Presseschau: Kann man Ägypten vertrauen?

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Ägypten hat keinen Nelson Mandela und keinen Vaclav Havel. In Europa moderierten runde Tische den Übergang in ein demokratisches Zeitalter. In Ägypten scheitert ein solches Konsensprojekt wahrscheinlich schon am Einvernehmen über den Ort eines Treffens. Die jahrelang kujonierten Oppositionsparteien sind ein chaotischer Haufen…

Stuttgarter Nachrichten: Blick fürs Machbare nicht verlieren

Wer da jammert, der Westen habe Mubarak zu lange unterstützt und bedenkenlosem Opportunismus gefrönt, wer in einer Krisenregion politische Moral höher einstuft als politische Stabilität, wirkt naiv – und tut später klüger als er vorher war. Wer Friede in Nahost und den Wechsel am Nil will, muss aus der Vergangenheit Lehren ziehen, ja. Aber er darf den Blick fürs Machbare nicht verlieren.

Neues Deutschland: zu Warnungen der FAO vor Hungeraufständen

In Ägypten werden die Lebensmittel knapp. Das ist im Augenblick primär der chaotischen Lage im Land geschuldet und nicht den steigenden Lebensmittelpreisen, die 2008 in Ägypten wie in vielen anderen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerika für Hungeraufstände sorgten. Vor einer neuen Welle im gerade begonnenen Jahr warnten nun die Welternährungsorganisation (FAO) und Frankreich gleichermaßen. Paris hat derzeit den Vorsitz der G20-Staaten inne und will der Spekulation auf den Rohstoffmärkten Grenzen setzen – dort werden bekanntlich auch die Grundstoffe für Nahrungsmittel gehandelt. Regulatorische Einigung ist derweil nicht einmal ansatzweise in Sicht. In Sicht sind derweil Hungerrevolten – der Maghreb ist nur ein Beispiel. Es sind nicht nur mangelnde politische Freiheiten, die die Menschen in Ägypten und Tunesien auf die Straße trieben und treiben, sondern mindestens ebenso sich verschlechternde Überlebensbedingungen für Unzählige, die von einem würdigen Leben nur träumen können. Und was für diese beiden Länder gilt, trifft für viele andere in aller Welt ebenso zu. Das Thema Hunger rückt nur auf die politische Tagesordnung, wenn medial sichtbare Hungerrevolten zeigen, dass von Armut in den Hunger abgleitende Menschen ein Sicherheitsproblem darstellen. Doch bisher halten EU und USA an ihrer Agrarexportdumpingpolitik ebenso fest wie an ihnen gewogenen Despoten. Mit unkalkulierbaren Folgen.

Der Tagesspiegel: Blick auf die Opposition in Ägypten

Es gibt praktisch keine Persönlichkeiten im Land, die in der Schicksalsstunde zwischen den alten Autokraten und der rebellischen Jugend vermitteln könnten. Der Großscheich von Al-Azhar gilt als Büttel des Regimes. Mohamed el Baradei war sein halbes Leben lang nicht vor Ort. Populäre Geschäftsleute ohne mafiose Verflechtungen fehlen. Ägypten hat keinen Nelson Mandela und keinen Vaclav Havel. In Europa moderierten runde Tische den Übergang in ein demokratisches Zeitalter. In Ägypten scheitert ein solches Konsensprojekt wahrscheinlich schon am Einvernehmen über den Ort eines Treffens. Die jahrelang kujonierten Oppositionsparteien sind ein chaotischer Haufen, den momentan nicht viel mehr zusammenschmiedet als der Ruf nach Mubaraks Rücktritt. Und die gut organisierte Muslimbruderschaft hält sich nach wie vor betont im Hintergrund, weil sie dieses Land mit seinen vertrackten Problemen nicht übernehmen kann und nicht übernehmen will.

Jerusalem Post: Vorsicht vor den Islamisten!

