Gedanken zum Gedenken: Ein Vater berichtet aus der Schule

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Diese Art von Veranstaltung, ist genau das, was mir immer mehr Bauchschmerzen bereitet: Strikte Identifikation mit den Opfern (der Leistungskurs Geschichte wird sicherlich sämtliche verfügbaren Details aus deren Lebensgeschichten gelernt haben), und zwar ungefragt…

Ersteres bedeutet, dass man als der Opfer Gedenkender sich auf die selbstredend richtige Seite stellt, moralisch unangreifbar. Deutsch und doch gut, voilà, geht doch. Und natürlich ist es richtig und wichtig, zu erinnern und den Ausgelöschten Namen und Gesicht zurückzugeben. Wem aber „gehören“ die Toten?

Woher das Recht unbeschränkten Zugriffs von „unserer“ Seite? Wer sieht und respektiert die Grenze zwischen Repersonalisierung und Fledderei? Wer darf da „den letzten Koffer“ durchwühlen auf der Suche nach den ultimativen Geheimnissen und Details?

Die Intention ist verständlich: je „näher“ ich jemandem komme, umso enger kann ich mich mit ihm identifizieren. Das Ganze aus „sicherer“ zeitlicher Distanz, die Toten können ja nicht widersprechen. Wer aber weiss denn, wie diese Menschen damals im Einzelfall gestorben sind, was ihre letzten Gedanken waren? Es waren ja quälend lange Jahre vom sukzessiven Herausgerissen werden aus ihrem „normalen“ Leben bis zu ihrer Ermordung.

Genug Zeit, sich innerlich zu dem Geschehen zu positionieren: vielleicht, ziemlich wahrscheinlich sogar, war bei vielen ein Hass auf alles Deutsche entstanden.
Richtig ist, dass die Mehrzahl der Juden, die die Verbrechen überlebt haben, im Laufe oder zum Ende ihres Lebens versucht haben, zu verzeihen.
Aber es gibt auch die anderen, die eben das nicht wollen oder können.

Und es gibt die Millionen, die das gar nicht erst konnten, weil sie eben ermordet worden sind. Und auf keinen Fall darf man im Nachhinein den Ermordeten eine imaginierte „versöhnliche Haltung“ unterschieben. Man darf dazu festhalten, dass es durchaus Fälle gibt, wo entsetzte Angehörige von Ermordeten auf der Entfernung von „Stolpersteinen“ bestanden / selbige veranlasst haben.

Und jetzt bemächtigt sich das „gute Deutschland“ der Toten, so ganz selbstverständlich. Im Eifer des Gefechts wird da der Besuch in Auschwitz zum totalen Event, und lässt den Europa-Park, was den Emotionsfaktor angeht, weit hinter sich. Bloß, wer sagt den Kinder: die Kette „erinnern – gedenken – erlösen“ stimmt nicht.

„Wir suchen als Menschen Versöhnung… …. und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ , so Richard von Weizäcker in seiner großen Rede 1985. Wer wollte da nicht zugreifen?

Nach „Wiedergutmachung =  zahlen und schweigen“ der Nachkriegszeit, dem an die Eltern gerichteten „Was hast Du da eigentlich getan?“ der 68-er gab es nun Aussicht auf Erlösung. Statt Bewältigung der Vergangenheit ging es jetzt an deren Aufarbeitung.

Bis heute heißen die Wegmarken Betroffenheit, Zeichen setzen, Mahnen, Brücken bauen und eben Gedenken. Nur: trotz obsessiven Gedenkens wollen sich Vergebung und damit Erlösung nicht einstellen.

Machen wir uns klar:

  • „erinnern und gedenken“ sind Grundpfeiler der jüdischen Religion
  • „Vergebung“ könnten ja nur die Ermordeten selbst gewähren
  • „Erlösung“ ist ein Begriff aus der christlichen Religion.

Dieser krude Gemischtwarenladen muss als metapysischer Unterbau für einen säkulären Vorgang, den Umgang mit den Ermordeten herhalten. Das Motto „Trauerarbeit macht frei“, unter dem das inszenierte rituelle Gedenken steht, ist falsch.
Auf den „27. Januar des vergangenen Jahres folgt der 27. Januar diesen Jahres, folgt der des kommenden Jahres… …

Die Sensibleren und Ehrlicheren werden als erste merken, dass sich im Grunde nichts geändert hat — und sich auch nicht ändern kann. Da wartet noch so manche Enttäuschung, auch wenn Deutschland inzwischen „Erinnerungsweltmeister“ und damit wieder mal „Klassenbester“ ist.

