündert und die Einrichtung zerstört. Danach wurden die Mauern mit einem schweren Fahrzeug gerammt und teilweise zum Einstürzen gebracht. Die Synagoge wurde aber nicht abgebrannt, weil sie mitten im Wohngebiet lag. Das Ritualbad, die „Mikweh“ wurde mit Unrat zugeschüttet und war nicht mehr benutzbar. ((Information über die „Kristallnacht“ in Schwedt, wurde von Karin Herms zur Verfügung gestellt.))

Am darauf folgenden Morgen wurden Großvater, Vater und alle männlichen Schwedter Juden verhaftet. Sie wurden ins kleine Polizeigefängnis in Schwedt gebracht. Fremde Polizisten aus der Kreisstadt  wurden für die Verhaftungen eingesetzt. Haben sich die Schwedter Polizisten geweigert

ihre angesehenen und ehrlichen Mitbürger zu verhaften? Vater wunderte sich später darüber.

Großvater konnte nicht verstehen, was vor sich ging, immer und immer wieder fragte er, „was habe ich verbrochen?“, er konnte nicht verstehen, warum er grundlos verhaftet worden war. 

Großvater und die noch Älteren blieben einige Tage im kleinen Schwedter Gefängnis und wurden danach wieder freigelassen. Die jüngeren, wie unser Vater, wurden erst nach Berlin-Moabit ins Gefängnis überbracht, wo sie schwer misshandelt wurden. Nach einer Woche dort  wurden sie ins KZ Sachsenhausen in Oranienburg, nördlich von Berlin eingeliefert. Dort blieb Vater bis Anfang Februar 1939. Seine Häftlingsnummer war 13698, wie wir in den Archiven von Yad Vashem herausgefunden haben.

In Sachsenhausen waren verschiedene Gegner des Regimes inhaftiert. Es gab politische Gefangene, wie Sozialdemokraten, Kommunisten und andere, es gab Gefangene wegen ihrer religiösen Überzeugung, wie Zeugen- Jehowas und einige katholische und evangelische Geistliche und auch gewöhnliche Kriminelle. Alle Gruppen wohnten strikt getrennt. Jede Gruppe hatte ein eigenes farbiges Dreieck zur Unterscheidung  auf der Gefängniskleidung aufgenäht. Es gab eine strenge Hierarchie unter den Gefangenen, in der die Kriminellen ganz oben standen und die anderen Häftlinge schikanierten. Ganz unten in der Leiter waren die “Novemberjuden”, also die Juden, die nach der Kristallnacht verhaftet worden waren und zu denen nun unser Vater gehörte. Die Juden trugen ein gelbes Dreieck. Vater  hat wenig über diese Zeit dort erzählt, nur auf ein ständiges Gefühl der Angst und der Ungewissheit, was der nächste Tag bringen würde, hingewiesen. Man hauste in schlecht geheizten Baracken, schlief in Stockbetten auf Stroh, meistens 2 pro Bett, denn man hatte nicht mit so vielen “Novemberjuden” gerechnet. 6.000 wurden innerhalb weniger Tage eingeliefert. Es war bitterkalt, der Winter zwischen 1938 und 1939. Es gab sinnlose Arbeitseinsätze, stundenlange Stehapelle, morgens und abends. Dazu  Demütigungen und Schikanen der SS-Wachen. ((„Sachsenhausen“, VEB Verlag der Wissenschaften, Berlin 1981.))

Auch aus Breslau kamen schlechte Nachrichten. Die Brüder meiner Mutter, Franz, Herbert und der Schwager Werner, waren ins KZ Buchenwald verschleppt worden. Trude war allein mit ihrem Baby Mariannchen und zog zu ihren Schwiegereltern. Innerhalb eines Monats kamen die Männer aus Buchenwald zu unterschiedlichen Zeitpunkten wieder frei und die zuerst kommenden, konnten über die noch gebliebenen im KZ berichten und wenigstens ein Lebenszeichen von ihnen bringen. Die Freilassungen waren genauso willkürlich wie die Inhaftierungen.