Das Weiße Haus fordert einen „unmittelbaren“ Übergang zu demokratischer Repräsentation in Ägypten. „Ein ordentlicher Übergang muss sinnvoll sein, er muss friedlich sein, und er muss jetzt beginnen“, erzählte US-Präsident Barack Obama dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak am Dienstag am Telefon. Und als ob die Botschaft des Präsidenten noch nicht deutlich genug war, fügte der Sprecher des Weißes Hauses Robert Gibbs noch hinzu: „Jetzt heißt gestern.“ Der Übergang zur Demokratie müsse nicht nur schnell sein, sondern auch eine „ganze Schar nicht-säkularer Akteure“ beinhalten, so Gibbs.
Und obwohl der Sprecher des Weißen Hauses nicht weiter ins Detail ging, schließt die US-Administration laut von der New York Times zitierter Quellen offensichtlich „ein Engagement mit der Muslimbruderschaft als Teil eines geregelten Prozesses“ nicht aus.
Dieser ‚Beeilt-euch-und-demokratisiert‘-Ansatz hat eine Anzahl von Schwachstellen; der offensichtlichste liegt womöglich im historischen Präzedenzfall. Falls der Hamas-Sieg bei den palästinensischen Wahlen von 2006 die Gefahr leichtfertigen Eilens in Richtung der erhofften demokratischen Repräsentation ohne den vorherigen behutsamen und systematischen Aufbau der notwendigen demokratischen Institutionen – einer freien Presse, einer Legislative mit einer vitalen Opposition mit realen Machtaussichten, einem ehrlichen Rechtssystem, das nicht religiösen oder ideologischen Vorurteilen gehorcht; und einem strikten, effektiven und fairen Gesetzesvollzug – dies nicht deutlich genug gemacht hat, gibt es noch das viel frischere Beispiel der Hisbollah im Libanon.
Im Irak sieht sich der Weg zur Demokratisierung – trotz all der Hilfe und militärischen Unterstützung von Seiten eines US-geführten Bündnisses – mitunter scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen in Form sektiererischer Tumulte gegenüber, die das Land in die Anarchie zu stürzen drohen.
Selbst die Türkei mit ihrer 80jährigen Geschichte einer Zivilgesellschaft mit starker Ausrichtung auf säkulare Werte, die vom Militär, von der Verfassung und einer langen Geschichte demokratischer Praxis gesichert wird, scheint unter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in eine dezidiert islamistische Richtung abzudriften.
Der radikale Islam ist der Zeitgeist der Region. Ägypten ist da keine Ausnahme.
In den letzten paar Jahrzehnten ist Ägypten immer mehr für Extremismus anfällig geworden. Unter Wahrung der letztgültigen politischen Autorität und eines Monopols auf die Sicherheitskräfte hat Mubarak, der sich der Stärke der Islamisten bewusst ist, ihnen mehr Freiheit bei der aggressiven Verfolgung ihrer radikalen Agenda zugestanden – in der Hoffnung, den Reformprozess lenken und die herrschende säkulare Elite schützen zu können.
Die Islamisten haben schrittweise die Kontrolle über Ägyptens große Berufsverbände übernommen, einschließlich des Anwaltssyndikats, das einst der liberalste und säkularste Berufsverband des Landes war. Vor Gericht wird zunehmend die Sharia zur Anwendung gebracht, um säkulare Intelektuelle, Schriftsteller, Professoren, Künstler und Journalisten wegen rein religiöser „Verbrechen“ wie Blasphemie und Apostasie zu verfolgen. Die Muslimbruderschaft hat auch das Lehrerausbildungsseminar übernommen, das Pädagogen hervorbringt, die radikal-islamische Ideen in den Klassenzimmern verbreiten. Dieser Prozess hat seinen Preis gefordert. Erst im letzten Monat wurden eine Kirche in Alexandria angegriffen und 23 koptische Christen massakriert.
Von öffentlicher Unterstützung getragen, ist es der Muslimbruderschaft gelungen, voranzukommen, obwohl sie von politischer Macht abgehalten wird. In den ägyptischen Parlamentswahlen von 2005 erhielt eine mit der Bruderschaft – der politische Aktivitäten offiziell verboten sind – verbundene „unabhängige“ Partei beinahe 20 Prozent der Stimmen, fünfmal mehr als bei den Wahlen im Jahr 2000; und sie hätte noch mehr bekommen, wenn die Regierung nicht unverhohlen interveniert hätte. Aggressiverer Wahlbetrug – von der Entfernung der Namen von Oppositionskandidaten bis zum Ausschluss ihrer Vertreter von Umfragen, von der Schließung von Wahllokalen für potentielle Wähler bis zur schlichten Vollstopfung von Wahlurnen – bei den Wahlen im November und Dezember 2010 hat die mit der Muslimbruderschaft verbundene Partei auf einen Sitz in dem 454 Abgeordnete umfassenden Parlament herunter gestutzt, was allerdings auch Zorn auf den Straßen hervorrief.
Und was denkt die Bruderschaft vom demokratischen Prozess? „Wir akzeptieren einstweilen das Konzept des Pluralismus“, bemerkte Mustafa Mashur, das frühere Oberhaupt der Bruderschaft, vor einigen Jahren. „Wenn wir jedoch eine islamische Herrschaft haben, könnten wir dieses Konzept ablehnen oder akzeptieren.“
Bei einer radikal-islamischen Bewegung, die offen ihre Absicht erklärt, einen Staat im Einklang mit der Sharia aufzubauen und jeden, der dieser Vision nicht anhängt, als Abtrünnigen betrachtet, geht unsere Wette dahin, dass die Zurückweisung des Liberalismus sehr viel wahrscheinlicher ist als dessen Akzeptanz. Wir hoffen, die US-Administration wird die Gefahren eines zu schnellen Übergangs zu den Fängen der Demokratie ohne die vorherige Schaffung der entsprechenden Grundlagen erkennen. Gaza, Libanon und Irak sind instruktive Lektionen zu den Gefahren fehlerhafter demokratischer Prozesse.
Niemand möchte, dass Ägyptens erste demokratische Wahlen seine letzten sein werden.
(The Jerusalem Post, 04.02.11, übers. für die israelische Botschaft, Berlin)

Das Erste: Tote in Kairo – endet die ägyptische Revolution im Chaos?

„Tote in Kairo – endet die ägyptische Revolution im Chaos?“ lautet das Thema bei ANNE WILL am Sonntag, 6. Februar 2011, um 21.45 Uhr im Ersten.
In Ägypten wagt das Volk den Widerstand – und die internationale Öffentlichkeit schaut gebannt zu. Nach zunächst relativ friedlichen Demonstrationen droht die Lage nun zu eskalieren. Endet der Volksaufstand im Chaos? Haben Europa und die USA zu lange geschwiegen und damit Mubarak gestützt? Und kippt die Stimmung in Ägypten jetzt gegen den Westen?

Hierzu werden am 6. Februar bei Anne Will u.a. zu Gast sein:
Egon Bahr, SPD-Außenpolitiker
Jürgen Chrobog, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt
Hamed Abdel-Samad, Politikwissenschaftler, demonstrierte in Kairo gegen Mubarak
Melody Sucharewicz, israelische Politikberaterin
Andrej Hermlin, Musiker, engagierte sich in Kenia für die Demokratiebewegung