Man müsste genauso intensiv nach den Tätern fragen, immerhin hat das Ganze doch in Deutschland stattgefunden: war es A. H. persönlich, oder „die Nazis“, die damals Juden verschleppt haben, oder war das mit tätiger Hilfe der örtlichen Polizei, waren es ganz „normale“ Lokomotivführer, die den Zug aus dem Bahnhof gesteuert haben?

„Heftig“ ist ja auch der Anspruch auf manchem Veranstaltungsflyer: „… man will interessierten Bürgern die Gelegenheit zum Gedenken geben“…

Da steckt doch eine unglaubliche Überheblichkeit drin. Wenn es hiesse „zum Gedenken m i t  u n s“ oder „e i n e  Möglichkeit“…, aber so ist das die für die deutsche Erinnerungskultur typische „Sprecherfunktion“.

„Gedenken“ ist danach nur bei Befolgen des „rechten Weges“ möglich — und der wird selbstredend von den „Sprechern“ gleich mitgeliefert.

Wo liegt der Fehler?

Einmal in der „Selbstverständlichkeit“ der guten deutschen Gedenkkultur.
(Selbst-) Reflektion, Hinterfragen behaupteter (zwar „schmerzlicher“, im Grunde aber bequemer, weil „versöhnlicher“ und „erlösender“) Wahrheiten kann da kaum stattfinden, und damit ist das Ritual auch nicht veränderbar.

Dass das Ganze von einer Menge Leute, die damit eben nicht a priori auf der Seite der Kaltherzigen und Schlußstrichzieher stehen, als dumpf und stumpf empfunden wird, das dürfen die nur unter strikt vorgehaltener Hand äußern. Und wenn man sagt, dass dem so ist, sollte man die Hand ebenfalls dicht vor den Mund halten.
Und wo wir schon mal so etwas Tolles wie unsere deutsche Gedenkkultur haben, soll auch die junge Generation darauf verpflichtet werden.

Wer aber hat das Recht dazu?
Warum haben wir so wenig Vertrauen in unsere Kinder, dass wir ihnen nicht zutrauen, ihre eigene Position und ihren eigenen Weg zu finden? Hat nicht jede Generation das Recht auf ihr eigenes Ritual? Möchten wir denn die Rituale unsrer Vor-Generationen pflegen müssen?
Und würde im „schlimmsten“ Falle „Nicht-Erinnern“, was unsere Generation so argwöhnisch bei jeder Andeutung „dissidenten Verhaltens“ oder ungenügender Ergriffenheit als Gefahr wittert, wirklich das endgültige Vergessen bedeuten?

Dann dürfte der Mord an den Armeniern in der Türkei kein Thema sein — das darf er offiziell auch nicht. Dafür ist er unter der Oberfläche umso präsenter, verdrängt, aber eben nicht „vergessen“.
Natürlich keine wünschenswerte Alternative zur „Vergangenheitsaufarbeitung“ hierzulande, nur als Beleg: wenn die Kette der jetzt institutionalisierten „Erinnerung“ hier tatsächlich reißen sollte, würde das nicht automatisch in die „Katastrophe des Vergessens“ führen.

Vor allem aber unterbindet die unbedingte Identifikation mit den Ermordeten anscheinend sehr effektiv die Auseinandersetzung mit den Ursachen für das Morden.
So ist „hohe Moral“ sicher gut für`s Gedenken, aber genauso sicher ist sie schlecht für Gedanken.

Der Antisemitismus als konstituierendes Element europäischer Identität – und eben nicht die gerade in diesen Tagen so vielstrapazierte „christlich-jüdische Kultur- und Wertegemeinschaft“. Daran hat sich bis heute so viel nicht geändert. Er ist nur „moderner“ geworden, trägt nicht mehr zwingend Uniform oder Springerstiefel, manchmal kommt er sogar als „Friedensappell“ daher, auch selektives „Menschenrechtsbewusstsein“ steht ihm gut.

Und so kommen wir mit den toten Juden schon ganz gut klar, haben aber trotzdem ein großes Problem: das mit den lebenden Juden.
Am Beispiel Israel kann man ja wunderbar sehen, wie furchtbar die sich aufführen und welch schreckliche Probleme die „der Welt“ bereiten können… „Die“ haben nichts aus der Geschichte gelernt – – „wir“ schon.

Etwas besser geht`s mit den hier lebenden Juden, die brauchen wir ja : zur „Abnahme“ unseres aufrichtigen Gedenkens, zur Entgegennahme unsrer tiefen Reue. Nach der Gedenkveranstaltung brauchen wir sie auch: als Adressaten unserer Empörung, wie sich ihre „Sippe“ in Israel eigentlich aufführt, und dass sie uns das doch bitteschön mal erklären wollen.

cl

10 Kommentare

  1. @Jane

    „…Zunächst einmal ist es natürlich, insofern man ein ethisch-empfindsamer Mensch ist, völlig normal mit Betroffenheit zu reagieren, wenn man von grausamen Verbrechen hört..“
     
    ————————-

    Sicherlich beim allerersten Mal…vielleicht auch noch beim fünften or zehnten Mal.
    Aber in Deutschland gibt es das Problem vom „overload“ von Holocaust-Unterricht/Gedenken/Erinnern.