Unsere Mutter begriff nun, dass es höchste Zeit war, das Land zu verlassen. Es wurde behauptet, dass KZ-Gefangene, die ein Visum vorzeigen konnten und die nötigen Schritte und Formalitäten für die Ausreise erledigt hätten, sofort aus der Haft entlassen würden. So fuhr nun Mutter fast täglich nach Berlin und reihte sich dort in die Warteschlangen vor den verschiedenen Konsulaten ein, um ein Visum zu beantragen. Die Leute, die in den Warteschlangen standen, erzählten allerlei Geschichten  über ihre Erfahrungen bei der Visa- Suche. Dieses waren meistens nur Gerüchte, die Mutter nur noch mehr verwirrten und verunsicherten.

Schwedt liegt nicht weit von Berlin, so konnte sie jeden Abend zurück nach Schwedt fahren.

Sie versuchte Visa für irgendein Land zu bekommen, sofern es nicht in Europa lag. Aber es war nicht einfach, ein Visum zu bekommen. Fast alle Länder hatten Einschränkungen bei der Vergabe von Visa und  Quoten für die Aufnahme von Emigranten eingeführt. Manche Länder nahmen nur Leute auf, die bestimmte Fähigkeiten oder Berufe hatten, andere Länder verlangten eine perfekte Gesundheit oder schränkten das Alter der Antragsteller ein.

Für die USA bekam man eine Nummer auf einer Warteliste und man musste einen Bürgen in den Vereinigten Staaten haben, der für den Unterhalt garantieren sollte. Diese eidesstattliche  Erklärung nennt man Affidavit. Unsere Familie hatte keinen solchen Bürgen. England nahm keine weiteren jüdischen Flüchtlinge auf. England hat circa 10.000 jüdische Kinder aufgenommen, die in sogenannten „Kindertransporte“ alleine ohne ihre Eltern nach England kamen. Von Schwedt wurden nur  wenige Kinder auf  „Kindertransport“ geschickt, unter ihnen Hans- Joachim Markes, damals 13 Jahre alt, und seine Schwester Brigitte (Gitta) Markes, die 11 Jahre alt war. In England wurden sie in einem „Boarding School“ aufgenommen. Gitta lebt heute als Gitta Zalmons-Rossi in Süd-Afrika. Die Markes waren die Enkelkinder von Hugo Meinhardt, ein Cousin von Großvater. Die Eltern der Kinder waren Dr. Leo Markes, der Zahnarzt in Schwedt war (später in Hattingen), und seine Frau Hilda Ruth Meinhardt. Sie blieben in Deutschland und wurden von Hattingen aus 1943 nach Ausschwitz deportiert und dort Ermordet. Auch Leo Markes hatte im 1. Weltkrieg teilgenommen und war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.

Durch die englische Botschaft in Berlin konnte man ein Visum für eine der britischen Kolonien beantragen. Die Gouverneure dieser Kolonien konnten selbständig entscheiden ob sie jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollten. Kenia nahm einige auf. Indien weigerte sich zunächst, nahm aber 1940 auf Veranlassung von Jahawrahl Nehru einige jüdische Flüchtlinge aus Polen auf.

Kanada, Australien, Neu-Seeland und Süd-Afrika waren unabhängige Länder im britischem Empire und hatten somit ihre eigenen Bestimmungen und Einschränkungen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Auf jeden Fall hat Mutter auch für diese britischen Länder ein Visum ersucht. Sie füllte unzählige  Antrags- Formulare aus und wartete auf eine Antwort. Die Antworten waren alle negativ.

Sie wendete sich auch an Lateinamerikanische Länder wie Mexiko, Guatemala, Peru, Brasilien, Uruguay, Chile und Argentinien. Das Resultat war gleich, meistens gab es eine negative Antwort oder im günstigsten Fall die Einschreibung in eine Warteliste.