    Jedes deutsche Kind empfindet am Anfang, wenn es zum ersten Mal mit den Nazi-Verbrechen konfrontiert ist natürlich Schock, Horror…fühlt sich betroffen, fühlt mit den Opfern.

    Aber Fakt ist auch das diese ernstgemeinte, ehrliche Betroffenheit im Laufe der Jahre Langeweile, Zynismus, Desinteresse und im schlimmsten Fall Ablehnung weicht. Und dafür mache ich die ritualisierte, unaufhörliche Gedenk-Industrie verantwortlich.

    Irgendwann sind halt Bilder/Filme von ausgemergelten Leichenbergen in KZ-Drillich einfach nicht mehr berührend wenn einer Sie regelmäßig sieht und das Jahr für Jahr für Jahr für Jahr.

    Ich kann mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch in einem KZ erinnern und wie unsere Klasse gebannt einer Ãœberlebenden zugehört hat und einige geweint haben…

    Ein paar Jahre später wurde beim selben Thema gekichert, sich unterhalten und offen gegähnt.

    Irgend etwas läuft mit unserem Gedenken gewaltig schief. Vielleicht wäre hier weniger wirklich mehr?

  2. @   Ist das wichtig, ob der Autor nun Jude ist oder nicht? Würde das an den dargelegten Gedanken bzw. an der Position dazu irgendetwas ändern?
     
     
    @   Lisa:   Danke. Genau das ist der Punkt.
    Auf „Auschwitz“ gibt es keine abschliessende Antwort. Wir, und viele nach uns, werden sich die immergleiche Frage „Wie war das möglich?“ trotzdem immer wieder stellen.
    Ehrlich wäre es, das auszuhalten, und nicht eine „Erlösung durch Versöhnung“ in Aussicht zu stellen.
     
     
    @  Um was es dem Autor eigentlich geht?
    Er möchte darauf hinweisen, dass es der hierzulande gepflegten Gedenkkultur in erster Linie darum geht, qua „Versöhnung“ den „kleinen Schlussstrich“ zu ziehen, also zur „Erlösung“ von der Geschichte zu kommen.
    Der ungefragte, undistanzierte, oft respektlose Zugriff auf die „armen Opfer“ als Objekt der Identifizierung führt letztlich dazu, dass die Täter in dem ganzen Diskurs gar nicht mehr vorkommen und   –  verschwinden.
     
     
    @  Antisemitismus.
     
    Wirklich kein Thema mehr?
    Ganz so doof sind „die“ Deutschen nicht, dass sie lauthals mit antijüdischen Parolen durch die Strassen rennen. Man hat immerhin gelernt, dass Antisemitismus „böse“ ist. Und so verhält man sich „den“ Juden hierzulande gegenüber vorsichtig (die ganz mutigen, die Möllemänner, die trauen sich manchmal trotzdem was….)
    Aber es gibt ja noch Israel: da ist er doch, „der“ Jude.
    Die Frage ist dabei nicht, „ob“ Kritik an Israel statthaft ist  –  natürlich ist sie das, sie ist sogar nötig  –  das „wie“ ist entscheidend.
    Wenn es bei solcher Kritik nicht darum geht, wie Israel sich verhält, sondern dass es Israel überhaupt gibt, dann ist genau das Antisemitismus. (auf Reisen, oder „im Exil“ sozusagen)
     
    Kurz was aus der Geschichte:
     
    „Wir stehen unter anderen Gesetzen der Beurteilung als andere Völker; ob wir nun wollen oder nicht  -  was wir Juden tun, vollzieht sich auf einer Bühne  -  unser Los hat sie gezimmert. Art und Unart anderer Völker wird selbstverständlich hingenommen. Aber alle Welt darf auf Publikumssitzen lümmeln und die Juden anstarren. Blick, Stimme, Haltung, die Farbe der Haare, die Masse des Körpers  -  alles soll gehässigen Richtern Rede stehen  -  und wehe, wenn wir nicht als Halbgötter über die Szene schreiten“.
    Soweit Beer-Hofmann 1913 zum Antisemitismus.
    Man ersetze „Juden“ durch „Israel“  –  voilà.
     
    Beispiele von heute:
     
    –  natürlich gibt es (leider) auch in Israel Rassismus.
    Trotzdem ist Israel das auf weiter nahöstlicher Flur einzige Land, wo Minderheiten, die „gefühlt“ nicht dazugehören, sich öffentlich äussern können und eine parlamentarische Vertretung haben.
    Wenn in diesem Zusammenhang zu Boykott und Sanktionen gegen den „Apartheidstaat“ israel aufgerufen wird, dann geht es dabei um den Versuch, Israel in die gleiche Ecke zu stellen wie das damalige Südafrika ; da geht es eben nicht um Menschenrechte, sondern sie sind das billige Vehikel bei dem Versuch, israel an sich zu de-legitimieren.
     
    –  wenn „Vereine“ wie Hamas, denen es erklärtermassen um die Auslöschung Israels und (auf dem Weg dahin) um das killen möglichst vieler Juden geht, als „Partner für den Frieden“ hofiert werden  –  so letztes Jahr eine Einladung zu einer Tagung nach Bad Boll durch  „christliche Friedensfreunde“:
    geht`s da um Frieden, oder soll da eine erklärte Mörderbande mit dem jüdischen Staat auf die gleiche Ebene gehievt,  Hamas also legitimiert, israel de-legitimiert werden?
     
    –  wenn sich „Menschenrechtler“ mit Dschihadisten ins im wahrsten Sinne des Wortes gemeinsame Boot setzen, dann ist es nach dem tragischen Ende dieses Unternehmens
    die Reaktion des deutschen Bundestages (als weltweit einzigem Parlament…..) in einer fraktionsübergreifenden Entschliessung Israel aufzufordern, die Blockade von Gaza zu beenden. Ohne Frage nach dem „Warum“ der Blockade.
    Da ist sich dann das ganze Deutschland wieder einig.
    Wie kommt`s denn zu einem dermassen ausgeprägten fürsorglichen „Verantwortungsgefühl“ dem „dummen“ Israel gegenüber?
     
     
    @   Schon längst hat die Mehrzahl derer, die sich mit der Shoa beschäftigen, von ihrem Geburtsdatum her „nichts damit zu tun“ (wie auch ich).
    Das an die, die auf die „biologische Lösung“ für „Auschwitz“ hoffen.
    Zu dieser Hoffnung sagte mal ein jüdischer Religionswissenschaftler:
    der Zerstörung des Tempels (70 n. C.) habe man wie alle Jahre gerade letztens wieder gedacht.
    Es sei „gefühlt“ ungefähr so gewesen, als liege das Ereignis ein paar Monate zurück….

  3. Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Meine Mutter war „Halbjüdin“; ich habe drei Großonkels in Buchenwald und Auschwitz verloren. Dies war lange Zeit ein Tabuthema in meiner Familie. Heute hat sich glücklicherweise der Kreis wieder geschlossen (ich habe eine israelische Schwiegertochter). Der Shoa-Gedenktag soll ein Mahntag sein. Er muss unser Volk nicht beschämen, sondern es erinnern an das Gewesene. Und der Tag soll uns Deutsche bestärken, das Rassismus und Intoleranz nicht wieder auftreten. Und damit genug.

  4. Nach noch maligem Lesen vermute ich in meiner eigenen Konzeption einen Fehler, aus dem zum Schluss folgenden Rundumschlag gegen linke Israelkritik folgerte ich, etwas voreilig, dass der Autor wahrscheinlich Jude ist; da hatte ich den Beginn des Artikels nicht mehr im Auge, der eher darauf schließen lässt, dass er kein Jude ist.
     
    Die Fragen, die das in diesem Zusammenhang aufwirft finde ich interessant.
     
    Der Autor sagt, die jungen Menschen sollten doch ihre eigenen Rituale finden und nicht ohne Ende, die der Vorgeneration wiederkäuen. Na ja, das mag zum Teil auch richtig sein.
     
    Er meint auch, dass das Identifizieren mit den Opfern das Nachdenken verhindern würde.
     
    Interessant ist, dass ich den Eindruck mitunter auch habe, aber zu ganz gegenteiligen Schlüssen komme. Sicher ‚verhindert‘ die Identifikation das Denken nicht, aber sie ersetzt es halt auch nicht.
     
    Zunächst einmal ist es natürlich, insofern man ein ethisch-empfindsamer Mensch ist, völlig normal mit Betroffenheit zu reagieren, wenn man von grausamen Verbrechen hört. Die Betroffenheit setzt immer die Identifikation mit dem Opfer voraus und das geschieht, ob die Opfer Juden oder Nicht-Juden sind, bei Menschen, die nicht rassistisch gepolt sind, ist das nur natürlich – und es ist auch nichts verwerfliches daran, im Gegenteil.
     