Überraschenderweise bekam sie ein Visum für die britische Kronkolonie Trinidad und Tobago. Dieses Visum wurde durch die britische Botschaft vermittelt, war doch England der koloniale Verwalter dieser karibischen Inseln. Dieses Visum war aber nur ein „Scheinvisum“, um es den Nazi- Behörden vorzuzeigen und damit die Freilassung von Vater aus Sachsenhausen zu erreichen.

Aber es hat nichts genützt, denn außer dem Visum musste man alle nötigen Papiere und Formalitäten für die Ausreise vorzeigen, und diese Prozedur dauerte Wochen.

Mutter ging meistens nicht alleine zu den Konsulaten in Berlin, sie wurde von Lisbeth Meinhardt begleitet, der Frau von Kurt Meinhardt, einem anderen Cousin von Großvater. Kurt M. war der jüngste von Großvaters Generation und hatte im 1. Weltkrieg als deutscher Soldat teilgenommen und war hoch dekorieret worden. Er war nach der „Kristallnacht“ nur einige Tage im Schwedter Gefängnis inhaftiert gewesen, (wie die älteren Männer). Sofort danach wollte er mit seiner Frau Lisbeth und den zwei Töchtern Gisela und Ruth so schnell wie möglich das Land verlassen.

Kurt Meinhardt hatte vom Krieg einen großen Revolver, Kaliber 38″, mitgebracht. Vater besaß auch eine kleine Waffe, Kaliber 22″, die er sich Anfang der 30er- Jahre zugelegt hatte. Es gab damals viele Überfälle auf den Wegen, auf denen er oft mit seinem Auto zu den Kunden in Bremen und Hamburg unterwegs war. Diese Waffe war nicht registriert und  er hat sie nie einsetzen müssen und wir wissen nicht, ob er sie überhaupt richtig benutzen konnte. Alle Waffen in jüdischen Händen mussten den Behörden übergeben werden. Sollten Waffen in einem jüdischen Haus gefunden werden, drohten den Bewohnern die schlimmsten Strafen. So ging Mutter mit Tante Lisbeth (so wurde Lisbeth M. genannt) in der folgenden Nacht nach der „Kristallnacht“ an die Oder- Brücke und sie warfen diese Waffen, die sie in einer Einkaufstasche versteckt hatten, in den Fluss. (Alle Männer waren ja noch inhaftiert). Sie wollten nicht, dass diese Waffen in Nazi-Hände fallen sollten. Dies war ein kleiner Akt des Widerstandes, der Genugtuung verschaffte, aber der sicher nicht viel am Verlauf des Krieges geändert hat.

(Kurt, Lisbeth und ihre beiden Töchter haben schließlich Argentinien nach einer langen Odyssee erreicht. Darüber wird später berichtet werden).

Anfang Februar 1939 kam unser Vater plötzlich frei, auch ohne ein Visum vorzeigen zu können. Er konnte von einem Telefon in einer Gaststätte am Bahnhof von Oranienburg nach Schwedt telefonieren. “Komm mich abholen”, sagte er unserer Mutter, “und vergiss nicht einen Hut mitzubringen”. Er war kahl geschoren und wollte nicht, dass die Leute  im Zug den “Volksfeind” anstarren sollten. Die Freude war groß, meine Mutter eilte nach Oranienburg, wo unser Vater im Bahnhof auf sie wartete.

Freudig wurde er in Schwedt erwartet. Er erholte sich schnell von den Strapazen der Haft. Nun gingen  Vater und Mutter gemeinsam auf  Visumssuche in Berlin. So gegen Ende Mai gab es schließlich einen Erfolg. Die Republik Chile gewährte ein Visum. Trotzdem auf dem Visumstempel Kosten von U$ 40.- eingetragen waren, musste man pro Kopf  U$ 1.000.- bezahlen. Es gab strenge Devisenwirtschaft im Nazi- Reich, es war fast unmöglich, Devisen frei zu bekommen. Nun sprang die Senatorenfamilie Rasch aus Bremen ein und verschaffte schnellstens die Devisen, die sie in Reichsmark ausbezahlt bekamen. Sie hatten ja Devisen- Konten, um den Tabakhandel international abzuwickeln. Auch arrangierten sie ein kleines Depot in einer Bank in den USA, wo die Familie Rasch eine Summe überweisen konnte. Man durfte ja nur 10 RM pro Kopf offiziell aus dem Lande mitnehmen. So wurde dort ein Betrag für die erste Zeit nach Verlassen des Landes bereitgestellt.