    Auch in diesem Artikel gibt es sie wieder die Koppelung – Antisemitismus = Israelkritik – und wenn der Autor sich wünscht, dass die alten Rituale langsam eingemottet werden sollten, zu Gunsten einer unbedingten Loyalität zur israelischen Politik, denn nach seinen Worten muss man schließen, dass er dies das als ‚korrekte‘ prosemitische Haltung in modernen Zeiten erachtet, dann habe ich schwer den Eindruck, dass sich der Autor halt auf die gesellschaftlich opportune Seite geschlagen hat und möglicherweise die Empathie in Wirklichkeit weder für die Opfer des Holocaust, noch für die Palästinenser heute aufzubringen vermag. Es scheint mir, dass er auf dem Rücken der Opfer des Holocaust, die Zwiespältigkeit in den deutsch-israelischen Verhältnissen, auf grund dieser permanent schwelenden Wunde, den besetzten Gebieten, auf recht bequeme Art und Weise ‚entsorgt‘.
    Ich glaube schon, wenn man zu einer fundierten Analyse kommen möchte, dann versucht man sich zwangsläufig erst mal in die Lage der Opfer zu versetzen und dann versucht man den Ursachen nachzugehen, was die verschiedenen Komponenten sind, individuell, kulturell, politisch etc. die einen solch gründlichen Völkermord ermöglicht haben.
     
    Er beklagt, dass die Identifikation möglicherweise das Nachdenken über die Ursachen verhindert. Es stimmt, dass Empathie und die Identifikation, die miteinander Hand in Hand gehen, nicht zwangsläufig zu einer guten Analyse über die Ursachen des Holocaust führen muss – aber wenn sie nicht der eigentliche Zündunken zu einer gründlichen Analyse ist – dann scheint mir in einer solchen Haltung doch ein wesentliches Merkmal zu fehlen.
     
    Mir scheint, dass der Autor die unbedingte Loyalität zu Israel als Ausweg aus dem moralischen Dilemma erachtet und damit hat er für mein Erachten die wesentlichen Ursachen für das Erstarken des Dritten Reiches eben selbst nicht wirklich analysiert.
     
    Wenn man es dabei belässt – Deutsche mögen Juden  nicht – und das folgert man jetzt – Deutsche unterstützen Juden, was auch immer sie tun und wenn Deutsche das nicht tun, dann hätten sie aus der Geschichte nichts gelernt – dann hat das meines Erachtens eben mit Aufarbeiten und Analyse rein gar nichts zu tun. Im Gegenteil, so hat man es sich sehr einfach gemacht. Man steht einfach immer loyal zu Israel und damit ist bewiesen, dass man zu ‚den Guten‘ gehört. Es scheint mir, dass der Autor selbst in einer Identifikation mit den Juden heute steckt und nicht mit den Opfern – und sich dieser Haltung gar nicht bewusst ist, daraus resultiert auch mein erstes Missverständnis. Mir scheint dies aber ein völlig verfehlter Weg, wenn er die Analyse für die Ursachen des Holocaust ‚ersetzen soll‘.
     
    Es sind sehr viele Dinge, die man anführen kann, um das Entstehen des Dritten Reiches zu erklären, aber das zentralste Moment daran ist doch die Erkaltung der Empathie für den Nächsten, ganz gleich welcher Nationalität oder Religion er oder sie angehört. Ich glaube auch neben der Grausamkeit der eigentlichen Nazi-Aktivisten gehört auch zum Teil die Trägheit der Gedanken, die Trägheit des Empfindens und viele relativ banale Alltagsattitüden, die sich verheerend auswirkung, wenn eine solch skrupellose Clique mit Macht ein Land übernimmt.
     
    Mitgefühl – echtes Mitgefühl – jenseits einer politischen Agenda, jenseits von rechts und links, ganz einfach so, weil wir Menschen sind – die Fähigkeit dazu hat ursprünglich sicher jeder Mensch, aber bei manchen trägt sie mehr und bei anderen halt weniger.

  5. Stellt sich nur die Frage, was der Autor eigentlich will?
     
    Er/Sie schreibt vergeben können nur die Toten, woraus er unausgesprochen zu folgern scheint ‚daher müssen wir die Feindschaft aufrechterhalten‘.
     
    Zu einem so gigantischen Verbrechen wie dem Holocaust eine Haltung zu finden die ‚richtig‘ ist, ist vielleicht ein Anspruch der niemand erfüllen kann, weder Juden noch Deutschen, schon gar nicht wo das Ereignis für viele ein Gespenst ist, nämlich das Gedenken an etwas das vorbei ist. Es ist eben vorbei und Deutschland heute ist eben nicht Nazi-Deutschland, man hat fast den Eindruck, dass man den Autoren daran erinnern muss. Ich glaube die Opfer der Nazis würden sich über eine solche Haltung auch sehr wundern.
     
    Aber warum soll man den Ur-Enkeln eventuell. potentieller Täter (es waren ja auch nicht alle Täter) mit Feindseligkeit begegnen?
     