Es gab immer noch anständige und hilfsbereite Menschen in Deutschland, wie die Familie Rasch, die mit den Nazis überhaupt nicht übereinstimmte.

Jahre später in Chile kam heraus, das diese Visumskosten von den Konsularbeamten bis hinauf zum Außenminister in die eigene Tasche geflossen waren. Da haben noch einige sich eine goldene Nase an den Flüchtlingen verdient. Aber mein Vater sagte später, “Hauptsache, wir konnten uns dadurch retten und Deutschland noch rechtzeitig verlassen“.

Mit dem Visum in der Hand fühlten sie sich sicher, es galt 6 Monate  und sie verschoben zunächst die Ausreise. Sie wollten nun die Großeltern überzeugen, auch den Weg nach Chile zu gehen, man konnte engste Verwandte auf dem Visum mitnehmen. Aber Großvater sagte, ”einen alten Baum verpflanzt man nicht, wir Alten werden euch nur ein Hindernis im fremden Land sein, geht nur, wir halten hier die Stellung, solange bis dieser Hitler wieder weg ist”. “Aber es wird sicher Krieg kommen”, sagte Vater. “Dann wird der Hitler erst recht schnell weg sein”, antwortete Großvater.

Na ja, der Krieg kam und Hitler kam innerhalb von 6 Jahren weg, aber nicht so wie Großvater es sich vorgestellt hatte. Dazu später noch.

Mutters Zwillingsschwester Trude in Breslau, (die genau 15 Minuten älter war und eine exakte Kopie von ihr war, (ein eineiiger Zwilling, heute würde man es ein Natur- Klon nennen)) ging aufs brasilianische Konsulat in Berlin. Ihr Ehemann und ihre beiden Brüder waren im KZ Buchenwald verhaftet. Drei Vettern ihres Mannes, Werner Glaser, waren schon 1936 nach Brasilien gegangen und konnten nun eine Garantie- Erklärung  für ihren Cousin abgeben, eine “Chamada” auf  Portugiesisch. Geistesgegenwärtig schrieb sie auch die Namen ihrer beiden Brüder auf die Liste. Diese waren am Anfang außer sich: “Ohne uns zu fragen schreibst du uns auf, was sollen wir in Brasilien?” sagten sie. Nach einiger Zeit änderten sie ihre Meinung und ergriffen die Gelegenheit, Deutschland zu verlassen. Ende Februar 1939 waren Trude und Werner mit Baby Marianne sowie die Brüder Franz und Herbert, also 5 Personen, bereit das Land zu verlassen und zusammen nach Brasilien auszureisen. Aber die Schiffe waren überfüllt und im März 1939 gab es nur 2 Plätze auf der “Conte Grande”, die von Genua nach Rio und Santos fuhr. So reisten zunächst die beiden Brüder Franz und Herbert nach Santos, um in Sao-Paulo eine Unterkunft für sich und die Familie ihrer Schwester vorzubereiten.

Bei der nächsten Fahrt der “Conte Grande”, Ende April fuhren Trude, Werner und Mariannchen nach. Im Mai 1939 waren alle wohlbehalten in Sao-Paulo angekommen. Trude hat sicher auch ihrer Zwillingsschwester  angeboten, sie auf die Visa- Liste nach Brasilien zu setzen, aber meine Mutter hat keinen Gebrauch davon gemacht. Wir wissen nicht, warum? War der Grund, dass auf diesem Visum nach Brasilien die Großeltern in Schwedt nicht aufgenommen werden konnten? Vater wollte zu diesem Zeitpunkt das Land nur zusammen mit seinen Eltern verlassen. Die Großeltern in Schwedt waren nun mal keine direkten Verwandten von Werner Glaser und konnten nicht in dieses Visum eingetragen werden. Wie schon beschrieben, weigerten sich die Großeltern in Schwedt kategorisch, das Land zu verlassen.