    Was können sie denn dafür? Gar nichts. Auch schon die Kinder der Täter konnten nichts dafür. Welcher ‚Biologismus‘ ist denn da am Werk? Und wenn sich junge Menschen in Auseinandersetzung mit der mehr als unrühmlichen Vergangenheit Deutschlands (und dass sie sich im Rahmen des Schulunterrichts mindestens einmal damit auseinandersetzen ist ja wohl nur zu begrüßen), mit all dem Leid, mit all der Grausamkeit, welche unter dem Hitler-Regime stattfand auseinandersetzen und Stellung beziehen und sich dieses Szenario betreffend auf die Seite der Opfer stellen, was sollte falsch daran sein? Das ist die einzig richtige Wahl für jeden Menschen, der kein Verbrecher sein will und ich denke, dass es jedem freigestellt sein muss, kein Verbrecher SEIN ZU WOLLEN. Wäre es dem Autoren anders lieber? Ich muss auch mal eine Lanze für die Jugend brechen – diejenigen die das freiwillig machen SIND ganz einfach betroffen, nicht anders  als man betroffen ist, wenn man von anderen grausamen Verbrechen hört. Dass freilich, wie oben beschriebene durch Lehrer inszenierte Gedenkrituale etwas unbeholfen unzulängliches haben, das ist wohl wahr. Man kann sich da freilich genauso kritisch die Ausschwitzfahrten der israelischen Jugendlichen anschauen, wie z.Bsp. Iris hefets es machte, die ihrerseits Rollenspiele machen und ‚Opfer spielen‘ um das patriotische Gefühl in ihren Schülern anzufachen, oder vielleicht nur Empathie, so wie vielleicht auch die Deutschen? Man kann es so oder so sehen.
     
    Der Autor meint vielleicht etwas zynisch es ist einfach, weil man zu so einer Gedenkveranstaltung hingeht Betroffenheit zeigt und dafür Vergebung erwartet. Das wäre richtig, würde es sich um die Täter handeln. Und in diesem Zusammenhang sagt er – Vergeben können nur die Toten – und dazu sage ich – Ja und zwar den Tätern – und nicht etwa Menschen, die sich daran in keiner Weise beteiligt haben und sei es durch die ‚Gande der späten Geburt‘. Und die Enkel der potentiellen Opfer (auch nicht jeder Jude hat Angehörige, die in KZs starben, wenn auch viele) haben auch keine Grund in deren Namen zu hassen, schon gar nicht jene, die gar keine Täter sind oder waren.
     
    Deutsche, die selber nichts zum Holocaust beigetragen haben und nicht in der Lage waren, irgend etwas gegen ihn auszurichten, brauchen auch keine Vergebung. Dazu gehören zweifellos alle Deutschen, die zu jung sind, um irgendwie beteiligt gewesen zu sein. Aber es gab sie genauso zu Zeiten des Dritten Reichs und damit meine ich nicht nur die selbstlosen Helden, die Juden Unterschlupf boten, sondern auch all jene, die das Regime nicht mochten aber einfach den Kopf einzogen und versuchten sich möglichst nicht zu beteiligen und die gab es genauso, aber es gibt darüber keine empirische Untersuchung und das wäre vermutlich auch sehr schwer zu bewerkstelligen. Was würden die meisten von uns denn machen, in Anbetracht der brutalen Diktatur, die das Hitler-Regime auch jenen gegenüber war, die auch nur den Hauch eines Zweifels öffentlich äußerten? Hierzu etablierte das Nazi-Regime ein engmaschiges Ãœberwachungsnetz, dass jeden ins Visier nahm, der auch nur den Anschein gab, nicht von Hitler überzeugt zu sein. Ins KZ kamen auch Deutsche, die nur die falsche Musik hörten. Hitlers erste Aktion war es auch 60.000 politische Gegner umzubringen, also jene, die eben politisch engagiert und anderer Gesinnung waren, von denen man also Widerstand hätte erwarten können. Da ging der Diktator vorausschauend, ‚vorsichtig‘ und gründlich vor.
     
    Mich überkommt in Anbetracht all dieser Gedenkveranstaltungen freilich auch immer wieder ein schales Gefühl. Auf staatlicher Ebene – am Holocaustgedenktag – das finde ich schon in Ordnung – das ist der Größendimension des Ereignisses wohl angemessen. Dass private Aufarbeitung nicht in dem Maß stattgefunden hat, wie man es wünschen könnte – ja davon ist freilich auszugehen. Dass das auch immer noch Fragen aufwirft, ja das sehe ich auch so.
     
    Anders als der Autor habe ich aber den Eindruck, dass sich da auch vieles einfach überlebt hat.
     