Kurz noch einige Worte über die „Brasilianer“. Werner und Trude bekamen einige Jahre später in Sao-Paulo einen Sohn, Alfredo. Marianne und ihr Bruder wuchsen in Brasilien auf. Marianne ist verheiratet, sie hat zwei Töchter und vier Enkelkinder. Franz, der älteste Bruder von Mutter, heiratete nach dem Krieg. Seine Ehe blieb kinderlos. Alle Nachkommen leben heute in Brasilien, nur Herbert, der zweite Bruder von Mutter ging nach dem Krieg in die USA und heiratete dort Hilde Dreyfuss aus Frankfurt am Main. Ihre Tochter Mishka ist verheiratet und hat zwei Söhne, sie alle leben in den USA.

Unsere  Großmutter mütterlicheseits, Elise Luft, geb. Laqueur ist Ende Mai 1939 in einem Seniorenheim in Breslau verstorben. In diesem Heim hatte sie die letzten Jahre gelebt. Sie wurde im jüdischen Friedhof neben ihrem Mann beigesetzt. Nur einige wenige Familienmitglieder, die sich noch in Deutschland befanden, kamen zur Beerdigung.

Gegen Ende Juni/ Juli 1939 entschlossen sich unsere  Eltern, nun doch schleunigst alle Formalitäten für die Ausreise auszuführen. Es galt, die Prozeduren für die Auswanderung zu durchlaufen, es waren viele Behördengänge und Schikanen ohne Ende. Die Reichsfluchtsteuer musste bezahlt werden und alle möglichen Bescheinigungen eingeholt werden. Sie mussten neue Pässe beantragen, die mit einem großen Buchstaben „J“ (für Jude) markiert waren und die nun die Zwangszusatznamen Gerd „Israel“ und Käte „Sara“ enthielten.

In Berlin hatte mein Vater einen Bekannten, der im Auswärtigen Amt arbeitete. Er sagte meinem Vater, “Gerd, mach, dass du vor dem 26. August raus aus Deutschland bist”. Mein Vater nahm diesen Hinweis nicht sehr ernst, was sollte schon dieser Freund wissen, er hatte nur einen kleinen Posten in Ribbentrops Riesen-Ministerium. Jahre später las mein Vater in einer Zeitschrift in Chile, dass der Angriff auf Polen schon am 26. August von Hitler angeordnet worden war, nur eine letzte Vermittlung zwischen Deutschland und Polen, vom italienischem Außenminister Graf  Ciano,

dem Schwiegersohn Mussolinis, angeregt und vom britischen Botschafter in Berlin Henderson ausgeführt, verschob den Angriff, sehr zum Ärger Hitlers, um einige Tage bis zum 1. September 1939. Wie konnte diese Information bis zu den niederen Rängen durchkommen? Oder war es Teil einer Desinformations- Kampagne? Oder gab es im Auswärtigen Amt Hitler- Gegner, die diese Information weitergaben? Wir konnten nicht herausfinden, wer dieser Bekannte von Vater war.

Meine Eltern kamen dann doch noch vor dem 26. August aus Deutschland raus. Sie buchten eine Passage auf der “Leipzig”, ein Handelsschiff des Norddeutschen Lloyds (NDL), das auch 30 Kabinen für Passagiere hatte. Das Schiff fuhr üblicherweise von Bremen zur Pazifik- Seite des amerikanischen Kontinents. Sie bekamen Platz für Mitte August von Bremen nach Valparaíso.

Das Schiff sollte noch in Antwerpen zu einem Zwischenstopp in Europa anlegen. Unsere Eltern entschlossen sich, ihr Gepäck nach Bremen zu schicken, aber selbst in Antwerpen an Bord zu gehen. Nach neuesten Nazi- Bestimmungen durften Juden kein deutsches Schiff mehr von Deutschem Boden aus betreten.