    Mir scheinen in diesem Zusammenhang freilich auch von Bedeutung zu sein, dass man sich veranschaulicht, dass die Vorstellung von ‚Der Deutsche, Der Antisemit, der Feind‘ genauso ein künstliches, vereinfachendes und letztendlich unrealistisches Konstrukt ist, wie die Vorstellung ‚Der Jude, der Blutsauger der Nationen‘ – das ist alles Bullshit, nicht nur das letztere, das erste auch.
     
    Dass der Antisemitismus heute ein so gewichtiges Element europäischer Identität sei, na ja – der Holocaust war ein großes, trauriges historisches Ereignis, in dessen Fahrtwasser dann einige Dinge gut gemacht wurden, die Implementierung des Völkerrechts, die Deklaration der Menschenrechte, die Stärkung der Demokratie etc. – das bedeutet aber eben nicht, dass ‚der Antisemitismus‘ heute ein gewichtiges Element europäischer Identität ist – für die meisten spielt er schlicht weg gar keine Rolle, weder im positiven, noch im negativen – ich glaube dass der Autor da einiges überschätzt. Ich habe aber den Einruck, dass der Antisemitismus ein konstituierendes Element jüdischer Identität ist, zumindest des europäischen Judentums.
     
    Das kommt nicht zuletzt daher, dass auch er aus seinem Artikel schließlich und endlich einen ‚kruden Gemischtwarenladen‘ macht – in denen dann alles landet, was den Autoren offensichtlich nervt, neben Neo-Nazis, werden linke Humanisten, die Israel kritisieren und nervige Gedenkveranstaltungen, gleich mit entsorgt – alles in einen  Topf und die Welt ist wieder in Ordnung – der Autor hat aufgeräumt und die Fronten wären geklärt. Wie schön dass jetzt alles ’seine Ordnung‘ hat.
     
    Wenn der Autor sich ärgert, dass Deutsche Juden als Adressaten ihrer Empörung für das ‚was die Sippe‘ in Israel macht herhalten müssen, dann wäre das sicherlich ein Ärgerniss und nicht in Ordnung – wenn sich allerdings Juden grundsätzlich und zwangsläufig aufgerufen sehen alles gut zu heißen, was ‚ihre Sippe‘, bzw. Israel, immer wieder ausdrücklich ‚in ihrem Namen‘ so macht, also ständig totale Loyalität zu zeigen und jeden zu verunglimpfen, der es sich erlaubt sich dazu kritisch zu äußern, dann sind sie natürlich die Adressaten von Kritik, schließlich machen sich nicht wenige zum Bannerhalter dieser Politik und das wirft dann für jeden ernsthaften Menschen, der für sich in Anspruch nimmt, das humanistische Ideal der Gleichwertigkeit aller Menschen nicht zu verraten, in eine unauflösbare und prekäre Situation, die nur deshalb so ist, weil sich hier auch einige flasche Elemente eingeschlichen haben.
     
    In dem Zusammehang ist es nicht vermessen zu sagen, dass sich mitunter jeder Mensch kritisch mit der Politik auch seines Landes auseinandersetzen sollte oder kann, bzw. dass dies ein tragendes Element der Demokratie ist und selbstverständlich kann sich jeder auch kritisch zu der Politik anderer Länder außern, das ist völlig normal.
     
    Ich habe den Eindruck, dass sich manche Juden selbst in Sippenhaft sehen, allerdings weniger durch die nicht-jüdische Umwelt (ja das ist auch nicht unbedingt einfach, aber oft mehr gefühlt als real erlebt), sondern durch den Wunsch nach Gemeinschaft, nach Konsens und realem Druck, nämlich Ausschluss aus der Gemeinschaft, der offensichtlich umgehend erfolgt, wenn man ‚die falsche Gesinnung‘ zeigt – z.Bsp. Empathie mit dem Leid der Palästinenser.
     
    Als Rolf Verleger es tatsächlich wagte vorsichtig Bedenken an der israelischen Kriegsführung in Israel zu äußern,  da war das sein Ende im Vorstand des ZentralRats der Juden – und das dürfte auch jedem Juden eine Warnung sein, blos keine Zweifel aufkommen zu lassen und blind immer weiter alles und jedes zu verteidigen, was Israel so tut. Ich denke, dass sich die jüdische Gemeinschaft da schon lange in eine Sackgasse bewegt und das ist jetzt einmal nicht unbedingt der Umwelt anzukreiden.
     