Es durfte nur eine Kiste von bestimmter Größe mitgenommen werden und es gab eine lange Negativliste von Sachen, die man nicht aus dem Reich ausführen durfte. Dazu musste man eine genaue  Liste des Inhalts in fünffacher Ausführung ausfüllen. Man packte Bettwäsche, Kleidung, Schuhe, einige Bücher, usw. ein. Durch den Philo-Atlas hatte man einige Erkundungen über das ferne Land eingeholt, über das Klima usw. Der Philo- Atlas wurde von einem jüdischen Verlag herausgebracht und brachte Informationen über alle möglichen Einwanderungsländer.

Die Kiste musste von Zollbeamten in Schwedt kontrolliert werden. Normalerweise erwartete man, dass nun alles wieder ausgepackt werden musste, alles kontrolliert und viele Gegenstände  nicht für die Ausfuhr erlaubt würden, wobei die Beamten sich oft gleich Sachen persönlich mitnahmen. Aber es kamen zwei freundliche Beamte, die die Liste, die mein Vater auf der Schreibmaschine vorbereitet hatte,  akzeptierten, die Kiste nicht nochmals öffneten, sondern sie geschlossen ließen und versiegelten. Dann ging sie mit der Spedition nach Bremen auf die “Leipzig“.

Nun kam der Moment des Abschiedes, von den Eltern, von den Verwandten und den wenigen noch verbliebenen Freunden in Schwedt. Es war wirklich nicht leicht, sein Land, in dem man aufgewachsen war, mit dessen Sprache und Kultur man tief verbunden war, für wahrscheinlich immer zu verlassen.

Mit leichtem Handgepäck fuhren sie nun mit dem Zug Richtung Belgien.

Als der Zug zu später Abendstunde in Aachen am Bahnhof eintraf, stiegen zwei unfreundliche Polizeibeamte in den Zug und als sie die Pässe der Eltern mit dem “J” sahen, forderten sie sie auf, den Zug zu verlassen. Auf dem Bahnsteig durchwühlten sie das Handgepäck und schrien und schimpften. Aber alle Papiere waren in Ordnung, sie fanden kein extra Geld als die erlaubten 10 RM und mein Vater erklärte, dass die Kiste schon in Bremen an Bord gebracht wurde. Die ganze Prozedur war nur noch eine letzte Schikane zum Abschied aus dem Reich.

Der Zug war weg, sie setzten sich auf eine Sitzbank und warteten in der kühlen, aber angenehmen Augustnacht auf den nächsten Zug nach Belgien, am nächsten Morgen um 6 Uhr früh.

Kaum war dieser Zug über die Grenze gefahren, umarmten sie sich, sie wussten, dass sie nun draußen waren, weg von unmittelbaren Gefahren. Sofort spürte man die leichtere Atmosphäre in Belgien. Die Leute, die zustiegen, wirkten unbeschwert, von Leichtigkeit und Sorglosigkeit getragen.

In Deutschland, im Zug, war jeder misstrauisch gegen jeden, die Leute saßen still und lautlos, um nur kein falsches Wort zu sagen, das man als Kritik am Regime verstehen könnte.

Sie hatten noch einige Tage Zeit, um an Bord des Schiffes zu gehen, und so verbrachten sie die drei letzten Tage in Europa im Badeort  Knocke sur Mer, an der belgischen Küste. Es war wie eine  zweite Hochzeitsreise, das Wetter sommerlich und angenehm. Viele glückliche Menschen verbrachten ihren Urlaub dort. Keiner dieser Menschen hätte damals ahnen können, dass kaum ein Jahr später der Krieg über Belgien kommen würde und das Land  von der deutschen Wehrmacht besetzt sein würde.

Am dritten Tag brachen meine Eltern auf nach Antwerpen. Sie besuchten noch kurz die schöne Altstadt und fragten sich dann nach der Anlegestelle der “Leipzig” durch, dann gingen sie an Bord.

–> Fortsetzung

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