    Diese meine Kritik richtet sich aber nur an jene, die eben laut und immer wieder, ihre total loyale Israel-Gesinnung so äußern, womit sie meinen, dass grundsätzlich alles zu verteidigen ist, was israelische Politik so treibt. Das können sie auch gerne tun und genauso haben andere, ob nun jüdisch oder nicht, dann genauso das Recht sich dazu zu äußern und natürlich auch kritisch. Es ist ein ständig wiederholtes un unlauteres Argument, dessen sich dann die Israel-Patrioten selbst bedienen, solche Kritik wäre ein untrügliches Zeichen von Antisemitismus, schließlich würden die Kritiker ‚die Juden‘ verunglimpfen – das ist stets wiederholt, deshalb trotzdem noch lange nicht wahr. In diesem Augenblick nehmen diese Zeloten dann alle Juden selbst in Sippenhaft und soll auch schon welche gegeben haben, die um Austragung der Gedenktafeln ihrer Vorfahren in Yad Vashem baten aus diesem Grund.
    Wenn wir China, Russland, USA oder Deutschland oder die EU kritisieren, dann meinen wir damit ja auch nicht jeden einzelnen Bürger und in Puncto Israel ist das eben auch nicht anders.
     
    Die andere Schlussfolgerung wäre ja, dass man in Sachen Israel bitte die Klappe zu halten hat und das liegt auch ständig als leise und manchmal auftrumpfende Drohung in der Luft – tatsächlich tun das wahrscheinlich auch viele, zuviele und zu lange.
     
    Richtig ist das deslhalb nicht.
     
    Aber gut ist (oder sollte ich sagen wie ärgerlich?) – hier darf sich JEDER äußern, aber bequem ist es nicht unbedingt, ja es ist schon mehr als verzwickt, ein richtiges Dilemma.

  6. „Zu jung dazu?“
    Ich weiss nicht recht….
     
    Bei uns letztens Schülerreise nach Auschwitz.
    Ich hätte ein solches Unternehmen, ohne gross darüber nachzudenken, bis vor kurzem vorbehaltlos begrüsst.
    Warum ich es zwischenzeitlich ganz anders beurteile, mag anhand der Notiz auf einer der Wandtafeln in der nachbereitenden Ausstellung deutlich werden.
    Unter  „Gedenkfeier und Abschied von Birkenau“ steht da :
     
    „WIr hatten alle eine Blume und eine weisse Papierrolle erhalten, auf der wir unsere Gedanken und Gefühle schreiben konnten.
    Später sah man überall im Lager die Rollen und Blumen als versöhnlichen Abschied.“
    (Hervorhebung durch mich)
     
    Deutlicher kann man die dem Spektakel unterliegende Intention nicht formulieren.
    Auf die Zweifelhaftigkeit eines solchen Versöhnungskitsches braucht man nicht hinzuweisen, von wegen wer versöhnt sich da eigentlich mit wem……
    Darüberhinaus ist es aber auch eine Dreistigkeit, die Reste einer Mordindustrieanlage und die Ascheberge der verbrannten Körper der dort Vernichteten als Kulisse für solche Versöhnungsevents zu nehmen.
     
    Wenn wir kurz in die 80er zurückdenken:
    da war es die sicher weise Entscheidung des damaligen Papstes (er war sogar Pole, hätte bei „seinen“ Leuten wunderbar punkten können mit einer gegenteiligen Entscheidung), dass ein Karmeliterinnenkloster neben/ in Auschwitz schlicht nicht geht, bei allen besten Absichten im Sinne von praktischer Sühnearbeit.
    Für „Versöhnungsarbeit“ (hier zwar im nicht-konfessionellen Rahmen, aber nicht weniger metaphysich aufgeladen) der praktischen deutschen Gedenkkultur geht es anscheinend.
    Der Einwand, auf diese Art und Weise würden Jugendliche heute sich wenigstens mit „der Sache“ auseinandersetzen, hilft da m. E. nicht weiter:
    wenn die (zugrundeliegende) Richtung nicht stimmt, haben für mich die Mühen des Weges keinen besonderen Wert.

    • @ rully
      Das sehe ich auch so. Harmonie herstellen zu wollen, wo es keine geben kann, ist eine eigene Form von Brutalität.
      Auf welche Veranlassung hin wird der Besuch einer Schülergruppe so beendet? Ist das Wunsch der Lehrer oder wird das so gehandhabt, um deutsche Schüler nicht mit einem schlechten, zwiespältigen – oder wie man es nennen mag – Gefühl stehen bzw. gehen zu lassen?
      Eigentlich ist dieses Gefühl doch eher der Anstoß, sich Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Sei es sofort, später oder immer wieder.

  7. Also ich kenne keinen der sich mit den Ermordeten identifiziert… nicht mal an so einem Gedenktag… hmmm…, warum auch?

    Und eine Versöhnung/Vergebung/Schuldig fühlen steht auch außer Frage…, die Generation die das betrifft ist am Aussterben. Ãœberhaupt geht diese „Gedenk“-Industrie den meisten (eigentlich) allen die ich kenne am Arsch vorbei. Sind wohl zu jung dazu…

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